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Buch 1

»Von Maahks und Menschen«

Kapitel 1

Sie nannten ihre Welt ein Paradies und waren auch noch stolz darauf. Das hatte Grek-665½ der Begrüßungsrede des terranischen Botschafters entnommen. Seither versuchte er, beides zu verstehen, sowohl die eigenwillige Bezeichnung »Paradies« als auch die unlogische Gefühlsregung, aber es gelang ihm nur zum Teil.

Sie atmeten giftigen Sauerstoff in einem widerwärtigen Gemisch mit anderen Gasen. Vor langer Zeit hätte kein Maahk es für möglich gehalten, dass auf Sauerstoffwelten überhaupt Leben entstehen konnte. Die Geschichte hatte das Gegenteil bewiesen; die eher schmächtigen Menschen waren sogar eine äußerst gefährliche Spezies. Jedoch hatten sie nichts mit der Gefahr zu tun, die seit kurzem den Sternennebel heimsuchte. Unbekannte Schiffe schlugen zu, wo man sie am wenigsten erwartete, sie töteten, zerstörten und verschwanden so spurlos, wie sie erschienen waren. Es gab keine Hinweise, nicht einmal plausibel klingende Erklärungsversuche.

Der Maahk konzentrierte sich wieder auf die Umgebung. Die Sicht reichte weiter als inmitten von Ammoniak-Methan-Schwaden. Hinter ihm erstreckte sich der Gebäudekomplex der terranischen Botschaft, ein eigenwilliger Baustil, wie er nur auf Welten mit geringer Schwerkraft bestehen konnte. Eine Reihe immergrüner, pyramidenförmig beschnittener Pflanzen schloss freischwebende Wasserfontänen ein und führte zu einem ausgedehnten Park. Alle hier wachsenden Pflanzen stammten von der Heimatwelt der Menschen. Grek-665½ verstand nicht, weshalb sie sich solche Mühe machten, obwohl der Planet Chemtenz selbst ausreichend pflanzliche Substanz besaß. Das war eines der Rätsel, die die Terraner als Forschungsobjekt für ihn interessant machten. Sie vergeudeten Zeit und Energie auf Dinge, die jeglicher logischen Grundlage entbehrten. Lebensqualität nannten sie das.

Botschaftsangehörige musterten ihn mit forschenden Blicken. Der Maahk kannte inzwischen ihre Mimik und vermochte sie einigermaßen zuverlässig auszuwerten. Allerdings hatte er sich auf die fremden Pflanzen konzentrieren wollen und schloss deshalb die rückwärtigen vier Augenlider.

Jemand schrie. Es war ein lauter, klagender Schrei, wie Grek-665½ ihn noch nicht vernommen hatte. Etwas Ungewöhnliches schien vorgefallen zu sein. Er blinzelte mit einem Auge nach hinten. Männer und Frauen deuteten heftig gestikulierend in die Höhe, im nächsten Moment hasteten sie mit allen Anzeichen von Hektik ins Botschaftsgebäude. Grek folgte ihrer Blickrichtung. Das Zentralgestirn hatte den Zenit schon überschritten, Wolken bauschten sich zusammen. Er verstand nicht, was die Terraner erschreckt hatte, zumal ihre beiden einzigen Augen gewiss nicht schärfer waren als seine.

In sechs Stunden war sein Treffen mit dem Kulturattaché vereinbart. Aldus Chamberlain hatte zugesagt, neues holografisches Material über die Geschichte der Menschheit zur Verfügung zu stellen. Obwohl solche Berichte immer ideologisch eingefärbt waren, sah Grek-665½ in ihnen dennoch gutes Informationsmaterial.

Sein Wunsch, den Terranern einmal ohne Schutzanzug gegenüberzustehen, musste aus naheliegenden Gründen unerfüllt bleiben. Dabei hätte ihm gerade das die Möglichkeit eröffnet, sich noch besser in die Menschen hineinzudenken, als es ihm der LemSim bereits ermöglichte.

