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Ganesha verflucht den Mond

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24. August 1998 – Busfahrt nach Kurnool. Es ist Regenzeit. Badende Wasserbüffel, pflügende Reisbauern, wadentief im Schlamm, zwei Ochsen vor den Holzpflug gespannt, geflutete Felder, Frauen pflanzen Reissetzlinge, einige Felder leuchten schon smaragdgrün.

In Kurnool gibt es abends eine Carromboard-Runde im Tempel. Baba ruft mich neben sich, füttert mich mit Ghee-Sweets, scharf gewürztem Puffreis, gibt mir ein Tempotuch als Serviette, ordnet meine Haare, begutachtet meine roten Zehennägel – liebevoller und sorgender kann keine Mutter sein …

Zwischendurch tausend Witze, Baba faltet aus Tempotüchern Papiernasen, -hüte und einen Papier-BH und stattet zu aller Belustigung einen Besucher damit aus.

Später ein langer Abschied vor der Tür – bis Baba abends alle Devotees gesegnet hat, indem Er einzeln alle Namen nennt, einigen, die Ihm auf dem Fuße folgen, noch die Hand auf Scheitel oder Schulter legt, winkend und witzelnd eine Stufe nach der andern erklimmt, manche mit Sondersegen ausstattet, als wäre die Trennung für die nächste Ewigkeit, Luftküsse verteilt, an der Türschwelle sich nochmal vorbeugt, dass alle Ihn sehen können, um den letzten Luftkuss zu verschicken, bis nur noch der Arm zu sehen ist und schließlich nur noch die Hand mit lustigen Fingerspielen – das dauert noch einmal eine halbe Stunde, Abend für Abend …

Am nächsten Tag ist das große Ganesha-Fest. Im hinduistischen Götterpantheon vertritt jeder Gott einen Aspekt der Unendlichkeit Gottes. Ganesha, der elefantenhäuptige Gott mit seinem dicken, kindlichen Bauch, den runden kurzen Gliedmaßen und den großen, weithin spürenden Sinnesorganen, der gerne isst und eine Vorliebe für Süßspeisen hat, ist der Lieblingsgott der Inder. Er verkörpert den Zauber und die Frische des Anfangs.

Ganesha ist vor allem deshalb so beliebt, weil man hofft, dass er alle Hindernisse beseitigt und alle Erwartungen und Wünsche erfüllt. Vor jedem neuen Projekt, sei es eine Heirat, ein Hauskauf, eine Reise, ein Examen oder ähnliches, wird darum Ganesha angerufen, damit er alle Hindernisse beseitigt und das Projekt segnet.

Das ist der volkstümliche Aspekt – darüber hinaus steht Ganesha für den Anfang der Schöpfung, wo er nach dem Klang der Trommel tanzt und mit dem Urlaut OM die Welt erschafft.

Im Tempel wird auf einem Tisch ein Altar für die Ganesha-Puja vorbereitet: flankiert von vier Bananenstauden wird die kleine bunte Figur mit Blumen, Gräsern und Blättern geschmückt, ein vedischer Priester rezitiert die dazugehörigen göttlichen Namen und Mantren, Räucherstäbchen, Früchte, Bananen, Kokosnüsse, Reis und Süßigkeiten werden geopfert, jeder darf Blumen und Reis werfen, danach ein süßes Prasadam. Nachmittags sitzen wir mit Baba im Garten, wo Er am liebsten entweder im Sand oder direkt auf dem Stein sitzt. Heute haben fürsorgliche Devotees eine Plastikmatte ausgebreitet. Über uns blühen die orange leuchtenden Flammenbäume. Ein Inder erzählt in schwer verständlichem Indlish einige der zahlreichen Geschichten über Ganesha – auch Geschichten anzuhören ist eine spirituelle Übung. Mit der Erschaffung Ganeshas bekommt man schon einen guten Eindruck, wie dramatisch, blutrünstig und direkt aus dem Leben gegriffen die meisten Legenden sind: Parvati, Shivas Ehefrau, oft von ihrem Mann alleingelassen, modelliert sich aus der Substanz ihres Schweißes und Sandelholz-Körperpuders ein Kind.

Der Knabe – Ganapati – soll sie beschützen und darf als Türwächter vor der Tür ihres Bades niemanden hereinlassen. Der Ehemann – Shiva – kommt. Da sich beide nicht kennen und Ganapati heroisch den Eingang verteidigt, wird Shiva wütend und schlägt Ganapati den Kopf ab. Parvati ist außer sich, Shiva gibt klein bei und verspricht, mit dem Kopf des ersten Lebewesens, das ihm begegnet, seinen Sohn wieder vollständig zu machen. Das erklärt den Elefantenkopf, und da Shiva den Zorn seiner Frau endgültig besänftigen will und der Junge seinen Mut schon gezeigt hat, macht er ihn zum General seines ziemlich unzivilisierten Heeres, den Ganas, daher der Name Ganesha.

