Читать книгу Clockwork - Tom Dekker - Страница 20
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„Greg?“, rief eine erstaunte Männerstimme aus. „Woher wusstest du, dass wir kommen werden?“
Greg richtete sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung auf und schaute sich verdutzt um. Die Nacht in der Werkstatt des verrückten alten Uhrmachers war wie im Fluge vergangen. Müde und verspannt war er am Morgen durch die Ladentür geschritten und für einige Zeit ziellos umhergestreift. Arthur Tudor hatte recht, das wusste Greg. Er musste sich entscheiden, und egal, welche Entscheidung er traf, jede Option zog Konsequenzen nach sich, die unangenehm werden konnten. Wie gern hätte er mit jemandem darüber geredet, einen Ratschlag gehört oder sich auch nur einfach all seine Sorgen und Befürchtungen von der Seele geredet. Aber wo sollte er hingehen? Josh würde ihn wieder nur anschreien, Philt und Frog standen auf seiner Seite und Peanut und Suri hätten sicher kein Verständnis dafür, wenn er die Gemeinschaft nach allem, was sie für ihn getan hatten, hintergehen und mit den Weißen Löwen zusammenarbeiten würde. Zu seinen Freunden wollte Greg im Augenblick nicht zurückkehren und da er keinen anderen Platz hatte, an dem er unterkriechen konnte, war er rastlos durch die halbe Stadt gelaufen, bis ihn seine Beine wie von selbst zum Bahnhof getragen und dort auf einer Bank abgeladen hatten.
Hier saß er nun schon seit Stunden in der nicht mehr sommerlich heißen, aber immer noch angenehm wärmenden Sonne und hing seinen düsteren Gedanken nach. Irgendwann musste er dann eingedöst sein. Erst der Ruf seines Namens hatte ihn aufschrecken lassen.
Suchend schaute Greg sich um. Um ihn herum hasteten Menschen in Richtung der Bahnhofshalle und von dort fort. Aus dem Hin und Her der Menschen hätte ein unbeteiligter Beobachter durchaus die Gesetzmäßigkeit ableiten können, dass für jeden, der den Bahnhof verlassen wollte, ein anderer das Gebäude betreten musste. Andernfalls würde das gesamte Konstrukt in sich zusammenfallen. Greg musste über diese Vorstellung schmunzeln, da sah er plötzlich Mavs strahlendes Gesicht aus der Menschenmasse, die vom Bahnsteig her in Richtung Stadt unterwegs war, aufleuchten. Sogleich sprang er auf und rannte dem Freund entgegen. Auch Mav beschleunigte seine Schritte.
Kurz bevor die beiden zusammenstoßen konnten, bremsten sie scharf ab und blickten sich einen Moment lang verlegen in die Augen. Dann klopfte Greg Mav linkisch auf die Schulter und Mav packte Gregs Rechte und schüttelte sie ausgiebig mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. „Du siehst großartig aus.“, sagte er mit dieser eigenartig veränderten Stimme, mit der er Greg zuvor bereits gerufen hatte. Nicht, dass sie nicht mehr als Mavs Stimme erkennbar gewesen wäre, aber doch kam sie Greg fremd vor, eine Spur tiefer und rauer, verwegener vielleicht.
Etwas ungelenk standen die beiden Jungen voreinander und blickten sich gegenseitig prüfend an. Mav erweckte in seiner Lederkleidung, den Schnürstiefeln und der Fliegerhaube den Eindruck, als könne er es kaum erwarten, zu neuen Abenteuern aufzubrechen. Greg hingegen trug zwar noch die Lederhose und die festen Stiefel, doch hatte er sich gestern in der Eile die alte Wolljacke übergezogen und trug eine Schiebermütze, ein Kleinod der Fabrikarbeiter in den Cities.
Mav wollte gerade einen spitzen Kommentar abgeben, als wie aus dem Nichts ein Mädchen auf Greg zugeschossen kam und ihm um den Hals fiel. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn mit sich zu Boden gerissen, doch Greg konnte gerade noch das Gleichgewicht wiedererlangen und sie beide vor einem Sturz bewahren. Er wirbelte sie zweimal um seine eigene Achse, so dass das feuerrote Kleid, über dem sie eine alte Lederjacke trug, wie eine Fahne im Wind flatterte und setzte sie dann behutsam vor sich ab. Vorsichtig strich er mit einer Hand durch ihre langen blau-schwarzen Haare und konnte den Blick nicht von ihren grün-braunen Augen lassen, in denen er zum wiederholten Male zu ertrinken drohte. „Trisha.“, brachte er schließlich hervor und schloss für einen kurzen Moment die Augen, so als müsse er sich vergewissern, dass sie kein Trugbild war und immer noch vor ihm stand, wenn er die Lider wieder öffnete.