Grek griff nach einer der Pflanzen. Er spreizte die vier Mittelfinger der rechten Hand und benutzte nur beide Daumen. Die Handschuhsensoren erlaubten ihm ein ungehindertes Tastempfinden.

Als ein schrilles Heulen erklang, hielt er inne.

Das Geräusch schwoll an. Es veränderte die Tonhöhe bis hin zur körperlich wahrnehmbaren Vibration.

Raumalarm!

Für Grek-665½ war das kein Grund zur Eile. Erneut schweifte sein Blick über das Firmament. Er sah nichts, was sein Missfallen erregt hätte, von einem stärker werdenden Gleiterverkehr abgesehen. Rings um die Botschaft wurde es jedoch lebendig. Unzählige Fahrzeuge landeten, andere starteten von den Balkons und Dachterrassen, stiegen steil in den Himmel und entfernten sich schnell.

Auf dem nahen Raumhafen stiegen die ersten Raumschiffe empor, dickbauchige Frachter, die Chemtenz sowie die außenpolitische und militärische Vertretung der Liga Freier Terraner vor allem mit Luxusgütern versorgt hatten. Offenbar bedeutete der Alarm nicht nur eine Routineübung, sondern den Ernstfall. Gleiterpulks umschwärmten die von ihren Antigravtriebwerken in die Höhe gehobenen Raumschiffe wie Mückenschwärme einen Kadaver. Die meisten versuchten noch einzuschleusen. Dass es dabei nicht zu folgenschweren Unfällen kam, war ausschließlich den Leitsystemen zuzuschreiben.

Seit Minuten gellte der Alarm über das Land; Grek-665½ glaubte, dass sogar die Sauerstoffatmosphäre in Schwingungen geraten war. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft auf dem Botschaftsplaneten bot sich ihm die Gelegenheit, die Spezies Homo sapiens unter extremen Bedingungen zu studieren. Kaum fünf Minuten waren seit dem ersten Aufheulen des Alarms vergangen; die nahe Hauptstadt New Dillingen, von den Maahks Nudilink genannt, hatte sich in einen brodelnden Wurmtopf verwandelt. Über den Häuserschluchten hing eine Wolke aus Gleitern und privaten Space-Jets.

Mit einem Lidschlag aktivierte Grek-665½ den Funkempfang seines Schutzanzuges. Auf allen Frequenzen herrschte Chaos. Die Automatik filterte mehrere starke Sender heraus. Zum einen beherrschte der Maahk die Umgangssprache der Terraner gut genug, um wenigstens einen Teil der hektischen Wortwechsel zu verstehen, zum anderen übersetzte sein Translator ins Kraahmak.

»Die Außenstationen melden unbekannte Raumschiffe. Ich sage dir, das sind sie!«

»Gibt es verlässliche Daten, Energiescans, Massewerte?«

»Wer sollte Interesse an Chemtenz haben, wenn nicht die Kastuns?«

»Verdammt! Du weißt, was das bedeutet ...?«

Die Stimme schwieg. Einen Augenblick lang glaubte Grek, den Sender verloren zu haben. Kastuns nannten die Tefroder die Unbekannten, denen seit Wochen Raumschiffe in ganz Andromeda zum Opfer fielen. Wie Schatten kamen sie, schlugen zu und verschwanden. Ihr bevorzugtes Ziel schienen militärische Einheiten zu sein, aber auch von zivilen Opfern war zunehmend die Rede.

Kastuns, das bedeutete übersetzt Schädlinge. Ein treffender Vergleich, fand Grek-665½, wenngleich er selbst noch passendere Worte gefunden hätte.

