Читать книгу Perry Rhodan: Andromeda (Sammelband) - Uwe Anton - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
Das Vorrecht der Jugend
LEIF ERIKSSON, Bordzeit 6. März 1312 NGZ
»Du willst ... was?«, sagte Pearl TenWaver.
Die Kommandantin der LEIF ERIKSSON stammte von Epsal, dem zweiten Planeten der Sonne Vono mit einer Schwerkraft von 2,15 Gravos. Als Bewohnerin der Schwerkraftwelt, die im 21. Jahrhundert alter Zeitrechnung von Menschen besiedelt worden war, besaß Pearl eine so genannte Kompaktkonstitution: Sie war nur knapp eineinhalb Meter groß, aber fast ebenso breit. Das weibliche Geschlecht war bei ihr so gut wie überhaupt nicht zu erkennen.
Schon seit Tausenden von Jahren stellten Epsaler hervorragende Raumfahrer auf den Schiffen der Solaren Flotte, und Pearl TenWaver zählte zu den besten davon.
Rhodan kannte sie gut genug, um zu bemerken, dass sie trotz ihrer äußerlichen Ungerührtheit fassungslos war, und er konnte es ihr kaum verdenken. Wahrscheinlich fragte sie sich jetzt, ob er noch bei Sinnen war.
Diesen Eindruck würde er wohl ganz allgemein erwecken. Niemand, der Kiriaade nicht gehört hatte, würde verstehen, was ihn umtrieb.
»Du willst mit der JOURNEE das Sternenfenster verlassen und ...« Die Epsalerin verstummte und schüttelte den Kopf.
Rhodan schätzte ihre fachlichen Qualitäten. Sie war die beste ihres Jahrgangs an der Raumfahrerakademie von Terrania gewesen.
»Vor wenigen Stunden hat sich ein Wesen namens Kiriaade mit einem eindringlichen Hilferuf an mich gewandt«, wiederholte er. »Ich beabsichtige, diesem Ruf Folge zu leisten. Aufgrund der militärischen Situation am Sternenfenster werde ich allerdings nicht mit der LEIF ERIKSSON fliegen, sondern mit der JOURNEE.«
Pearl dachte wie eine Raumschiffkommandantin. Wie jemand, der seinen Fachbereich absolut unter Kontrolle, aber keine Vision hatte. Rhodan gestand es sich nicht gern ein, aber in diesem Augenblick wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass er anders war.
»Aber du kannst doch nicht ... hier einfach ...« Sie sprach es nicht aus. Verschwinden.
Doch, er konnte es, und er würde es. Er seufzte unmerklich. Ja, seine Erklärung war mehr als dürftig, eigentlich hanebüchen, an den Haaren herbeigezogen. Niemand, der Kiriaade nicht erlebt hatte, würde ihn verstehen.
Aber er hatte sie erlebt. Und er musste handeln. »Ich habe soeben mit dem Generalstab konferiert«, sagte er. »Wir haben dem Reich Tradom eine militärische Niederlage zugefügt und die gegnerische Flotte vernichtend geschlagen. Das Sternenfenster gehört uns ...«
Pearl TenWaver seufzte. Er hatte den Eindruck, dass sie ihn für verwirrt hielt, vielleicht sogar für liebeskrank. Hatte er sich in eine irreale Erscheinung verliebt? Sie nahm ihn in diesem Augenblick nicht ganz ernst, und das schmerzte ihn.
»Aber das wird nicht endlos lange so bleiben. Die gegnerische Flotte ist am Sternenfenster präsent, fliegt ständig Patrouille. Sie wird auf Dauer die militärische Lage am Sternenfenster nicht ignorieren können.«
»Das ist mir klar. Aber unsere Strategen gehen davon aus, dass sie Wochen, wenn nicht sogar Monate, brauchen werden, um sich von diesem Schlag zu erholen. Außerdem muss die JOURNEE unter ernsthaften Bedingungen getestet werden.«
Pearl sah ihn an. Er verstand, dass sie an ihm zweifelte, doch sie musste auch den Blick seiner Augen einschätzen können. Und der war keineswegs verschleiert, sondern völlig klar.
»Unter ernsthaften Bedingungen, ja.« Pearl TenWaver war gut in ihrem Job. Um ein Raumschiff kommandieren zu können, bedurfte es manchmal einer messerscharfen Logik. »Aber nicht unbedingt mit dem Terranischen Residenten und Oberbefehlshaber der Flotte an Bord.«
Er lächelte schwach. »Oh, keine Bange.« Er bedauerte plötzlich, dass er sie nicht vorab informiert hatte. Wenn er jetzt nicht sehr diplomatisch vorging, würde sie sich ausgetrickst vorkommen, wenn nicht sogar vorgeführt. »Die Flotte der LFT wird einen Oberbefehlshaber vor Ort haben. Dafür habe ich selbstverständlich gesorgt.«
Er räusperte sich – das vereinbarte Stichwort. Die Tür des kleinen Konferenzraums glitt auf, und Julian trat ein. Er hatte das Gespräch im Nebenraum über ein Holo verfolgt.
Einer seiner ältesten Freunde und Weggenossen. Einer, der nur selten in den Vordergrund trat, aber auf den er sich einhundertprozentig verlassen konnte.
Julian Tifflor, Außenminister der Liga Freier Terraner, seit Jahrtausenden einer von Rhodans engsten Freunden.
Pearl TenWaver ließ sich nichts anmerken. Die fast so breite wie große Epsalerin hatte sich wieder vollständig in der Gewalt und schaltete sehr schnell. »Residenz-Minister«, sagte sie und nickte knapp.
Rhodan hatte Gespräche geführt. Er hatte, als ihm klar wurde, dass er auf jeden Fall nach Kiriaade suchen würde, Vorsorge getroffen. Kiriaade mochte ihn bis in die Grundfasern seines Seins beeindruckt haben, aber er hatte eine wichtige Position inne, und er hatte Pflichten, die er nicht vernachlässigen durfte.
Trotzdem hatte er sich Pearl TenWaver gegenüber nicht richtig verhalten. Er hatte ihr ihre Grenzen aufgezeigt, und wenn er nun in Ruhe darüber nachdachte, kam ihm das etwas unfair vor.
»Kommandantin.« Tiff ließ sich nichts anmerken. Der Residenz-Minister für Außenpolitik war auf Terra gewesen, hatte aber sofort zugestimmt, als Perry Kontakt mit ihm aufgenommen und ihn um Hilfe gebeten hatte.
Rhodan hatte auch keine Sekunde lang daran gezweifelt.
Tiff setzte sich neben ihn. »Damit dürften deine Einwände endgültig ausgeräumt sein«, sagte Rhodan mit ausdruckslosem Gesicht.
Plötzlich kam er sich schäbig vor. Aber sie wird meine Entscheidung akzeptieren müssen.
Er hatte Tiff über die interstellaren Funknetze zum Sternenfenster gebeten und informiert. Sie hatten sich bei der Begrüßung umarmt, wie schon so oft in ihrem Leben, wenn sie länger getrennt gewesen waren.
Tiff lächelte zurückhaltend, fast schüchtern. Er wusste mit Menschen und anderen Wesen umzugehen.
»Ich nehme an, dein Entschluss steht fest?«
Sie versteht es wirklich nicht, dachte Rhodan. »Allerdings«, sagte er laut.
Die Kommandantin der LEIF ERIKSSON sah Tifflor an, doch bevor sie etwas sagen konnte, wandte der Außenminister sich an sie. »Würdest du mich bitte kurz instruieren, Pearl? Ich bin zwar über die allgemeine Lage informiert, aber wenn du mich an deiner Erfahrung vor Ort partizipieren lässt, könntest du mir bestimmt jede Menge Arbeit ersparen.«
Freundschaft, dachte Rhodan. Das ist wahre Freundschaft. Tiff versteht es auch nicht, vertraut mir aber absolut.
Die Epsalerin seufzte. Sie durchschaute Tiffs Schachzug, konnte aber nicht darauf reagieren. »Gern, Außenminister.«
Rhodan erhob sich. Er fragte sich, ob die anderen nicht Recht hatten. Ob Kiriaade nicht doch eine fixe Idee war, ein Traumgespinst, eine Falle.
Aber sie hatten Kiriaade nicht erlebt. Er wandte sich an die Kommandantin. »Es freut mich, dass ich deine Befürchtungen zerstreuen konnte, Pearl. Ich bin überzeugt, bei meiner Rückkehr wird die Lage sich nicht wesentlich geändert haben.«
Er hatte den Eindruck, dass die Epsalerin sich ein gezwungenes Lächeln abzwang. »Natürlich, Resident.«
Rhodan atmete erleichtert auf. Eine Hürde war genommen.
Doch er hatte keinen Zweifel daran, dass alle anderen seine Handlungsweise als zumindest ... seltsam empfinden würden.
Aber er vertraute seinen Instinkten.
Er war fast 3000 Jahre alt. Jedes einzelne Pochen des lebensverlängernden Zellaktivators erinnerte ihn daran.
Er hatte 3000 Jahre lang überlebt.
Seine Instinkte konnten so falsch also nicht sein.
»Die JOURNEE«, sagte Kommandantin Coa Sebastian. Die Terranerin verzog keine Miene, nur ihre dunkelbraunen Augen schienen zu leuchten.
Vor Stolz?, dachte Perry Rhodan. »Das Schiff ist startklar?«
»Jawohl, Resident.« Die Kommandantin des Spürkreuzers zögerte kurz, schien abzuwägen, ob sie von sich aus sprechen oder auf weitere Anweisungen warten sollte. »Ich gehe davon aus, dass du über das Schiff und seine technischen Daten informiert bist?«, fragte sie schließlich.
Rhodan lächelte schwach. Ja, die 46-jährige war stolz auf ihr Schiff.
Natürlich war er über die technischen Daten informiert, auch wenn die JOURNEE erst am gestrigen Tag an die LEIF überstellt worden war.
Die offizielle Kennzeichnung des Beiboots lautete LE-KR-60. Die JOURNEE war ein Spürkreuzer, hergestellt als Spezialeinheit, die in der Lage war, im extremen Geschwindigkeitsbereich fremde Schiffe durch den Hyperraum zu verfolgen. Der Raumer war neben den anderen dieser Baureihe das derzeit schnellste Schiff der LFT. Mit dem regulären Metagrav-Triebwerk erreichte er einen Faktor von 90 Millionen Überlicht, mit dem Grigoroff-Triebwerk einen von 200 Millionen, aber nur über eine maximale Etappendistanz von 30.000 Lichtjahren.
Der Resident beschloss, der Kommandantin den Gefallen zu tun. »Es wäre vielleicht ganz ratsam, die wichtigsten Fakten noch einmal zusammenzufassen.«
Das Schiff war einer von insgesamt vier Kreuzern, die in dem strukturvariablen Hangar untergebracht waren. Roboter und Techniker nahmen letzte Wartungsarbeiten an dem Kugelraumer vor. In dem künstlichen Licht schimmerte seine Hülle im rötlichen Blau der Ynkelonium-Terkonit-Legierung.
»Die JOURNEE ist ein Spürkreuzer auf der Basiszelle einer MERZ-VESTA mit einem Durchmesser von einhundert Metern«, vernahm Rhodan Coa Sebastians Stimme. »Sie weist eine typische Triebwerksbestückung mit jeweils vier Haupt- und Neben-Metagrav-Triebwerken, ebenso vielen Gravojettriebwerken, NUG-Protonenstrahl-Impulstriebwerken – mit einer Beschleunigung von 1330 Kilometern pro Quadratsekunde – und Antigravaggregaten auf. Im Andockmodul ist zusätzlich das Grigoroff-Triebwerk mit zwei separaten Hochleistungs-Gravitrafspeichern untergebracht. Hier ist eine externe Flutung notwendig, die Speicherfüllung reicht für maximal fünf Etappen bei einem Faktor von zweihundert Millionen.«
Rhodan nickte versonnen. Die JOURNEE war eine Neukonstruktion, ein Schiff mit dem Schwerpunkt auf Geschwindigkeit und Ortung. Er ließ den Blick über die Wölbung gleiten. Selbst das spezielle Triebwerksmodul sah aus wie bei jedem anderen Beiboot dieser Kreuzerbaureihe, ein kugelförmiges Kleinraumschiff, das man jedoch nicht unterschätzen sollte.
Wenn Rhodan an das Beiboot des Arkonidenraumers dachte, den er damals auf dem Mond entdeckt hatte, vor fast 3000 Jahren ...
Er seufzte leise, fühlte das gleichmäßige Pulsieren seines Zellaktivators. Auch wenn die aktuelle Technologie der Terraner zum größten Teil auf der anderer Völker basierte, die sie adaptiert und weiterentwickelt hatten ... in diesen 3000 Jahren hatten sie Großes geleistet.
»Die Energieversorgung erfolgt durch einen neu entwickelten Multi-Hyperzapfer«, fuhr Coa Sebastian unbeeindruckt von der geistigen Abwesenheit eines relativ Unsterblichen fort, »durch zwei NUG-Schwarzschild-Reaktoren und Fusionsmeiler zur Notversorgung. Die Schutzschirme zählen zum Besten, was die LFT derzeit zu bieten hat, ein fünffach gestaffelter Paratronschirm, ein ebenso oft gestaffelter HÜ-Schutzschirm sowie die üblichen Prallschirme. Selbstverständlich verfügt die JOURNEE auch über einen Virtuellbildner.«
Virtuellbildner, dachte Rhodan. Dieses Gerät sammelte über ein Feld die energetischen Streuimpulse, die von den Maschinen und sonstigen technischen Gerätschaften eines Schiffes ausgingen, um sie dann an einen bis zu drei Lichtjahre weit entfernten Ort zu projizieren. Dort entstand dann ein virtuelles Ortungsbild des Schiffes, von dem sich die gegnerischen Ortungsgeräte verwirren lassen sollten.