Lassen wir es hier bei der Kinderfassung. Baba spricht sehr ernst und eindringlich über die Bedeutung Ganeshas: Für alles, was man beginnt, sollte man Ganeshas Segen einholen. In keinem indischen Tempel geschieht eine Opferhandlung, ohne dass zuvor Ganesha verehrt wird!

Nach dem abendlichen Darshan bewundere ich nach den mondlosen Tagen, der Neumondzeit, wieder die feine Mondsichel am Himmel. Hier, in den tropischen Breitengraden, schwimmt sie wie ein Boot am Himmel. Baba lässt schon die roten Teppiche zum Carromboard draußen ausrollen. Ehe Er sich ans Spielbrett setzt, geht Er mehrfach zwischen Tempel und Tor hin und her, was ungewöhnlich ist. Dann sitzen alle um das Spielbrett her-um, ich sitze Baba gegenüber. Wie schön, Baba wieder spielen zu sehen! Aber meine Freude währt nicht lange – eine Moskito-Attacke beginnt, die bisher nichts Vergleichbares hatte! An Füßen, Händen, Armen, Nacken, Bauch und anderen unmöglichen Stellen! Don’t move! ist angesagt, doch die Juck-Qual ist unerträglich und ich will dem Gedanken nicht glauben, aber Baba sagt scheinheilig zu meiner Nachbarin: »Ulrike hat keine Moskitos!«

Ich leide also erbärmlich, schaue zu, wie sie mich stechen, und erst, als meine andere Nachbarin die Geschichte vom Mond erwähnt, fällt bei mir der Groschen! Ich hatte die Geschichte der Kategorie »Mythologie für Kinder« zugeordnet, sie sofort wieder vergessen und auch beim Anblick des Mondes nicht gestutzt. Jetzt fällt sie mir in allen Einzelheiten wieder ein: Eines Tages hatte Ganesha eine Riesenportion süsser Laddus gegessen, und mit besonders dickem Bauch reitet er auf seiner Maus heim. Über dieses komische Bild muss der Mond lachen und ärgerlich verflucht Ganesha ihn: von diesem Tag an wird der Mond abnehmen und zunehmen, nur einmal im Monat wird Vollmond sein, statt wie bisher jeden Tag! Und außerdem wird derjenige, der ihn an seinem Geburtstag sieht, leiden müssen! Selbst Krishna, der den Mond an diesem Tag in einem Becher Milch reflektiert sah, war davon nicht ausgenommen.

Über die verwirrende Anzahl von Göttern, Halbgöttern, Dämonen, Rishis, Weisen usw. gibt es eine unendliche Anzahl von Geschichten und Epen und ebenso viele Kommentare und Interpretationen, die versuchen, die evolutionsgeschichtlichen, kosmologischen, spirituellen, psychologischen, historischen, kulturellen und sozialen Hintergründe zu erklären und die innewohnende Wahrheit herauszuarbeiten. Ohne Worte hat mich Baba an diesem Abend die Wahrheit dieser Geschichte erfahren lassen. In meiner Not singe ich innerlich einen Bhajan für Ganesha und die Qual hört auf.

Der Mond reflektiert das Licht der Sonne, er leuchtet nicht selbst. Seit alters her ist er ein Symbol für das physische Gehirn, das die Gedanken nicht selbst produziert, sondern nur dazu dient, sie zu spiegeln und bewusst zu machen.

Ganesha – das Kind – verkörpert die kosmische Weisheit, die mit der rationalen Betrachtungsweise unseres Gehirns nicht erfasst werden kann. Der Mond macht sich über den Kinderbauch Ganeshas lustig, aber Ganesha hat die Macht, seine Selbstherrlichkeit zu brechen und ihm seine Rolle als ein Planet unter anderen im Sonnensystem zuzuweisen. Hatte ich mich nicht ähnlich arrogant Ganesha gegenüber verhalten, die Geschichte als Kindererzählung belächelt und vergessen und in alter Gewohnheit die Mondsichel bewundert? Wie sehr neigen wir dazu, unseren Verstand die Hauptrolle spielen zu lassen, anstatt offen zu bleiben für tiefere Formen der Erkenntnis? Babas Antwort ging unter die Haut …


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