Der Schalk blitzte in ihrem Blick auf, als sie ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Dann nahm sie sittsam einen Schritt Abstand und musterte Greg aufmerksam. „Ist das die neue Mode in der City?“, fragte sie belustigt.
Greg schaute an sich herab. Dann schüttelte er ergeben den Kopf. „Nein, das ist völlig zusammengewürfelt. Wir hatten gestern Abend einen Streit und da habe ich mir das Erstbeste zum Anziehen geschnappt und bin davongelaufen.“, musste er zerknirscht eingestehen.
„Sieht so aus, als wären wir genau richtig gekommen, um dich zu retten.“, rief Mav und lachte aufmunternd. „Und du hattest wirklich keine Ahnung davon, dass wir kommen würden?“, fragte er noch einmal verwundert.
„Nein, überhaupt nicht. Ich schwör's.“, stellte Greg klar. „Es war purer Zufall, dass ich ausgerechnet auf dieser Bank gelandet bin.“ Er klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers auf das Holz der Lehne.
„Umso besser.“, freute sich Trisha. „Wir hatten schon befürchtet, wir müssten vielleicht die ganze Stadt nach dir durchkämmen. Das hätte sich dann doch vielleicht als schwierig erwiesen, meinst du nicht?“
Dem konnte Greg nur zustimmen. „In der Tat. Die City ist verdammt groß. Ihr hättet euch gefühlt wie bei der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.“ Er schnaubte belustigt. Dann wurde er wieder ernst. „Wieso habt ihr eigentlich die Kolonie verlassen und mich gesucht?“, fragte er seine beiden Freunde.
Mavs Gesicht wirkte plötzlich nachdenklich: „Wir müssen dich warnen. Aber lasst uns das besser an einem weniger belebten Ort besprechen.“, wisperte er.
„Hab ich es dir nicht gesagt?“ Josh schaute Greg herausfordernd an und konnte die Genugtuung in seiner Stimme nicht verbergen. „Sie sind nicht deine Freunde. Und sie sind eine Gefahr für uns alle.“
Greg schaute sich um, aber nicht nur Philt, Suri, Frog und Peanut stimmten Josh vorbehaltlos zu, auch Mav und Trisha nickten zustimmend zu seinen Worten. Entgeistert schüttelte er den Kopf. Dann fuhr er Mav scharf an: „Mav, du warst in der Terapolis dabei. Du weißt, was wir den Weißen Löwen verdanken. Wären sie nicht gewesen, würden wir vermutlich nicht hier sitzen. Sie haben uns das Leben gerettet.“
Sein Freund musterte ihn ausgiebig und wog seine Worte mit Bedacht ab, bevor er nachhakte: „Das Leben gerettet? Bei welcher Gelegenheit denn?“
Greg griff sich mit der Hand an den Kopf. „Als du gefangen wurdest, hat allein ihre Uniform genügt, um dich in Windeseile wieder in die Freiheit zu entlassen. Und ohne sie wären wir nie in die City hineingekommen.“
„Und damit nicht in Nathalies Falle gelaufen.“, kommentierte Mav lakonisch.
Greg geriet für einen Moment ins Stutzen. „Also, hör mal!“, protestierte er.
„Was?“, fragte Mav herausfordernd. „Hast du noch nie darüber nachgedacht? Nathalie hilft uns, problemlos eine Frau zu treffen, die behauptet, dass Inspector Freydt tot sei, obwohl er sich offenbar blühender Gesundheit erfreut, und kurze Zeit später führt uns diese Frau mitten in einem Aufruhr in eine stille Seitengasse und ich werde von der Polizei geschnappt.“
„Die dich aber ja gleich wieder freigelassen hat.“, fiel ihm Greg ins Wort.
Mav nickte. „Genau, mit einem dubiosen Päckchen, das ich den Weißen Löwen zuspielen sollte.“
Er nickte Greg, der nachdenklich auf einem Strohhalm herumkaute, zu. „Ich wette, als Gegenleistung haben sie den Bobbies erzählt, wo unser Ballon versteckt war.“, legte er nach.
Gregs Gesichtszüge entgleisten langsam. „Das ist ungeheuerlich.“, hauchte er, ohne genau klarzumachen, ob er nun Mavs Anschuldigungen oder das von seinem Freund vermutete Verhalten der Weißen Löwen meinte.