Als er vor fast 3000 Jahren mit dem Beiboot des Arkonidenraumschiffs vom Mond zur Erde geflogen war, hatte er sich gefreut, per Handsteuerung einen direkten Kurs bestimmen zu können, ohne mühsam unendliche Zahlenkolonnen in einen damals im Prinzip schon überholten Computer eingeben zu müssen.
Doch, in diesen drei Jahrtausenden hatte sich einiges getan.
»Hervorzuheben ist die Ortungssonderausstattung der JOURNEE«, vernahm er Coa Sebastians Stimme. »Der Kreuzer verfügt über einen Hyperraumspürer, ein dem früheren Halbraumspürer vergleichbares Gerät, das die Ortung und Anpeilung anderer Raumschiffe im Hyperraum und damit auch eine direkte Verfolgung ermöglicht.«
Rhodan hatte sich über die neu entwickelten Spürkreuzer informiert. Eins der ersten einsatzfähigen Modelle hatte während der zwei Jahre dauernden Testphase der Baureihe ein feindliches, Spionage betreibendes Raumschiff verfolgt. Damals waren diese Kreuzer noch so geheim gewesen, dass die Besatzungsmitglieder nicht einmal ihre wirklichen Namen gekannt hatten.
»Die Bewaffnung besteht aus zwanzig MVH-Geschützen, die wahlweise im Thermo-, Desintegrator-, Intervall-, Paralyse- oder KNK-Modus abzufeuern sind, und acht leichten Transformkanonen mit einer Sprengkraft von jeweils bis zu eintausend Gigatonnen bei Verwendung von Überladungs-Gravitraf-Bomben.«
Hoffentlich werden wir darauf nicht zurückgreifen müssen, dachte Rhodan.
»An Beibooten verfügt die JOURNEE über acht Kleinst-Space-Jets sowie zwei Shifts. Zusätzlich befinden sich im Roll-on-Roll-off-Hangar noch zwei Dreißig-Meter-Space-Jets.«
Der Resident atmete tief durch. Er hatte den Eindruck, eine gute Wahl getroffen zu haben. Ein Schiff auf dem Höchststand der derzeitigen Technik, dessen Ausstattung das Schwergewicht weniger in den offensiven als in den defensiven Bereich legte.
»Die Besatzung ist vollständig an Bord«, fuhr die Kommandantin fort. »Wir sind startklar.«
»Start in fünfzehn Minuten«, sagte Rhodan. Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als ihn wieder dieses Gefühl beschlich.
Er kannte es sehr gut. Es stellte sich vor jeder Mission ins Unbekannte ein, die er antrat. Es waren immer wieder ähnliche, wenn nicht sogar dieselben Fragen, die sich ihm stellten und die er sich stellte.
Eigentlich ganz banale Überlegungen, denen wohl jeder Mensch nachhing. Was würde ihn erwarten? Welchen Gefahren musste er begegnen, aber auch: Welche Wunder würde er sehen? Die Vielfalt der Schöpfung war unermesslich, sowohl in der einen, als auch in der anderen Hinsicht. Und Kiriaades Aussagen legten nahe, dass er bei dieser Reise vom einen wie vom anderen mehr als genug erleben würde.
Diesmal war das Gefühl der Ungewissheit, aber auch der Erwartung so stark wie selten zuvor.
Rhodan nickte entschlossen und betrat die JOURNEE.
Tess Qumishas Blick glitt über die Gesichter der Personen in der Zentrale der JOURNEE. Ihre Wahrnehmung blieb auf das Sehen beschränkt. Sie sah nur Gesichter. Oberflächen, bloße Hüllen. Nichts dahinter, nichts darunter.
Nach all den Jahren machte ihr das noch immer zu schaffen. Nicht ständig, aber hin und wieder, bei besonderen Gelegenheiten, wenn sie einmal Atem schöpfen, alles etwas ruhiger angehen lassen konnte. In diesen Augenblicken kam sie sich dann beraubt vor, ja fast verkrüppelt.
Sie bezweifelte, dass irgend jemand dieses Gefühl nachvollziehen konnte, und wenn sie es ihm noch so lange erklärte. Mit Ausnahme von Benjameen vielleicht, der selbst ein Mutant war und ihr näher stand als jeder andere Mensch. Sie hatte ihn einmal gefragt, ob er sich vorstellen könne, seine Gabe des Zeroträumens zu verlieren, und er hatte sie zuerst verständnislos angesehen. Dann dämmerte ihm jedoch allmählich, was sie meinte, und er hatte das unverhohlene Entsetzen in seinem Blick nicht verbergen können. »Ich käme mir vor wie tot«, hatte er gesagt und sie in den Arm genommen und ganz fest an sich gedrückt.
»Ja«, hatte sie geflüstert. »Ja. Wie tot.«
Ihr Blick glitt über die Gesichter, und sie konnte versuchen, den jeweiligen Ausdruck darauf zu deuten, das Mienenspiel zu lesen. Mehr nicht. Alles andere blieb ihr verborgen.
Rhodan wirkte ein wenig entrückt, fast verwirrt, als könne er selbst noch nicht so ganz glauben, wie ihm geschah.
Benjameen saß leicht verkrampft da. Tess kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er überaus angespannt war. Ihn beschäftigte, dass er trotz seiner paranormalen Begabung keinen Zugriff auf Rhodans ... Visionen bekam.
Von Zim November konnte sie nur das Kinn sehen, der Rest seines Kopfes wurde von der SERT-Haube bedeckt. Der junge Emotionaut saß kerzengerade da, ein Anzeichen für seine Konzentration. Er steuerte den Kreuzer nach Rhodans Kursanweisungen, wobei nur der Resident selbst den Ruf wahrnehmen konnte, dem er folgte.
Coa Sebastian, die Kommandantin, kam Tess kühl und zurückhaltend vor. Fachlich hochkompetent, menschlich aber eher kalt. Tess hatte sie in den wenigen Stunden ihrer Bekanntschaft noch nie lachen, ja nicht einmal lächeln sehen. Ihre Miene konnte sie überhaupt nicht deuten.
Cita Aringa, die Plophoserin, die aufmerksam ihre Funk- und Ortungsinstrumente beobachtete, schien ausgeglichen und ruhig zu sein. Sie war schweigsam und fast so zurückhaltend wie die Kommandantin, stets freundlich, dabei aber auch unverbindlich.
Tess sah ihre Gesichter und fragte sich, was sie dachten.
Früher hätte sie es nicht fragen müssen. Früher hätte sie es gewusst.
Tess Qumisha war Monochrom-Mutantin gewesen. Sie hatte von Geburt an die Welt nur schwarzweiß wahrnehmen können. Ihre Fähigkeit war die der Telepathie gewesen; sie hatte in den Gedanken ihrer Mitmenschen und anderer Wesen lesen können wie in offenen Büchern.
Und das konnte sie jetzt nicht mehr. Ein Monochrom-Mutant war nicht nur unfruchtbar, er hatte auch ein Todesgen in sich getragen, das normalerweise irgendwann aktiv wurde und dem Leben ein vorzeitiges Ende bereitete. Eine Operation hatte sie gerettet und ihr auch die Fähigkeit gegeben, farbig sehen zu können. Zu einem hohen Preis: auf Kosten ihrer Parafähigkeiten.
Als Tess aus der Narkose erwacht war, hatte sie geglaubt, sie sei plötzlich taub und blind zugleich geworden. Wie sollte sie diesen Verlust beschreiben? Den Verlust eines Sinnes, über den andere Menschen gar nicht verfügten, den sie sich nicht vorstellen konnten? Was machte es schon aus, wenn man plötzlich keine Gedanken mehr lesen konnte? Die anderen konnten es schließlich ja auch nicht.
Es war sinnlos gewesen, mit ihnen darüber zu sprechen. Sie hatten sie nicht verstanden.
Tess machte niemandem einen Vorwurf. Vielleicht waren die anderen insgeheim sogar froh darüber, dass sie keine Gedanken mehr lesen konnte. Vielleicht hatten sie sich vor dieser Fähigkeit ein wenig gefürchtet, waren ihr zumindest mit Misstrauen begegnet.
Aber es war still geworden um sie herum. Das leise Wispern war verschwunden, das sie ihr ganzes Leben lang vernommen hatte, das Flüstern im Hintergrund, die Geräuschkulisse, an die sie sich so sehr gewöhnt hatte, dass sie laut aufgeschrien hatte, als sie erwachte und sie auf einmal verschwunden war.
Sie hatte gewusst, dass sie ihre telepathische Fähigkeit verlieren würde, es hatte keine Alternative zu der Operation gegeben, nur den Tod, und sie hätte Benjameen nicht allein zurücklassen können. Sie wollte ihr Leben nicht aufgeben, hatte daran gehangen. Aber jetzt ...
Wenn die Stille ganz tief wurde, wenn sie von ihr erdrückt zu werden schien, wenn sie wieder einmal an ihr verzweifelte, dann fragte sie sich gelegentlich, ob sie damals die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Sie brauchte nur Benjameen anzusehen, um die Antwort darauf zu kennen.
Und es hatte ein Leben nach dem Tod der fremden Stimmen in ihrem Kopf gegeben. Mit Bens Hilfe hatte sie die Ausbildung zur Hochfrequenz-Energietechnikerin abgeschlossen und dann Hyperphysik studiert. Und sie war bestimmt nicht schlecht in ihrem Job, sonst hätte Rhodan ihr nicht die wissenschaftliche Leitung der Expedition übertragen. Der Resident wusste da genau zu unterscheiden. Sicher, er hätte sie mitgenommen, weil Benjameen sie vielleicht brauchte, aber wenn er ihr in dieser Hinsicht nicht vertraute, hätte er einen anderen Wissenschaftler an Bord geholt.
»Perry!« Coa Sebastians Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Die Kommandantin ließ eine Holoprojektion in der Mitte der Zentrale entstehen. Es zeigte eine schematische Darstellung der Milchstraße, durch die sich ein roter Strich zog – der Kurs der JOURNEE. Der Sektor Hayok lag schon weit hinter ihnen. Bei dem Flug mit einem Überlichtfaktor von 80 Millionen, den Rhodan angeordnet hatte, legte die JOURNEE über zweieinhalb Lichtjahre in der Sekunde zurück – etwa 9000 in der Stunde!
Rhodan schien die Kommandantin nicht gehört zu haben. Er saß noch immer völlig geistesabwesend da, starrte ins Leere, schien auf etwas zu lauschen, das nur er wahrnehmen konnte.
Die ehemalige Telepathin betrachtete das Holo.
Der Sektor Hayok befand sich etwa 2150 Lichtjahre oberhalb der Milchstraßen-Hauptebene. Rhodans leisen, fast geistesabwesend gemurmelten Anweisungen folgend, hatte Zim November einen Kurs leicht »schräg nach unten« in Richtung Nordwest-Rand der Milchstraße gesetzt. Sie hatten im Überlichtflug mehrere bekannte und bedeutende Welten passiert, darunter auch den von Terranern besiedelten Planeten Epsal.
Immer wieder war die JOURNEE in den Normalraum zurückgefallen, und Perry Rhodan hatte anscheinend ins All hinaus gelauscht und dann den Kurs bestätigt – eine gerade Linie in den Nordwest-Quadranten der Milchstraße. Bei einem dieser Stopps hatte Tess schon befürchtet, Arkon sei Rhodans Ziel, doch der Kugelsternhaufen Thantur-Lok lag etwa 20.000 Lichtjahre über der Hauptebene.
»Kurs beibehalten«, hatte der Resident gesagt. »Auf Überlicht gehen, Faktor wie gehabt achtzig Millionen.«
Ein weiterer Stopp, und noch einer, und nun fiel die JOURNEE aus einer weiteren Metagrav-Überlichtetappe in den Einsteinraum zurück. Tess musste keinen zweiten Blick auf das Holo werfen, um zu wissen, wieso die Kommandantin nun das Gespräch mit dem Residenten suchte.
»Perry«, wiederholte Coa Sebastian. Ihre Stimme klang belegt, fast sogar etwas besorgt. Rhodan reagierte noch immer nicht.
Worauf haben wir uns eingelassen?, fragte sich Tess. Ist der Resident überhaupt noch zurechnungsfähig?
Aber Benjameen hatte zweifelsfrei bestätigt, dass da irgendetwas gewesen war. Eingebildet hatte Rhodan sich die Begegnung nicht, so viel stand fest.
»Perry?«, wiederholte die Kommandantin. »Kannst du uns mittlerweile etwas über das Ziel unseres Flugs sagen? Wohin geht die Reise?«
Rhodan zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, sagte er. Tess kam seine Antwort hilflos vor.
Coa Sebastian kniff die Augen zusammen. »Aber du bist dir sicher ...« Sie verstummte mitten im Satz. Immerhin sprach sie mit dem Terranischen Residenten.
Mit einem Mann, dachte Tess, der während einer militärisch kritischen Situation am Sternenfenster seine Flotte zurück lässt, um einem ... Auch sie führte den Gedanken nicht zu Ende. Aus irgendeinem Grund war ihr der Begriff Hirngespinst in den Sinn gekommen.
Aber das hatte Rhodan nicht verdient. Seine Instinkte hatten ihn immer sicher geleitet. Tess war überzeugt, dass Rhodan glaubte, richtig zu handeln. Dass er vielleicht gar nicht anders handeln konnte.
Plötzlich bedauerte sie ihr Misstrauen.
Der Resident straffte sich. »Ja«, sagte er, und diesmal klang seine Stimme so energisch, wie alle anderen sie kannten. »Die JOURNEE hatte den Hangar der LEIF ERIKSSON kaum verlassen, als ich schon wieder Kiriaades Gegenwart wahrnahm.«
»Kannst du das etwas ... spezifizieren?«
»Es ist kein konkreter Kontakt. Am ehesten könnte man es als eine Art unsichtbaren Faden beschreiben, der permanent abzureißen droht.«
Coa Sebastian warf Rhodan einen skeptischen Blick zu. »Aber er ist noch nicht abgerissen?«
»Nein. Es tut mir Leid«, sagte Rhodan, »für euch hört es sich wahrscheinlich sehr seltsam an, aber besser kann ich es nicht erklären.«
»Der Kontakt ist da!« Benjameen schien zu glauben, für Rhodan in die Bresche springen zu müssen. »Das kann ich bestätigen.«
»Aufgrund deiner Fähigkeiten müsstest du doch im Grunde sehr viel besser als Rhodan geeignet sein, diesem ... Ruf zu folgen«, sagte die Kommandantin.
»Ich erlange keinerlei Zugang zu Perrys Wahrnehmungen. Ich erkenne lediglich, dass da etwas ist.«
»Fragst du aus einem bestimmten Grund, Coa?« Der Resident sah die Kommandantin aus leicht zusammengekniffenen Augen an.
»Ja. Wir sind seit fast vier Stunden unterwegs und haben schon eine beträchtliche Strecke zurück gelegt. Genau ...« – sie warf einen Blick auf ein Datenholo – »33.610 Lichtjahre.«
»Das ist mehr, als ich anfangs erwartet habe«, bestätigte Rhodan. »Und wir sind nach meiner Wahrnehmung der Stimme Kiriaades noch nicht viel näher gekommen.«
»Du weißt, worauf ich hinaus will?«, fragte die Kommandantin.
Rhodan nickte. »Natürlich.«
Die Kommandantin deutete auf das Holo, in dem der Flug der JOURNEE durch die rote Linie dargestellt wurde. »Wir haben den Milchstraßenrand in Höhe der Hauptebene erreicht, Perry. Vor uns liegt der Leerraum zwischen den Galaxien.«
Tess glaubte plötzlich, eine knisternde Spannung zwischen den beiden wahrzunehmen.
Coa Sebastian zögerte kurz. »Und?«, fragte sie schließlich.
Rhodan schloss die Augen. Er schien in sich hinein zu horchen. »Ich nehme Kiriaades Spur ganz deutlich wahr«, sagte er schließlich. »Wir sind auf dem richtigen Kurs.«
Die Kommandantin ersetzte das Hologramm durch ein neues. Es zeigte zwei Galaxien, getrennt durch einen schier unermesslichen Leerraum. »Wenn wir diesen Kurs beibehalten ...«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte Rhodan mit leichtem Spott. »Ich kenne mich ein wenig mit der Kosmonautik aus. Vor uns liegt der intergalaktische Abgrund zwischen der Milchstraße und Andromeda.«
Er kannte sich zumindest besser aus als Tess. Erst jetzt, nachdem der Name gefallen war, begriff sie. Das neue Holo zeigte die Milchstraße und deren Nachbargalaxis.
»Du wirst es vielleicht nicht glauben«, fügte Rhodan ironisch hinzu, »aber ich war sogar schon mehrmals dort.«
Sie spürte geradezu, wie die Spannung in der Zentrale noch stärker wurde. Andromeda! Auch bekannt als M 31, eine Spiralgalaxie vom Typ Sb mit einem Durchmesser von etwa 150.000 Lichtjahren mit 400 Milliarden Sonnenmassen.
Die erste fremde Galaxis, in die die Menschheit in ihrer Geschichte vorgestoßen war, vor etwa zweieinhalbtausend Jahren. Eine Galaxis, die unter der Herrschaft grausamer Diktatoren gestanden hatte, der Meister der Insel, die Rhodan nach einem mehrjährigen Krieg besiegt hatte.
Andromeda, eine Galaxis mit einem Doppelkern, einer Zentrumsballung von etwa 20.000 Lichtjahren Durchmesser. Einst musste eine andere, kleinere Galaxie in das Kerngebiet von M 31 eingedrungen sein und war dann von der größeren regelrecht aufgefressen worden.
Andromeda, eine Galaxis, die rund 2,2 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernt war.
2,2 Millionen Lichtjahre.
Tess rechnete blitzschnell nach. Würde die JOURNEE mit ihrer Höchstgeschwindigkeit von 90 Millionen Überlicht fliegen, würde sie bis zur Nachbargalaxis etwa achteinhalb Tage benötigen.
Siebzehn Tage hin und zurück, bestenfalls. Ganz zu schweigen von der Zeit, die sie in Andromeda verbringen würden.
Die Lage am Sternenfenster konnte jederzeit wieder kritische Dimensionen annehmen. Würde Rhodan es wagen, sich so lange von einem potenziellen Schlachtfeld zu entfernen, auf dem sich das Schicksal der gesamten Milchstraße entscheiden konnte?
Konnte Rhodan das verantworten?
Falls Andromeda überhaupt das Ziel war. Der Resident hatte gerade eingestanden, Kiriaade noch nicht wesentlich näher gekommen zu sein. Vielleicht wollte sie ihn zu einer ganz anderen Galaxis locken, einer, die weit, vielleicht sogar unvorstellbar weit, hinter Andromeda lag.
Diesmal zögerte Rhodan nicht. Tess konnte geradezu verfolgen, wie er vielleicht all das überdachte und dann einen Entschluss fasste.
»Die JOURNEE ist fernflugtauglich. Zim, nimm Kurs auf Andromeda. Ich kann nicht genau sagen, wieso, aber ich weiß jetzt, das ist unser Ziel.«
Tess schaute zu Coa Sebastian hinüber. Die Kommandantin atmete tief ein. Dann nickte sie, kommentierte die Entscheidung des Residenten aber nicht.
Ganz im Gegensatz zu dem jungen Piloten. »Aye, Sir!«, sagte November, und in seiner Stimme schwang fiebernde Ungeduld mit.
Einerseits konnte Tess die Begeisterung des Emotionauten verstehen. Zim dürstete danach, sich zu bewähren, und war voller Tatendrang.
Andererseits ...
Armer Junge, dachte Tess. Du weißt nicht, was dich dort erwartet. Du hoffst auf ein großes Abenteuer, und sicher, diese Hoffnung ist das Vorrecht der Jugend. Vielleicht findest du aber ein größeres Abenteuer, als dir lieb sein wird. Vielleicht steht am Ende dieses Abenteuers der Tod. Wenn nicht deiner, dann der einiger anderer von uns.
Unbeeindruckt von ihren mit einem Mal so skeptischen Gedanken setzte Zim November den Weg fort.
Richtung Andromeda.
Hathorjan
Raye Corona erstarrte.
Sie sah den Strahl nicht, spürte nur dessen Hitze. Er fuhr in die höchste Stelle der Kuppel, zerschmolz Metall und Kunststoff, und glühende Tropfen sprühten durch das riesige Rund. Einer zischte nur Zentimeter an ihrem Kopf vorbei.
Ein Thermostrahler, dachte sie entsetzt. Jemand greift die Kuppel mit einem Thermostrahler an!
Soeben noch verbundene Verstrebungen wurden voneinander getrennt und schnellten mit brachialer Urgewalt zurück, vergrößerten das kreisrunde Loch im Dach und schufen riesige Risse, Kränze und Zacken, die sich im nächsten Augenblick jedoch schon wieder auflösten. Desintegratorstrahlen vergrößerten die gewaltsam geschaffene Öffnung und ließen das von ihnen erfasste Material in seine Atome zerfallen.
Was ist hier los? Ein Überfall? Der Gedanke war völlig abwegig. Raye glaubte keine Sekunde lang daran. In Hathorjan herrschte seit Jahrhunderten Frieden, von einigen kleinen lokalen Konflikten einmal abgesehen, ganz im Unterschied zur Nachbargalaxis, der Milchstraße, die seit Jahrhunderten immer wieder im Zentrum des kosmischen Geschehens zu stehen schien.
Einen Augenblick lang drangen längst vergessen geglaubte Urängste an die Oberfläche. Ein Angriff der Maahks ... unsere Vorfahren haben sie unterdrückt und geknechtet, und nachdem sie dann von unserer Herrschaft befreit wurden, hätten sie fast einen Rachefeldzug gestartet, der die Tefroder wohl ausgelöscht hätte ... Wollten sie jetzt nachholen, was sie damals versäumt hatten?
»Unsinn!«, murmelte Raye. Die Maahks unter den Zuschauern waren genauso überrascht wie die Tefroder. Sie schlossen ihre Schutzanzüge; offenbar befürchteten sie, dass der Energieschirm, der ihre Atmosphäre hielt, jeden Augenblick zerstört werden könnte.
Ein Geräusch ließ Raye aufhorchen, ein dumpfes Dröhnen, das schnell höher und schriller, aber auch lauter wurde. Sie stand wie erstarrt da, schaute in das Loch im Kuppeldach, sah winzige leuchtende Punkte am nachtschwarzen Himmel, die sich rasend schnell näherten, für sie immer größer wurden, bis sie dann Lebewesen in Raumanzügen erkannte, in Kampfanzügen, Geschöpfe, die sie entfernt an die Bronk erinnerten. Sie waren zwei, zweieinhalb Meter groß, kräftig und massiv. Die stämmigen Säulenbeine und die Körper mit der gedrungenen Brust und den vier Armen, die ihnen entsprossen, wurden von roten Kampfanzügen bedeckt.
Eins der Wesen raste in einem rasanten Sturzflug zum Hallenboden hinab. Raye sah einen Kopf mit einem hoch aufragenden, am Rand gezackten Nacken- und Hinterkopfschild, zwei aus dem Stirnbereich entspringenden, jeweils etwa einen halben Meter langen Hörnern sowie einem dritten, kleineren, vielleicht 15 Zentimeter langen auf der vorragenden Nasen- und Mundpartie. Der Mund selbst erinnerte sie an einen Vogelschnabel, die bräunlich-grüne Schuppenhaut mit eingelagerten Knorpelplatten an Panzerechsen.
Solch ein Geschöpf hatte sie noch nie gesehen. Wo kam es her? Weshalb griff es sie an?
Das Echsenwesen setzte auf und eröffnete sofort das Feuer aus einem schweren Impulsstrahler, den es beidhändig abfeuerte. Raye warf sich zu Boden, entging knapp einem Strahl, der fast ihr Haar versengt hätte.
Und dann waren weitere dieser Echsengeschöpfe da, Dutzende, Hunderte. Sie waren mit allem bewaffnet, was ein perverser, martialischer Verstand sich nur ausdenken konnte. Mit Nuklearbrennern, deren violett leuchtende Strahlen im Ziel jegliche Masse, die sie trafen, zu einem Miniatur-Fusionsprozess anregten und thermonuklear zerfetzten. Mit Kampfäxten, Schwertern, Stachelkeulen, Vibratormessern, alle aus hochwertigem Stahl und vergleichbaren Materialien, die Stahl gleichermaßen wie Lebewesen durchtrennten. Ihre Kompaktkampfanzüge waren Raumrüstungen mit Verstärkungssegmenten und harnischartigen Panzerungen.
Wohin?, dachte Raye. Wo finde ich Schutz und Deckung?
Ihr Blick fiel auf einen der Gänge, durch die die Forrils sich zum Häuten unter die Tribünen zurückzogen, und sie robbte los.
Durch die Lücke im Kuppeldach stießen weitere Angreifer vor, weit über zwei Meter große, hochgewachsene, humanoide Wesen mit bleicher gelber Haut, handtellergroßen blauen Augen und ausdrucksvollen Gesichtern. Doch sie schienen nicht bewaffnet zu sein, ignorierten das Gemetzel, das überall um sie herum stattfand. Ihr Ziel waren die fünf Kampfkreise.
Strahlen fauchten über Raye hinweg, und irgendwann konnte sie kaum noch etwas sehen, hörte nur noch die Schreie der Sterbenden. Sie kletterte über Leichen hinweg oder schob sie zur Seite, schien dem Schutzraum der Forrils aber einfach nicht näher zu kommen.
Doch die Angst verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Fette Qualmschwaden nahmen ihr die Sicht, doch sie hörte nicht auf, Ausschau zu halten nach den Angreifern, versuchte, sie frühzeitig zu entdecken und den Strahlen ihrer tödlichen Waffen auszuweichen.
Irgendwann schaute sie wieder nach oben, zu der Lücke im Kuppeldach, und sie glaubte, ihren personifizierten Albtraum zu sehen.
Sie war Medizinerin, ging in ihrem Beruf voll und ganz auf. Anderen zu helfen, das war die Aufgabe, der sie sich verschrieben hatte. Und die Implantat-Chirurgie, auf die sie sich spezialisiert hatte, bot zahlreiche Möglichkeiten, aber ebenso die große Gefahr eines Missbrauchs. Wann war es noch zulässig, Tefroder oder andere Wesen mit maschinellen, computerisierten Implantaten zu versorgen, wann wurde eine ethische Grenze überschritten, bei der es nicht mehr um medizinische Hilfe ging, sondern die Aufrüstung des Körpers als Selbstzweck betrieben wurde?
Das Geschöpf, das sich durch die an den Rändern noch glühende Lücke im Kuppeldach senkte und rasend schnell genau auf die zu flog, hatte diese Grenze längst überschritten. Schon vor langer, langer Zeit.
Es donnerte über sie hinweg, stoppte in der Luft. Raye sah eine über zwei Meter große, humanoide Gestalt mit zwei Armen und Beinen. Aber das war so ziemlich das Einzige, was sie mit einem normalen Tefroder noch gemeinsam hatte.
Der bohnenförmig nach hinten ausladende Kopf des Geschöpfs wies zwei völlig verschiedene Gesichtshälften auf. Die ovale linke Seite war völlig haarlos und von wächsern glatter, hellrosa Haut überzogen. Sie wurde beherrscht von einem großen, fast kreisrunden Auge mit einer blauschwarzen Pupille, die sich plötzlich ruckartig vergrößerte.
Die linke war zur rechten grob symmetrisch, bestand jedoch aus beweglichen, großteils spiegelnden Metallteilen. Wie der unverkleidete Kopf eines Roboters, dachte Raye. Sie sah an Stelle von Muskeln und Sehnen winzige Hydrauliken, Zahnräder, Transmissionsriemen und Drahtverbindungen. Bei dem Auge schien es sich um eine in einem Kugelgelenk sitzende Kamera zu handeln, die wiederum auf einer diagonal um den Kopf verlaufenden Schiene befestigt war.
Raye konnte nicht erkennen, ob der Körper eine ähnliche Verschmelzung aus biologischen und mechanischen Teilen darstellte; er steckte in einem schwer gepanzerten Kampfanzug, in den zahlreiche Waffen eingebaut schienen.
Vielleicht ..., dachte die junge Tefroderin. Vielleicht ist das gar kein Anzug. Vielleicht ist das sein Körper!
Der unheimliche Cyborg stieg wieder höher und beobachtete von seiner Position über den Kampfbühnen aus das Vordringen der Echsenwesen. Er ist der Befehlshaber der Soldaten, die uns überfallen!
Aber warum? Welchen Sinn hatte diese Aktion? Und was waren das für Wesen?
Das alles ist gar nicht wahr. Das ist nur ein böser Traum. Gleich werde ich in meinem Bett im Krankenhaus auf Cyrdan aufwachen und ...
Ein Energiestrahl fauchte über sie hinweg. Seine Hitze machte ihr nachdrücklich klar, dass es sich keineswegs um einen Traum handelte.
Raye kroch weiter, während neben ihr Tefroder und Maahks starben, Forrils und Gaids. Sie kroch und kroch, schien aber noch immer nicht voranzukommen. Irgendwann wandte sie den Blick von den Leichen und Sterbenden ab, schaute zu der Arena, und ihr fiel auf, dass Deprok und Orrak, die beiden Gegner der Endrunde, verschwunden waren. Ein unwichtiges Detail, doch aus irgendeinem Grund kam es ihr plötzlich bedeutsam vor.
Eins der Echsenwesen stürmte an ihr vorbei, und sie drückte sich flach auf den Boden, bewegte sich nicht. Der Angreifer schien sie für tot zu halten, wandte ihr auf der Suche nach anderen Opfern den Rücken zu.
Raye öffnete die Augen einen Spalt breit. Er schießt auf alles, was sich bewegt, dachte sie entsetzt.
Als der Angreifer das Flugaggregat seines Rückentornisters aktivierte und rasend schnell vom Boden abhob, setzte Raye sich wieder in Bewegung. Sie lachte leise, aber fast hysterisch auf; der Eingang des Verschlags, von dem sie sich Schutz erhoffte, war nicht weit von ihr entfernt. Sie richtete sich auf die Knie auf, warf sich über die niedrige Schwelle und atmete auf, als sich der aus einer Forril-Haut bestehende Vorhang hinter ihr wieder schloss.
Sie sah sich blitzschnell in dem halbdunklen Raum um. Zwei rotbepelzte Mütter hatten sich hinter einem großen Topf verkrochen, in dem ein scharf riechendes Gebräu vor sich hin köchelte.
Eine Suppe, hergestellt aus dem gehäuteten Fell eines Ganzvaters. Die Forrils hatten im Lauf der Jahrhunderte gelernt, alle möglichen Produkte zu verarbeiten, sogar die Häute der Artgenossen.
Vor der Hütte erklangen dumpfe Schritte. Einer der Soldaten, dachte Raye voller Schrecken. Die Angreifer hatten offenbar jeglichen Widerstand, falls es überhaupt welchen gegeben hatte, gebrochen und suchten nun nach Überlebenden ihrer grausamen Attacke.
»Versteckt euch!«, raunte Raye den beiden Müttern zu und drang tiefer in das Innere des Raums vor.
Es dauerte entsetzlich lange, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit angepasst hatten. In einer Ecke des Vorraums lagen zahlreiche Felle auf einem Stapel; offenbar sollten sie von den Müttern weiterverarbeitet werden.
Aus Fellen bestanden auch die von der Decke bis zum Boden reichenden Vorhänge, die den hinteren Bereich des Verschlags wiederum in mehrere Nischen unterteilten.
Unglaublich, dachte Raye. Die Forrils sind technisch außerordentlich begabt. Trotzdem verhalten sie sich wie halbzivilisierte Primitive, und genau so hält man sie hier auch!
Die Schritte wurden lauter. Die echsenhaften Soldaten näherten sich dem Schutzraum.
Raye versuchte, zwei, drei Felle von dem Stapel zu zerren, doch sie waren zu schwer. Sie gab das sinnlose Unterfangen auf und lief zum hinteren Teil des Verschlags unter der Tribüne.
»Nein!«, kreischte eine weinerliche Stimme. Offenbar hatte einer der sich häutenden Forrils sie gehört. »Geh weg! Weißt du denn nicht, dass ich mich häute? Du darfst mich nicht sehen!«
Weitere Stimmen fielen ein. Offenbar waren sämtliche Nischen besetzt.
Raye fluchte leise. Es war sinnlos, die Forrils überzeugen zu wollen, Ruhe zu bewahren. Das Tabu, während der Häutung nicht beobachtet werden zu dürfen, wog zu schwer. Bevor sie den massigen Geschöpfen erklären konnte, in welcher Gefahr sie schwebten und dass sie unbedingt still sein mussten, würden die Echsenwesen längst hier sein.
»Ich gehe wieder!«, rief sie. »Seid still und rührt euch nicht! Ein Überfall!« Sie hastete zurück in den Vorraum, doch die Forrils schimpften weiter vor sich hin.
Gehetzt sah sie sich um. Wo konnte sie sich verstecken? Vielleicht der riesige Topf? Ausgeschlossen! In ihrer Panik dachte sie wirr. Die Hautsuppe war kochend heiß.
Die Häute! Sie lief zu ihnen, versuchte sie hochzuheben, doch es gelang ihr nicht. Sie stieg auf den Stapel, zerrte eine einzige Haut hoch und schob sich darunter. Dann hob sie die nächste hoch, und die nächste, und noch eine, und ...
Nein. Genug war genug. Mehr schaffte sie nicht. Das Gewicht der Felle schien sie schon jetzt zu erdrücken.
Sie kauerte sich zusammen und schob sich, so tief es ging, unter die Felle. Sie machte sich ganz klein, dachte daran, wie sie als Kind immer unter ihr Bett gekrochen war, wenn sie vor irgendetwas Angst gehabt hatte.
Sie hatte auch jetzt Angst, aber sie war kein Kind mehr. Sie war eine erwachsene Frau. Als kleines Mädchen hatte sie immer davon geträumt, erwachsen zu sein. Dann würde sie nie wieder Angst haben, Angst vor der Dunkelheit, Angst vor unheimlichen Gestalten, die sich darin verbargen.
Und jetzt verbargen sich unheimliche Gestalten in der Dunkelheit, und sie hatte Angst. Schreckliche Angst.
Sie wagte kaum zu atmen. Bildete sie es sich ein, oder erklangen die Schritte nun direkt neben ihr? Sie glaubte zu spüren, wie etwas an den Fellen über ihr zerrte, überlegte, was sie tun konnte, vielleicht das Überraschungsmoment ausnutzen, ein kräftiger Tritt genau dorthin, wo es richtig weh tat ...
Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien. Sie wusste nicht einmal, ob die Echsenwesen überhaupt jene Körperteile hatten, die weh tun konnten.
Nein, sie hatte nicht die geringste Chance. Sobald der Angreifer sie entdeckte, würde er sie zerstrahlen, bevor sie noch einen Finger rühren konnte.
Sie hörte einen Schrei, dann weitere dumpfe Schritte, die sich schnell von ihr entfernten. Und Wortfetzen, empörte Beschimpfungen.
O nein!, dachte sie. Plötzlich schwitzte sie unerträglich.
Die Angreifer kannten die Traditionen der Forrils nicht. Und hätten sie sie gekannt, sie hätten sich nicht daran gestört. Sie wussten nicht, dass ein Forril, der sich häutete, unantastbar war, selbst von Angreifern einer feindlich gesonnenen Sippe geschont wurde, die sein Territorium überfielen.
Ein lautes Fauchen erklang und verstummte wieder, und sie wusste, was geschehen war.
Bildete sie es sich nur ein, oder weinte sie wie ein kleines Mädchen?
Sie schwitzte stärker. Doch noch immer wagte sie kaum zu atmen, sich nicht zu rühren. Die Schritte, die sie hörte, wurden immer undeutlicher, gingen unter in einem allumfassenden Zischen und Prasseln, auf dessen Bedeutung sie sich keinen Reim machen konnte. Angestrengt lauschte sie, hörte jedoch nichts anderes mehr, nur noch dieses seltsame Knistern.
Ich darf mich noch nicht bewegen. Sie sind noch da. Sie warten darauf, dass ich mein Versteck verlasse. Sie wollen mich töten, genau wie alle anderen ...
Irgendwann musste sie husten, und da wurde ihr klar, dass es keinen Sinn hatte, noch länger zu warten. Wenn einer der Angreifer noch in der Nähe war, hatte er sie bestimmt gehört. Sie versuchte, sich von den Häuten zu befreien, doch sie lagen wie Blei auf ihr.
Es wurde unerträglich heiß, auf ihrer Haut genau wie in ihrer Lunge. Warum blieb sie nicht einfach liegen? Noch ein, zwei Minuten, und alles war vorbei ...
Nein, dachte sie. Ich bin 21 Jahre alt, habe den Mann meiner Träume noch nicht gefunden. Ein ganzes Leben wartet auf mich, ein ausgefülltes Leben. Ich kann unzähligen anderen Wesen helfen, ein glücklicheres Leben zu führen, und ich selbst habe auch Anspruch auf ein solches Leben.
Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, doch sie schob die bleischweren Felle zurück, richtete sich auf, zuerst mit den Armen, dann mit den Knien, und sie atmete Feuer ein, bemerkte einen unglaublichen Geruch, doch sie schob sich vorwärts, weiter, immer weiter, und irgendwann sackte ihr Oberkörper hinab, und dann hatte sie auch die Beine befreit, und sie stürzte zu Boden, prallte schwer auf, rang nach Luft und riss die Augen auf und sah ...
Der Schutzraum der sich häutenden Forrils stand in Flammen. Bevor das Echsenwesen ihn verlassen hatte, hatte es ihn mit zwei, drei Feuerstößen seiner Waffe in Brand gesetzt.
Fetter Rauch ließ ihre Augen tränen, verätzte ihre Atemwege, verklumpte in ihren Lungen. Sie wollte sich erheben, doch sie brach zusammen, und sie stellte fest, dass sie etwas leichter atmen konnte, und sie kroch, schlängelte sich über den Boden wie vor wenigen Minuten, als sie versucht hatte, der ersten Angriffswelle zu entgehen. Oder waren es Stunden? Oder Tage?
Dann konnte sie plötzlich wieder atmen, noch immer beißende, ätzende Luft, aber keine kochende mehr, und sie öffnete die Augen.
Nicht nur die Tribüne, nicht nur die Arena, nein, ganz Rakusa schien zu brennen. Überall loderten Feuer. Der Kuppelbau war nur noch ein Fragment, ein Gerippe, dessen Verstrebungen wie die versteinerten Knochen eines frisch ausgegrabenen Dinosaurierskeletts in den unmöglichsten Winkeln in die Höhe ragten. Dort, am Rand des riesigen Baus, schien die Hitze am stärksten zu sein. Dort hatten sich die Angreifer mit brachialer Gewalt Zutritt verschafft, und dort glühten und schmorten noch die Metalle und Kunststoffe, aus denen die Kuppel errichtet worden war.
Dennoch setzte Raye sich genau dorthin in Bewegung. Sie befürchtete, dass bei der Zerstörung der Arena giftige Dämpfe freigesetzt worden waren. Viel Zeit blieb ihr nicht; sie hatte auf jeden Fall einen Schock erlitten und würde früher oder später zusammenbrechen.
Sie schloss die Augen, um die Leichen nicht mehr sehen zu müssen, und taumelte blindlings weiter, prallte gegen irgendeinen Gegenstand, stolperte, fiel. Sie kroch auf Händen und Füßen, die Augen noch immer geschlossen. Sie berührte etwas, das warm und nass und glitschig war, schreckte mit einem Aufschrei zurück, kroch weiter. Die Kleidung klebte ihr am Leib, selbst wenn sie die Augen geöffnet hätte, hätte sie kaum etwas sehen können, und sie kroch und stieß wieder gegen etwas, das leise stöhnte und sich noch bewegte, und dann wieder, und sie sah ein, dass es sinnlos war und öffnete die Augen und ...
... schrie.
Aus dem Himmel senkte sich eine Gestalt in einem roten Schutzanzug herab, ein Echsenwesen, wie sie ihm gerade entkommen war, mit drei Hörnern und ...
»Nein!«, flüsterte sie. »Nein!«
Die Tränen brannten in ihren Augen, und die Hörner verschwammen, wurden zu Antennen, zu Antennen eines Raumhelms, und das Gesicht darunter wandelte sich von dem einer Echse zu dem eines Tefroders.
Hilfe! Endlich schickten sie Hilfe!
Der Mann in dem massigen Kampfraumanzug setzte federleicht neben ihr auf, ein so unwirklicher Anblick, dass sie fast hysterisch gekichert hätte, und legte die Arme um sie. »Ganz ruhig«, sagte er. »Sie sind weg. Du bist in Sicherheit. Wir haben die Lage unter Kontrolle.« