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Busfahrt mit Crashkurs

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Nach einer Woche gibt Baba das Zeichen zum Aufbruch nach Hyderabad. Es geht also ans Kofferpacken, Zimmerputzen, dann mit der Riksha zum Busbahnhof. Sechs Stunden Fahrt liegen vor uns. Der nächste Bus nach Hyderabad ist recht komfortabel, hat abgedunkelte, wenn auch total verdreckte Fensterscheiben, verstellbare Sitze und einen Fernseher, der so laut eingestellt werden muss, dass er den Fahrtlärm übertönt.

Im Bus ist es stickig heiß, aber die Fenster können aufgeschoben werden, so dass ein staubgeschwängerter Wind hineinblasen kann. Um mich vor dem Staub zu schützen, der in jede Pore dringt, drapiere ich meinen weißen Schal (ein Schal ist in Indien für Frauen obligatorisch) so, dass schließlich der ganze Kopf eingehüllt ist. »Wie ein Totenkopf«, denke ich und lege mich so bequem wie möglich in den Sitz. Gleichzeitig erscheint das Bild einer in weiße Tücher gehüllten toten Gestalt.

Eigentlich eine normale Assoziation, wenn nicht gleichzeitig die Erinnerung an eine Situation vor zwei Tagen auftauchte: Ein japanisches Ehepaar brannte bei seiner Verabschiedung zu Ehren von Baba dicke Wunderkerzen ab. Ein kleines indisches Mädchen war zu ungeduldig und zappelig, um das Zündholz so lange ruhig zu halten, dass das Feuer überspringen konnte. Erst als ich ihr riet: »Don’t move!«, hielt sie ihre Hand still und freute sich, als goldene Sterne aus der Wunderkerze sprühten. Don’t move!, höre ich innerlich und weiß intuitiv, dass das für die ganze Fahrt bis zur Ankunft in Hyderabad gilt … Allerdings kann ich diesmal den Sinn der Übung nicht erkennen. Eine kurze Zeit verhandle ich mit mir, ehe ich mich schließlich darauf einlasse, obwohl ich ahne, dass das »Bad« dagegen ein Spaß war.

Die Fahrt geht über eine enge schlechte Landstraße. Sich dem indischen Fahrstil zu überlassen, bei dem äußerst riskante Überholmanöver ein Sport unter den Fahrern sind, ist für europäische Gemüter anfangs sehr strapaziös. Um keine unkontrollierten Bewegungen zu machen, muss ich wach bleiben. Ich gebe vor zu schlafen, um niemanden auf mein – wie es mir selbst erscheint – verrücktes Verhalten aufmerksam zu machen. Bei offenen Türen und Fenstern ist schon der Fahrtlärm unerträglich, dazu kommt das Plärren des auf größte Lautstärke eingestellten Fernsehers.

Jeder indische Fahrer fährt mit ungebremster Geschwindigkeit durch jedes noch so tiefe Schlagloch und auf jeden ungesicherten Seitenstreifen, eine Härteprobe für Achsen und Wirbelsäulen … Mit der Zeit werden Arme und Beine lahm, die Zunge klebt am Gaumen, aber das heftige Schütteln des Fahrzeugs sorgt für eine automatische Körperverlagerung und damit Entspannung.

Die Gedanken driften ab, und je mehr sie sich auf den Körper konzentrieren, umso unerträglicher wird es. In einer Art Halbschlaf ziehen die Situationen dieses Aufenthalts an mir vorbei, immer wieder Baba, Sein Gesicht, die kräftigen, aber feingliedrigen Hände, die zierlichen Füße, die schrägen Augen, der unergründliche Blick, der gleichzeitig alles Sichtbare und Unsichtbare umfasst, alles ist merkwürdig fließend und doch klar. Ich bin wach, aber gleichzeitig wird jede Vorstellung sofort aufgelöst. Es gibt keine Zeit … Die Erinnerung setzt aus. Nach einer Ewigkeit werden plötzlich die Sinne wieder wach – Autos hupen, Fahrräder klingeln, Händler schreien – die Stadt nähert sich. Ich realisiere überwach meine Situation und denke: »Bald ist es geschafft!«

In dem Moment gibt es einen Ruck, und der Bus steht – wie es sich anfühlt – im Stau. Meine Erwartungshaltung bewirkt, dass die sechsstündige Bewegungslosigkeit sich jetzt furchtbar bemerkbar macht: auf Beinen und Armen kribbeln Ameisen, die Gliedmaßen wollen aus imaginären Eisenklammern ausbrechen, alle Ungeduld meines Lebens konzentriert sich in diesen Moment. Ich kann nichts tun und bin wie gelähmt. Der Körper ist ein quälendes, schmerzendes, unerträgliches Gefängnis.

Der nächste Moment ist schwer zu beschreiben: wie aus einem alten Schlauch löst sich der Teil, der sich als Ich fühlt, wird leicht und schwebt nach oben … Ich schaue nach unten, wo meine Kleider bzw. mein Körper liegen. Aber wer ist Ich? Hinter mir sagt M.: »Hier stehen wir noch bis übermorgen«, aber da ist niemand mehr, den das interessiert, mag der Bus auch noch eine Woche da stehen … Dieser Zustand von Sein findet in einer anderen Wirklichkeit statt. Ohne Körper sein, frei, reine Freude, nur leicht und selig, nur Sein … Der Bus setzt sich wieder in Bewegung, ein weißer Vogel fliegt mit …

Das Ganze mochte nur einige Sekunden gedauert haben (eigentlich geschah es außerhalb von Zeit, denn jemand, der über Zeit nachdenkt, existiert hier nicht), dann verschwindet alles in einer blauen Mattscheibe und ein gnädiger Schlaf lässt mich sanft in den Körper zurückkehren. Am Busbahnhof weckt mich M. auf, ich komme aus weiter Ferne und finde nur schwer zurück.

Erst als wir in der Riksha sitzen, löst sich ein heftiger Gewitterregen und wir kommen tropfnass im Ashram an. Baba sitzt schon mit einigen Devotees im Büro und begrüßt uns von weitem.

Am nächsten Morgen lasse ich das Ereignis noch einmal an mir vorüberziehen. Ich realisiere, dass erst die Erwartungshaltung gegen Ende der Fahrt den Zustand der Bewegungslosigkeit unerträglich gemacht hat.

So mag sich Sterben anfühlen, wenn die Seele sich löst aus dem Gefängnis des Körpers und sich weitet in ihre ureigene Freiheit. Aber das schien nicht die eigentliche Botschaft zu sein. Was war geschehen? Ein sich zunächst wohlfühlender, dann mehr und mehr gefühlloser und schließlich schmerzender Körper, also etwas, das in ständigem Wechsel unterschiedliche Zustände erfährt und das Objekt von Freude und Leiden ist, liegt plötzlich schlaff und leblos da – ein Stück Abfall, das achtlos fortgeworfen wurde. Allerdings ist dasjenige, das Ich zu diesem Objekt gesagt hat, noch da – es »sieht« ohne Augen und »hört« ohne Ohren. Es IST – reines Bewusstsein, Freiheit und Seligkeit – ohne die Einschränkungen, die der Körper setzt. Das also war das Thema des »Crashkurses«: »Ich bin nicht mein Körper!«


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