»Was wollen die Fremden von uns?«, erklang es wieder aus seinem Helmlautsprecher. »Auf Chemtenz sind verflucht wenige Raumschiffe stationiert.«

»Es würde mich nicht wundern, wenn auf der Hälfte des Raumhafens bald Unkraut wuchert.«

»Das ist ein makaberer Scherz. Was ist mit den Frachtern? Und mit dem einzelnen Walzenraumer der Maahks?«

»Du vergisst die privaten Space-Jets und Raumjachten ...«

»Mehr hast du nicht zu sagen?«

»Was willst du hören?«

»Die Wahrheit. Zwei Wochen noch, zwei lausige Wochen, dann ist mein Dienst auf Chemtenz zu Ende, und es geht zurück in die Milchstraße.«

»Daraus wird wohl so schnell nichts. Du solltest froh sein, wenn ...«

»Wenn was?« Die Stimme klang gequält. »Was weißt du, Mann, spuck's endlich aus!«

»In den letzten dreißig Sekunden sind vier Stationen des äußeren Wachrings ausgefallen. Alle Datenkanäle tot.«

»Ich wusste es ... Ich wusste es ... verdammt, verdammt – und jetzt? Wie viele Frachter stehen noch auf dem Landefeld?«

»Vergiss sie. Wenn du schon abhauen willst, flieh in die Berge.«

Ein heiseres Lachen erklang. Grek-665½ bedauerte in dem Moment, dass er sich nur in eine akustische Verbindung eingeschaltet hatte und ihm ein optischer Kontakt verwehrt blieb. Einer der beiden Terraner hatte Zugriff auf brisante Informationen. Irgendwo im Sonnensystem lauerten die Unbekannten. Grek zweifelte nicht daran, dass sie zuschlagen würden. Er empfand die Kastuns als Bedrohung, aber er spürte deshalb weder Panik noch Furcht. Rund 400 Milliarden Sonnen umfasste Andromeda; die Gefahr, mit Kastun-Kriegsschiffen zusammenzutreffen, hatte er rechnerisch als äußerst gering beurteilt. Alles andere war dann nur ein Zufall. Und falls er auf Chemtenz sterben sollte, konnte er wenig daran ändern.

Das Chaos im Luftraum über New Dillingen löste sich nur zögernd auf. Während immer noch Gleiter den Raumhafen anflogen, rasten andere bereits landeinwärts, weg von der Küste und in Richtung Gebirge. Grek-665½ stapfte zur terranischen Botschaft zurück. Er war inzwischen allein, alle Terraner, die sich im Park aufgehalten hatten, waren wohl in die Botschaft zurückbeordert worden.

Mit donnernden Impulstriebwerken rasten zwei Space-Jets über die Stadt hinweg und verschwanden in Richtung Meer hinter aufziehenden Wolken. Ihre Piloten mussten verrückt geworden sein, in der dünnen Atmosphäre mit solchen Beschleunigungswerten zu fliegen. Wie ein flammendes Fanal brannten die Triebwerksemissionen am Himmel nach. Augenblicke später fegte die Druckwelle heran, peitschte mit Urgewalt über den Park hinweg und wirbelte Laub und Dreck vor sich her.

Nach allem, was Grek über die Kastuns gehört hatte, räumte er den Besatzungen der Space-Jets wenig Überlebenschancen ein. Den schwerfälligen Frachtern noch weniger.

Der Pikosyn seines Schutzanzugs meldete eine kodierte Nachricht der Maahk-Vertretung. Er nahm die Verbindung an. Obwohl er im Voraus wusste, was der Kontaktversuch bedeutete: Die Vertretung auf Chemtenz wurde geräumt. Spontan entschied er sich dagegen, den Planeten an Bord des einzigen Walzenraumers zu verlassen. Zum einen, weil er die Chancen auf Flucht realistisch einschätzte, zum anderen, weil er keine bessere Gelegenheit finden würde, das Verhalten der Terraner zu studieren.

Das Sonnenlicht veränderte sich um eine Nuance. Grek-665½ registrierte, dass soeben der Paratron-Schutzschirm aufgebaut worden war. Das bedeutete, dass die Gefahr in greifbare Nähe rückte.

Er betrat die Botschaft. Die Überwachungsanlage ließ ihn passieren, denn der ID-Chip, den er vom Kulturattaché erhalten hatte, wies ihn als bevorzugten Gast des Botschafters aus, und verlieh ihm jede gewünschte Bewegungsfreiheit. Das war nur logisch, fand Grek, solange die Terraner nichts zu verbergen hatten.

Die lichtdurchflutete Transparentkuppel der Eingangshalle hatte sich in ein Konglomerat von Licht und Schatten verwandelt. Er registrierte bauliche Veränderungen, die offenbar erst im Alarmfall in Erscheinung traten. Kampfroboter hatten Position bezogen – ein unnötiges Detail, das die Kastun-Kriegsschiffe gewiss nicht davon abhalten würde, Chemtenz zu besetzen.

Eine knappe, fordernde Armbewegung projizierte ein Zugfeld, das Grek-665½ wie in einem Antigravschacht in die Höhe hob. Der Überwachungssyntron registrierte auch seine nächste Geste mit gewohnter Genauigkeit und setzte ihn auf der Zugangsgalerie ab.

Auch hier Kampfroboter mit aktivierten Abstrahlfeldern. Grek ignorierte die stählernen Kolosse, und sie ließen ihn passieren.

Ein breiter Korridor lag vor ihm. Holografien aus vielen Bereichen der Milchstraße versetzten den unvorbereiteten Besucher in eine andere Welt. Grek-665½ interessierte sich schon nicht mehr dafür. Er verzichtete auf ein Transportfeld und schritt rasch aus. Die seitlich abzweigenden Türen entdeckte er erst aus nächster Nähe. Hinter ihnen lagen die autarken Bereiche der Botschaft, die sich in ihrer Ausstattung mit den Funk- und Ortungszentralen eines großen Raumschiffs messen konnten.

Die Stille auf dieser Ebene der Botschaft war so vollkommen wie immer. Energetische Dämpfungsfelder hielten unerwünschte Nebengeräusche fern. Nur die Geräuschkulissen der jeweiligen Hologrammabschnitte blieben bestehen. Der Maahk schritt geradewegs hinein in das Tosen eines gewaltigen Wasserfalls, schäumende Fluten ergossen sich über kristalline Felsformationen, in denen das Licht mehrerer Sonnen wie auf geschliffenen Diamanten funkelte.

Sein kurzes Innehalten interpretierte die Automatik als Wunsch nach Informationen. »... das planetare Schutzgebiet von Watermark II gilt als eines der überwältigendsten Naturschauspiele der nördlichen Milchstraße. Der Planet ist zugleich eine der bedeutenden Fundstellen für Hypnokristalle und wurde in den Jahren nach seiner Entdeckung systematisch ausgebeutet. Erst eine gesetzliche Regelung ...« Grek-665½ ging weiter. Er fragte sich, weshalb diese unnützen Spielereien nicht abgeschaltet wurden, um in der bestehenden Alarmsituation Energie einzusparen, die besser für die Schutzschirme Verwendung fand.

Hinter ihm öffnete sich ein Schott. Zwei Terraner stürmten in den Korridor und prallten beinahe mit ihm zusammen.

»Mann, was soll das? Was hast du hier zu suchen?«, stieß der eine heftig hervor.

»Sieh zu, dass du dich in Sicherheit bringst. Die Kastuns werden angreifen!«

»Die terranische Botschaft gilt als sicherer Ort«, antwortete Grek.

»Sicher?« Der erste schüttelte ungläubig den Kopf. »Zwölf dieser brennenden Schiffe befinden sich im Anflug auf Chemtenz.«

»Und sie wollen weiß Gott nicht verhandeln!«, rief der andere. »Soeben wurde der Abschuss von zwei Frachtern gemeldet!«

»Das war zu erwarten.« Grek-665½ setzte seinen Weg fort.

»Wohin willst du?«, erklang es hinter ihm.

»Der Botschafter wird mir erschöpfend Auskunft geben können.«

»Der Botschafter hat jetzt andere Sorgen, als sich mit einem Maahk zu unterhalten. Die Evakuierung wurde eingeleitet. Das gesamte Personal muss den gefährdeten Bereich verlassen.«

»Wie lange noch?«, wollte Grek wissen.

»Was – wie lange?«

»Bis die Kastun-Kriegsschiffe Chemtenz erreichen«, fügte der Maahk hinzu. Offenbar waren die beiden Terraner verwirrt, denn seine Frage war klar und prägnant gewesen und hätte keiner zusätzlichen Erläuterung bedurft.

»Fünf Minuten, höchstens. Weißt du, was dann geschieht?« Die Männer hasteten weiter, verschwanden 20 Meter entfernt inmitten eines flackernden Hologramms. Sekunden später zeigte sich der Korridor so nackt und kahl, wie er erbaut worden waren. Endlich wurden alle überflüssigen Energieverbraucher abgeschaltet.

Der Maahk betrat den Empfangssalon des Botschafters. Der halbkreisförmige Raum war verlassen, die Projektion des Solsystems, die der Deckenkonstruktion das Flair des Weltraums vermittelt hatte, war erloschen. Die Panoramaverglasung erlaubte einen ungehinderten Blick auf die Hauptstadt New Dillingen, deren Vororte wie Inseln aus dem Grün der Parkanlagen aufragten. Immer noch hingen Wolken von Gleitern wie ein sich nur langsam verflüchtigender Insektenschwarm über der Stadt.

Hinter Grek-665½ betrat der Kulturattaché den Raum. Sein Gesicht war hektisch gerötet. Mit einer fahrigen Bewegung wischte sich der Terraner den Schweiß von der Stirn. »Grek«, wollte er wissen, »was machst du hier?«

»Ich warte auf den Botschafter.«

»Seine Exzellenz, Mr. Ivanauskas, ist verhindert. Ich empfehle dir, Grek ...« Er stutzte. »Grek-665, wenn ich mich nicht irre.«

»So ist es, Aldus Chamberlain.«

»Treibst du deine Studien nicht ein wenig zu weit, Grek 665?«, fragte der Kulturattaché. »In einer Situation wie dieser solltest du an deine Sicherheit denken. Ich habe erfahren, dass die Maahks ihre Vertretung geräumt haben.«

»Ich fühle mich in der terranischen Botschaft durchaus sicher«, sagte Grek-665½. Eine eigenartige Empfindung baute sich auf, ein Prickeln, das nur mit dem LemSim zusammenhängen konnte, dem LemurEmotio-Simulator. Diese noch experimentelle Cyberware hatte er sich vor kurzem implantieren lassen. Der LemSim war mit seinen wichtigen Nervensträngen verbunden und sollte ihm ermöglichen, menschliche Gefühle zu erfassen und so weit wie möglich nachzuvollziehen. Eine gewisse Veränderung in seiner Denkstruktur hatte er schon festgestellt und sich deshalb den inoffiziellen Namen Grek-665½ gegeben. Noch wusste niemand außer ihm selbst davon, und gerade das erfüllte ihn mit einer Anspannung, die ihm früher fremd gewesen war. Ein deutlicheres Anzeichen dafür, dass der LemurEmotio-Simulator die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte, konnte er sich nicht wünschen. Der Zusatz ½ im Namen stand für den künstlichen, nachempfundenen menschlichen Teil. Oder für das, was daraus noch werden sollte. Grek-665½ empfand sich selbst als Forscher, als jemand, der endlich in Angriff nahm, was schon sehr lange hätte getan werden sollen. Nach einer Zeit erbitterter Kriege waren Maahks und Menschen zu Freunden geworden, aber wirklich verstehen konnte einer den anderen noch nicht. Dazu waren ihre Lebensgewohnheiten zu verschieden.

Der Kulturattaché ließ die Frage nach der Sicherheit unbeantwortet. »Seine Exzellenz hat entschieden, die Botschaft von Chemtenz zu evakuieren«, sagte er.

Grek-665½ verschränkte beide Arme vor der Brust. Unruhig stieß er die Tentakelfinger aneinander. Das war eine Geste, die er in den letzten Tagen den Terranern abgeschaut hatte. »Die Menschen fliehen vor der Gefahr?«

»Wir ziehen uns nur zurück.« Der Kulturattaché warf einen ungeduldigen Blick auf sein Armbandgerät; ihm lief allmählich die Zeit davon. »Wir nehmen an, dass die Kastuns der Botschaft wegen kommen und nicht den gesamten Planeten angreifen werden. Wir müssen wenigstens eingeschränkt handlungsfähig bleiben.«

»Sie haben logische Gründe dafür?«, wollte Grek-665½ wissen. Zugleich wurde ihm bewusst, dass er mit dieser Frage die Grenze der Höflichkeit überschritten hatte. »Verzeihung, Aldus Chamberlain. Ich wollte die Entscheidung des Botschafters natürlich nicht kritisieren, sondern ...«

»... logisch hinterfragen.« Der Kulturattaché wirkte ungeduldig. »Begleite mich, wenn du mit mir reden willst, Grek. Unsere Schiffe starten in Kürze. Das Botschaftspersonal geht über Transmitter an Bord.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er auf dem Absatz kehrt. Erst auf dem Korridor überzeugte er sich davon, dass ihm der Maahk tatsächlich folgte.

»Ich wusste, dass du vernünftig sein würdest, Grek-665«, sagte Chamberlain.

»Was ist vernünftig?«

Der Kulturattaché zeigte ein gequältes Lächeln. »Ich weiß nicht, weshalb wir das ausgerechnet jetzt erörtern müssen, aber das bedeutet ungefähr so viel wie ... sich den Notwendigkeiten beugen.«

»Vernünftig sein ist also, logisch zu handeln«, stellte Grek-665½ fest.

Chamberlain antwortete nicht. Vorübergehend kommunizierte er über sein Armbandgerät. Der Maahk konnte nicht verstehen, mit wem oder worüber er sich unterhielt. Zugleich beschleunigte der Kulturattaché seine Schritte weiter.

»Die Kastun-Schlachtschiffe reagieren nicht auf Funkanrufe«, sagte er zögernd. »Die diplomatische Immunität der terranischen Gesandtschaft interessiert sie offenbar einen feuchten Dreck. Und zur Milchstraße haben wir längst keine Hyperfunkverbindung mehr. Wir wissen nicht, was geschehen ist, aber schon vor Tagen traten die ersten augenfälligen Störungen auf. Dabei glauben wir nicht, dass nur die Relaisverbindungen ausgefallen sind, es muss sich um etwas Gravierenderes handeln.«

»Die Kastuns leisten ganze Arbeit«, erkannte Grek-665½. Dafür erntete er einen überraschten Augenaufschlag Chamberlains.

»Ich habe noch keinen Maahk kennen gelernt, der unsere Redewendungen so gut beherrscht«, sagte der Kulturattaché.

Der Raum, den sie gleich darauf betraten, war durch Energiesperren gesichert. Grek-665½ registrierte, dass die Mentalschwingungen seines Begleiters überprüft wurden.

Vor ihnen erhob sich ein Personentransmitter einer Bauart, die ihm bislang fremd war. Dieses Gerät schien ortungstechnisch besonders abgesichert zu sein. Das Entstofflichungsfeld leuchtete in tiefem Grün. Mehrere Dutzend Männer und Frauen warteten bereits darauf, das Feld zu durchschreiten und an Bord eines der startenden Raumschiffe zu gelangen.

»Die METTERNICH und die CARTER haben soeben die Atmosphäre verlassen«, sagte Chamberlain unaufgefordert. »Wir begeben uns an Bord der TALLEYRAND, auf der ich das Kommando übernehme. Noch Fragen dazu, Grek-665? Ich hoffe, dass wir in wenigen Tagen nach Chemtenz zurückkehren können.«

Nur noch fünf Personen standen vor ihnen, als Chamberlain zur Seite trat und den Maahk mit einer knappen Handbewegung aufforderte, den Transmitter zu benutzen. »Noch bin ich der Hausherr, Grek, und ich verlasse die Botschaft als letzter.«

»Ich bleibe!«, widersprach Grek-665½ völlig unerwartet. »Ich gehe nicht an Bord des terranischen Raumschiffs.«

»Aber ...«

»Mein Entschluss steht fest.«

Nur mehr zwei Personen warteten vor ihnen. Chamberlain verzog die Mundwinkel zu einem säuerlichen Lächeln. »Was willst du, Grek? Ich glaube, der Angriff der Kastuns kommt dir wie gerufen. Aber die Botschaft ist nicht mehr sicher, nicht einmal für einen Maahk. Davon abgesehen, wirst du keinen Zugriff auf wichtige Daten erhalten. Jeder schützt seine Geheimnisse so gut er kann, und wir müssen damit rechnen, dass die Kastun-Besatzungen Informationen sammeln wollen. Deshalb fliegen sie Chemtenz an. Der Planet hat keine eigene Industrie, keine nennenswerten Bodenschätze und schon gar keine Kriegsflotte. Hier gibt es nichts anderes zu holen als Daten über die Milchstraße.«

»Mich interessieren die Unbekannten, denen unsere Raumschiffe bislang so wenig entgegenzusetzen hatten«, sagte Grek-665½ emotionslos. »Ich will sie sehen.«

Der Kulturattaché bedachte ihn mit einem überraschten Augenaufschlag. »Ist das Neugier?«, fragte er verblüfft.

Der Maahk zögerte mit der Antwort. Auch das überraschte Chamberlain. Doch es gab dringendere Probleme als das ungewöhnliche Verhalten eines Methanatmers.

»Es ist zwingend notwendig, den Gegner zu kennen«, bemerkte Grek-665½. »Schlachten wurden deshalb schon gewonnen oder verloren.«

Ich glaube nicht, dass uns eine solche Auseinandersetzung bevorsteht, wollte Chamberlain sagen, überlegte es sich im letzten Moment aber anders. »Wir wollen die Milchstraße erreichen«, erläuterte er stattdessen. »Wenigstens mit einem der drei Schiffe. Die Liga Freier Terraner muss erfahren, was in Andromeda geschieht. Vielleicht bahnt sich eine Gefahr an, der wir rechtzeitig und mit aller Härte begegnen müssen.« Unmittelbar vor dem Transmitterfeld streckte er dem Maahk die rechte Hand entgegen. »Ich wünschte, wir hätten noch Funkkontakt über die Relaisbrücke. Dann kämen wir erst gar nicht in den Verdacht, Chemtenz schmählich im Stich zu lassen. Aber wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir vielleicht nie wieder dazu in der Lage sein.«

Grek-665½ ergriff die ihm dargebotene Hand und umschloss sie mit seinen sechs Fingern. »Ich gestehe ein, Aldus Chamberlain, dass ich mich fast täuschen ließ. Du weißt mehr, als du zuzugeben bereit bist, aber du handelst wie ein Maahk. Du setzt dein Leben und das deiner Untergebenen für das Wohl der Gemeinschaft ein. Möge der große Kraah auf deiner Seite stehen und euch beschützen.«

Ein durchdringender Summton erklang, zugleich umfloss ein rotes Leuchten Chamberlains Armbandgerät. »Es wird Zeit für mich«, bemerkte er knapp. »Du kannst die Botschaft ungehindert verlassen, Grek, dein ID-Chip wird dir im Paratronschirm eine Strukturlücke frei schalten. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.«

Mit einer schnellen Drehung und einem einzigen Schritt durchbrach Aldus Chamberlain das Entstofflichungsfeld, das Augenblicke nach seinem Durchgang flackernd erlosch. Sekundenlang betrachtete Grek-665½ noch den Transmitter, dann wandte er sich ab. Noch war es für ihn zu früh, die terranische Botschaft zu verlassen.

Die Informationen über den Feind blieben spärlich. Nur eines kristallisierte sich heraus: Wo immer Kastuns auf Raumschiffe anderer Völker trafen, sprachen ihre Waffen. Und die waren von einer Vernichtungskraft, dass bislang weder Maahks noch Tefroder eine Chance auf realistische Gegenwehr gehabt hatten.

Grek-665½ glaubte deshalb nicht daran, dass er den Kulturattaché Chamberlain je wiedersehen würde.

Perry Rhodan: Andromeda (Sammelband)

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