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Die Friedensrede
ОглавлениеJanuar 1999 – Babas Geburtstag stand vor der Tür. Seit einigen Jahren war die Friedenskonferenz ein Teil des Vormittagsprogramms. Je ein Vertreter jeder anwesenden Nation sollte einige Gedanken zum Stichwort Frieden mitteilen. Mit der weiteren Besucherin aus Österreich kam ich überein, dass ich die Rede halten würde. Während des offiziellen Geburtstagsprogramms am Vormittag – Baba saß mit Politikern und Schauspielern auf der Bühne – legte ich das Manuskript meiner Rede griffbereit auf mein Notizbuch und erwartete, nachdem einer nach dem anderen seine Rede zur Friedenskonferenz gehalten hatte, in Ruhe den Aufruf »Austria!«. Kurz bevor ich damit rechnete, aufgerufen zu werden, wollte ich noch einmal die Blätter prüfen, aber – die Rede war verschwunden! Hastig durchsuchte ich meinen Beutel, inspizierte meinen Sitzplatz, blätterte mein Notizbuch durch, die Mantra-Zettel, schaute links und rechts in meiner Nachbarschaft, unter mein Sitzkissen – nichts! Wie vom Erdboden verschluckt! Nun musste »Austria« kommen! Aber die Friedenskonferenz war zu Ende. Baba griff zum Mikrophon und begann Seine Geburtstagsrede – der letzte Teil des Vormittagsprogramms. Als ich am Ende der Veranstaltung aufstand, lagen die zerknautschten Blätter der Rede unter Sitzkissen und Wasserflasche – auch hier hatte ich gesucht! Dabei fand ich meine Rede nicht schlecht – sweet, short and simple …
Meine Konfusion legte sich bald, mir war einige Aufregung erspart geblieben, und in der allgemeinen Aktivität der nächsten Tage vergaß ich die ganze Angelegenheit.
Drei Tage später standen die Taxis im Hof, Baba fuhr zurück nach Hyderabad und mit Ihm der Tross aller Permanenten und Besucher. Während der Abendrunde lobte Baba die Friedensrede von W. aus der Schweiz, sagte, wie gut sie Ihm gefallen habe, und warf mir von der Seite einen kurzen, wie mir schien, ironischen Blick zu. Siedend heiß stieg mir ins Bewusstsein, was mein Gefühl und mein Gewissen längst wussten. Was war passiert? Da die andere österreichische Besucherin im Gegensatz zu mir auch in Österreich geboren war, war ich der Meinung gewesen, dass sie die Rede halten sollte. Das wollte sie aber nur unter der Bedingung tun, »wenn es kein anderer macht«. Damit forderte sie trotz des bestehenden Angebots die verbale Erklärung von mir, dass ich die Rede nicht halten wolle, was so aber nicht stimmte. Wir schoben den Ball hin und her, sie konnte sich weder für ja noch nein entschließen, bis ich trotzig sagte: »Gut, dann mache ich es!« Dabei blieb ich, spürte aber, dass sie damit nicht zufrieden war. Es hätte nur einen Satz von mir für eine runde und friedliche Lösung für uns beide gebraucht: »Ich möchte die Rede nicht halten«, doch dazu war ich zu stolz und zu störrisch. Obwohl ich fühlte, dass die Besucherin ihren Wunsch, die Rede zu halten, nur so ausdrücken konnte, war ich nicht in der Lage, ihr eine Brücke zu bauen. Ich hätte mir Zeit und Stress erspart, sie wäre glücklich gewesen – eine Friedensrede mit diesem unfriedlichen Hintergrund war verlogen und darum unbrauchbar. So direkt vor Babas Augen schämte ich mich gründlich, war aber gleichzeitig dankbar für das andere Geschenk: wieder einmal hatte Balasai Baba mir Seine Allwissenheit gezeigt.
Neben Ihm saß eine neue Besucherin, die unscheinbar, schüchtern und unsicher wirkte. Baba überschüttete sie mit Aufmerksamkeit, lobte ihren Sari, schenkte ihr Seinen Tee, streichelte ihre Hand, während Er mit der anderen einen Carromboard-Stein schoss, und steckte ihr eine Blume ins Haar – jeder bemerkte die Veränderung, als Baba später den Segen gab: Sie strahlte vor Glück, Lebendigkeit und Schönheit. Baba hatte nur schlicht Seine bedingungslose Liebe und Menschlichkeit verströmt, das getan, was Er uns jeden Tag vierundzwanzig Stunden vormachte …
Damals stellte sich mir schon eine der Rätselfragen, die ich auch heute nicht vollständig beantworten kann: Warum konnte diese göttliche Liebe nicht einfach von uns Menschen nachgeahmt werden? Im Gegenteil, mir schien, je länger jemand bei Baba war, umso mehr schien er für sich das Recht zu beanspruchen, unfreundlich, ungeduldig und arrogant zu sein. Dabei war gerade diese »Normalität« anfangs ein Kriterium, dass genau dieser Platz für mich richtig war, weil mir hier »alles« möglich schien und niemand sich einbilden konnte, schon als Heiliger oder »Erleuchteter« durch die Luft zu schweben. Ich hatte einige Male miterlebt, wie Baba jede Scheinheiligkeit zu vereiteln wusste. Und vielleicht war der Weg mit Balasai Baba nicht der »direkte« Weg zur Seligkeit – was immer das war –, sondern ein Weg, auf dem wir mit den Abgründen unseres Menschseins konfrontiert wurden, um »zuerst Menschlichkeit, dann Göttlichkeit zu entwickeln«, wie Baba es einmal ausdrückte. Solche Gedanken ließen mich die »Permanenten« in günstigerem Licht sehen. Außerdem – hatte ich nicht längst selbst schon Hinweise bekommen? Ich erinnerte die violette Jammun-Kirsche am ersten Tag meines »Permanentendaseins«, sie schmeckte zwar saftig-frisch, aber auch säuerlich-bitter – ein Hinweis auf Bevorstehendes? Dazu passten der Traum von Himmel und Hölle und nicht zuletzt die Friedensrede. Eines war klar, hier im Ashram von Balasai Baba hatte jedes Wort und jedes Ereignis seine Bedeutung, die erkannt werden wollte, nichts geschah »zufällig«.
Gestern Abend wurde W. aus der Schweiz verabschiedet. Wir sangen: »Junge, komm bald wieder!«, und Baba spielte Mundharmonika dazu, indem Er sich der gesungenen Melodie, die Er kaum kannte, blitzschnell anpasste. Plötzlich wirbelte die Mundharmonika in die rechte Hand und mit unnachahmlichem Gangstergesicht »schoss« Baba aus seiner »Pistole« pfeifende imaginäre Kugeln um unsere Ohren, um genauso schnell wieder unschuldig lächelnd das Lied auf der Mundharmonika zu Ende zu blasen.