„Genau.“, mischte sich nun Trisha in das Gespräch ein. „Und aus diesem Grund bist du dieser Nathalie auch nichts schuldig.“ Täuschte Greg sich, oder konnte er da tatsächlich einen Hauch von Eifersucht aus ihrer Stimme heraushören? Er bemühte sich, das Grinsen, das sich auf sein Gesicht stehlen wollte, zu unterbinden, offenbar mit mäßigem Erfolg.
„Was ist so lustig?“, fragte Trisha ihn misstrauisch.
„Sie sind gefährlich, Greg!“, warf Josh ein und entband seinen Freund damit einer Antwort.
„Nathalie will dich nur benutzen, bis sie fest genug im Sattel sitzt.“, unterstützte ihn Mav. „Hanson hat die Berichte studiert, die aus anderen Cities kamen. Überall versucht sie, Leute in die Verwaltung der Städte einzuschleusen, und wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben, verschwinden sie plötzlich. Keiner kann mehr sagen, wo sie sind.“
„Aber dafür bin ich doch inzwischen viel zu bekannt in der City.“, protestierte Greg lahm.
„Jesua Fingrey war auch bekannt.“, bemerkte Frog düster.
„Genau.“, bestätigte Suri. „Und dass du bekannt bist, ist nur ein weiterer Grund für die Weißen Löwen, dir nicht zu viel Macht und Einfluss zu gewähren.“
Greg schaute sie verwirrt an.
„Wenn du zu erfolgreich wirst, könntest du für Nathalie eine ernsthafte Konkurrenz um die Macht darstellen.“, erklärte Mav.
„Die Menschen achten dich und deinen Mut. Sie könnten sich hinter dich stellen und das wäre gefährlich für Nathalie und die Weißen Löwen, solltest du einmal anderer Meinung sein als sie.“, fügte Josh hinzu.
„Habt ihr euch alle gegen mich verschworen?“, fragte Greg verdattert und schaute von einem zum anderen.
„Nicht gegen dich, sondern für dich und gegen die Weißen Löwen.“, antwortete Peanut halb belustigt, halb sorgenvoll. „Die City ist schon wieder zu gefährlich für dich geworden.“ Greg bemerkte, dass sie sich sehr bemühen musste, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, während sie ihm in die Augen sah.
„Ich soll die City erneut verlassen?“, fragte er verdattert.
„Genau deshalb sind wir hergekommen.“, ließ ihn Mav wissen und Trisha nickte bestätigend. „Die Kolonie hat beschlossen, dass wir dich wieder aufnehmen und dir Unterschlupf gewähren wollen, wenn du das wünschst.“
„Wie seid ihr darauf gekommen, bevor ihr mich überhaupt gesprochen habt?“, begehrte Greg auf.
Trisha zuckte die Schultern. „Wir haben eins und eins zusammengezählt und beschlossen, dass eine Rettungsaktion angebracht wäre.“
„Hanson hat schon so etwas angedeutet, dass du dich Nathalie gegenüber verpflichtet fühlen könntest.“, ergänzte Mav. „Wir konnten dich nicht einfach ihren Klauen überlassen.“ Er grinste schief, in der Hoffnung, dass Greg ihre hehren Motive gutheißen würde.
„Ihr wart euch also sicher, dass ich selbst nicht auf mich aufpassen kann.“, fasste Greg die Situation etwas flapsig zusammen.
„Zu recht, wie man sieht.“, meinte Frog trocken.
Greg schaute zu ihm hinüber und dann von einem zum anderen. Genau genommen waren hier fast alle Freunde, die er in seinem Leben gehabt hatte, versammelt. Und sie alle machten deutlich, dass sie ihn lieber heute als morgen die City verlassen sehen würden. Was blieb ihm da noch übrig, als sich in das ihm offenbar vorbestimmte Schicksal zu ergeben?
Er atmete einmal tief ein, dann rang er sich zu einer Antwort durch: „Also gut. Ich werde für einige Zeit mit euch gehen. Aber nur für einen Höflichkeitsbesuch bei alten Freunden und bis sich die Wogen geglättet haben.“, beschied er mit Bestimmtheit.
Trishas Miene hellte sich schlagartig auf und Mav sprang auf die Füße, kam zu ihm herüber und schlug ihm enthusiastisch auf die Schulter. „Ich wusste, dass du zur Vernunft kommen wirst.“, ließ er seinen Freund wissen.
Greg ließ sich umständlich auf die Füße helfen, packte Mavs Unterarm und schaute ihm herausfordernd in die Augen. „Wer hat hier was von Vernunft gesagt?“, fragte er bissig. „Ich glaube, da draußen wartet ein neues Abenteuer auf uns. Und ich gedenke nicht, ohne eine weitere gute Geschichte nach Hause zurückzukehren.“