Читать книгу Gott singt - Ulrike Gadenne - Страница 27
Hörtraining
ОглавлениеObwohl sich hinterher immer alles als sinnvoll herausgestellt hat, bin ich immer noch unsicher, wie ich das verstehen soll, was ich »höre«.
Wir sind für einige Tage in dem kleinen Ashram in Banjara-Hills, Hyderabad. Eines Morgens soll ich mich besser nicht mit einer bestimmten Gesichtscreme einreiben, die außerdem noch ziemlich teuer gewesen ist. Da ich diesmal der »Stimme« misstraue und die Creme zu kostbar finde, reibe ich mich trotzdem damit ein. Als Baba zum Darshan herauskommt, fangen meine Augen an, höllisch zu brennen, so dass ich rausgehen muss, um die Creme abzuwaschen. Vorher ist diese Reaktion nie aufgetreten, aber da die Creme ein rein chemisches Kunstprodukt war, tat ich mir wohl nichts Gutes damit.
Eines Nachts wache ich gegen 4 Uhr mit heißen Füßen auf. Wenn ich nachts aufwache, schlafe ich gewöhnlich sofort wieder ein und hasse es aufzustehen. »Geh nach draußen«, klingt es in mir. Ich laufe zwei Runden im Hof, die Füße sind kühler, und ich bin froh, als ich weiterschlafen kann. Aber das »Programm« ist noch nicht zu Ende: »Geh aufs Dach!« Das ist eigentlich nicht erlaubt, weil man an Babas Räumen vorbei muss, aber ich schiebe alle Bedenken beiseite und den Türriegel zurück, steige die Treppe hoch und gehe an Babas Wohnungstür vorbei aufs Dach.
Da es regnet, mache ich nur eine Runde. Im Bett ist es warm und trocken, aber kurz vor dem Einschlafen »höre« ich zum dritten Mal die Stimme: »Geh aufs Dach!« und nehme einen intensiven Sandelholzduft wahr – einen von Babas Düften – und entriegele leise die Tür. Auf der Treppe noch einmal der Sandelholzduft. Langsam dämmert der Morgen. Auf dem Dach ist es still, nur ein Hund bellt und der Wind raschelt in den Palmen. Zwischen den Wolken verblassen die Sterne …
Bei der Meditation am Morgen ein Schwingen im Kopf, ein leichtes Druckgefühl hinter der Stirn, Kribbeln bis in die Haare, die Arme zucken unwillkürlich. Mein abgewinkeltes Bein schläft ein – »Bleib so sitzen!« –, plötzlich werde ich wie auf eine höhere Stufe getragen, statt Schmerz ein Gefühl von Leichtigkeit und Weite.
In der nächsten Nacht wache ich um die gleiche Zeit auf, gehe aufs Dach. Ein Nachtvogel schreit, ein lauer Wind durchlüftet mich. Als ich runter gehen will: »Bleib noch ein bisschen!« Statt Runden laufe ich jetzt Lemniskaten – die Richtungsänderungen wirken wie erfrischende Energieschübe, im Gegensatz zu den Runden, die auf die Dauer schwindelig und schläfrig machen. Auf der Treppe wieder Babas Duft. Erst viele Jahre später lese ich in einem Buch, dass die Lemniskate das geometrische Symbol für die Beziehung zwischen einem »Weißen Meister« und seinem Schüler ist…
Beim morgendlichen Bhajansingen sitzt ein fremder Yogi in der ersten Reihe, ruhig, aufrecht, vollkommen entspannt. Diesmal versuche ich auch während des Singens aufrecht und still zu sitzen. Nach einer Weile schmerzt die Haltung. Baba kommt im pinkfarbenen Gewand die Treppe herunter und setzt sich auf den Simhasana (Löwenthron). »Der Schmerz ist nicht real, konzentriere dich auf mich!«, klingt es innen. Je mehr ich mich auf Babas Form und den göttlichen Namen konzentriere, umso mehr vergesse ich die schmerzenden Knie.
Was das Sitzen angeht, war ich anfangs völlig unerfahren und darum entspannt, je mehr ich jedoch lerne, aufrecht und still zu sitzen, umso mehr wird der Schmerz ein »Thema« und die Konzentration flackert zwischen den beiden Polen hin und her, was zusätzlich störenden Gedanken Tür und Tor öffnet. Gleichzeitig ist es paradoxerweise so, dass, der Schmerz, wenn er unerträglich wird, die stärkste Hilfe ist, mich voll und ganz auf das Mantra zu konzentrieren.
Mit Babas Hilfe gelingt es jedes Mal, den »Klang« des Mantras so zu steigern, dass er den Schmerz »übertönt«, so dass die Glocke meistens unerwartet früh das Ende der Meditation anzeigt.
Am nächsten Tag zur Nachmittagsmeditation setze ich mich bequem im Schneidersitz auf den Boden. Früher als sonst schmerzt das rechte Hüftgelenk, am Steißbein fühlt es sich an, als ob ich direkt auf einem Nerv säße, das linke Bein schläft ein …
Das OM in meinem Kopf wird lauter und ich versuche, mich aus dem Schmerz herauszuziehen. Ich höre: »Don‘t move, entspanne dich!« Die Kraft des göttlichen Namens wird stärker, »wandert« in meinem Kopf, zieht vom rechten Ohr zur Schädeldecke, unter der es anfängt zu kribbeln. Die Konzentration auf den Scheitelpunkt lässt mich schwitzen, Babas Kraft strömt von oben nach unten, der Oberkörper zittert. Der Hinterkopf fühlt sich an, als würde er ausgebeult. Kein Schmerz … nach einer halben Stunde ertönt das Shanti, Shanti, Shanti.
Es dauert eine Weile, ehe ich die Beine anziehe und lockere, das linke fühlt sich dick und unförmig wie ein Elefantenbein an, aber Hüft- und Rückenschmerzen sind augenblicklich verschwunden. (B. sagt mir später, das Zittern sei ein Zeichen von Blockaden, wenn das Nervensystem durchlässig sei, merke man nichts mehr. Ich verstehe nichts.)
Alles hatte so harmlos angefangen – nur jeweils eine halbe Stunde Meditation! Aus dem Kinderauge Ganeshas sind verwirrende und herausfordernde Schmerz-, Gedanken- und Konzentrationsübungen geworden, deren Sinn ich nicht verstehen kann. Vor deren Eigendynamik habe ich sogar Angst, ganz zu schweigen davon, dass ich mich immer wieder für verrückt halte. Außerdem habe ich nicht die Absicht, ein Yogi zu werden, geschweige denn mich zu quälen. Ich sah niemanden, der ein ähnliches Problem zu haben schien und den ich dazu hätte fragen können. Systematisch zu meditieren, hatte ich mir zwar immer gewünscht und auch mehrfach begonnen, aber aus Mangel an Disziplin und Durchhaltekraft wieder aufgehört. Mit dem östlichen Hintergrundwissen von Meditation hatte ich mich niemals befasst und konnte daher die Phänomene nicht einordnen. Es hätte nahe gelegen, Baba selbst zu fragen, auch was es mit den »Dachbesuchen« auf sich hatte, aber ich hatte oft genug beobachtet, dass Baba so genannte »ernsthafte« Fragen während der Zeiten, die dem Spiel und der Unterhaltung gewidmet waren, nicht zu hören schien oder ignorierte. Außerdem konnte ich nicht völlig ausschließen, dass ich im Begriff war, verrückt zu werden – das wollte ich mir lieber nicht bestätigen lassen … Und – hatte ich nicht immer wieder erlebt, dass meine Zweifel sich auflösten?
Durch Düfte, durch Bilder, die andere teilten, oder sogar durch Baba selbst?