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Durga oder der Anfang vom Ende
ОглавлениеSeptember 1998 – Meine Abreise war geplant für Ende September. Über meine Zukunft machte ich mir nur nebenbei Gedanken, alles war möglich. Ein paarmal geschah es, dass Vögel mit Pflanzenfahnen oder anderem Nestbaumaterial an mir vorbeiflogen, wenn ich die Möglichkeit in Betracht zog, im Ashram zu wohnen. Aber solche Zeichen schienen mir zu vage und zu »zufällig«. Eines Tages kam Baba vormittags die Treppe herunter, setzte sich aber nicht wie gewöhnlich zur Runde auf den Teppich, sondern lief um den Darshanplatz herum, begutachtete die Bäume des Nachbargrundstücks, deren Zweige weit zu uns hineinragten, inspizierte hier eine Mauer und dort eine Tür und winkte mir, Ihn zu begleiten. Meistens geht das Gespräch in solchen Situationen über belanglose Dinge, die ich nicht mehr erinnere, aber urplötzlich und unerwartet kommt Baba dann auf den eigentlichen Punkt, und an diesem Tag sagte Er nur ein Wort: »Avo!«. Ich erinnerte das Wort aus den Bhajans und hatte die undeutliche Erinnerung, dass es komm hieß. Keine weitere Erklärung, Ende der Runde. Das war die Antwort auf die wochenlang hin und her bewegte Frage. Hiermit gab Baba mir die Erlaubnis, permanent in Seinem Ashram zu wohnen, und ich nahm die Einladung an. Später bestätigte eine Devotee, dass meine Übersetzung richtig war.
Die letzten Tage waren erfüllt von neuen Aktionen. An den nächsten zehn Tagen sollte im Eingangsbereich des Hauses morgens um 6 Uhr eine Puja stattfinden – ein Altar, der entfernt Ähnlichkeit mit einem Nachttisch hatte, war schon aufgebaut. Die schon lange im Ashram lebenden Devotees wunderten sich – nie hatten sie erlebt, dass das zehn Tage dauernde Durga-Fest, das vielleicht höchste Fest in Indien, im Ashram von Balasai Baba gefeiert wurde. Baba hatte hinduistische Feste und Rituale bisher gnadenlos reduziert. Die frühe Morgenstunde sollte mich nicht schrecken, um 6 Uhr saßen der Priester, ein indisches Ehepaar und ich vor dem kleinen Altar. Der Priester war für einen Südinder untypisch groß. Seine jungenhafte Fröhlichkeit stand im Gegensatz zu seiner königlichen Ausstrahlung, obwohl er nur mit Dhoti und Schultertuch bekleidet war. Mir erschien er wie eine Gestalt aus einem alten Märchen, die sich in unsere Zeit verirrt hatte. Mit ruhigen, geübten Bewegungen ordnete er die Menge der unübersichtlichen Pujagegenstände wie Öllampen, Räucherstäbchen, verschiedenfarbige Pulver, Wassergefäße, Opferzutaten wie Früchte, Blumen, Reis, Süßigkeiten, Milch, Honig, Kokosnüsse usw. In der Mitte des Altars stand eine Figur, die eine vielarmige Göttin auf einem grimmigen Tiger sitzend zeigte. Von der Bedeutung der zehn Tage wusste ich nur, dass an jedem Tag ein anderer Aspekt der Göttin gefeiert wurde, und dass mit jedem Aspekt eine der negativen Eigenschaften des Menschen wie Gier, Neid, Stolz, Eifersucht usw. zerstört würde. Darum also die vielen Waffen in den Händen der Göttin!
Im europäischen Westen schwingt an jedem 29. September St. Michael sein Schwert, tötet den Drachen und wiegt mit der Seelenwaage das Gute und Böse. Auffällige Parallelen, wenn sich das Jahr der lichtarmen Hälfte zuneigt.
Die morgendliche Müdigkeit wurde durch den Duft der Blumen und Räucherstäbchen, den mattgoldenen Schein, den die Öllichter an den Messinggegenständen hervorriefen, die Farben der Früchte und erdigen Pulver in einen entspannten, halbwachen Traumzustand verwandelt. Jede Puja ist ein Mikrokosmos, in dem alle Sinnesorgane aktiviert werden, alle schwerstofflichen und feinstofflichen Körper teilhaben und alle Elemente (Äther/Akasha, Luft, Feuer, Wasser, Erde) einbezogen sind. Das Singen und Rezitieren der Mantren hilft entscheidend mit, ob die schwierigen, teils simultanen Handhabungen ruhig fließend und trotz aller Details ohne Hast vollzogen werden können. Ich hatte schon einige Male vedische Priester Mantren chanten hören und war beeindruckt von der Kraft der Tonerzeugung und der ungewohnten Rhythmen, doch die Schönheit des Singens und Rezitierens, zusammen mit der Hingabe und Konzentration des Priesters neben mir, ließ die Laute der Ursprache der Menschheit ganz neu erklingen. Sein Gesang begleitete in natürlichster Weise die komplizierten Handhabungen des Schwenkens, Gießens, Brechens, Schmückens, Auftragens, Mischens, Verteilens, und unsere Aufmerksamkeit wurde ganz natürlich in seine Verehrung mit eingebunden. Das Sanskrit basiert auf dem Klang des Vokals A und drückt in vollkommener Weise das Staunen der damaligen Menschheit vor der Göttlichkeit der Schöpfung und des Menschen aus. Dieses Bewusstsein ist heute verlorengegangen, aber in diesem jungen Priester schien es mir bewahrt, so selbstverständlich und natürlich stellte er dar, was er sang. Während eines Abenddarshans materialisierte Baba ihm einen Ring, nie wieder erlebte ich, dass ein Priester so gesegnet wurde. Als der Ashram in ein größeres Gebäude in Hyderabad umzog, blieb er im Dienste von Baba und versorgte täglich den Atma Lingam, den Baba für den Ashram geboren hatte. Eines Tages hörten wir, dass er krank sei, und bald darauf starb er.
Vielleicht war es sein Beispiel, dass mich inspirierte, später jeden Morgen vor den Bhajans eine kleine Puja zu machen, obwohl ich nie ein Fan solcher Rituale gewesen war. Ich machte das regelmäßig jeden Morgen. Als ich nach vier Jahren vor einer Reise nach Deutschland das Puja-Geschirr wegräumte, wusste ich, dass ich es nicht mehr auspacken würde, als spirituelle Übung in Konzentration und Disziplin hatte sie ihren Dienst getan.
Am achten Tag des Festes, dem Aspekt, der dem kämpferischen Aspekt der Göttin Durga gewidmet war, war mein Rückflug – der 29. September, Michaeli. Obwohl ich kein Gespräch erwartete, das Baba den meisten Abreisenden schenkte, hoffte ich, ihn noch einmal zu sehen.
Vormittags brachte ich noch Filme zum Fotoshop, und als ich zurückkam, saß Baba im Hof: singend, lachend, Witze machend. »Du warst beim Fotoshop? Dies war nicht dein letzter Film! Dies war nur der Anfang – der Anfang vom Ende – hast du verstanden? Du kommst bald wieder!« Ich hatte verstanden, aber nur halb – welches Ende?
Der Flug ging über Bombay und Delhi. Unter mir tauchte nach Delhi der Lauf des Indus’ auf, dann endlose Wüsten und die Gebirge von Pakistan und Afghanistan. Die Nachrichten zeigten Flüchtlinge im Schlamm von Kosovo, Muslimsoldatinnen mit grünem Stirnband und Gewehren in Teheran. Nacheinander zogen das Elbursgebirge, das Kaspische Meer, die ersten größeren Flächen von bewässerten Feldern, der schneebedeckte Ararat, in der Ferne die Gipfel des Kaukasus vorbei. Im Flieger von Paris nach Frankfurt gab es einen Teller mit Roastbeef-Sandwiches, nur auf meinem Teller lagen zwei Maronen-Quark-Desserts, die Brote konnte ich verschenken …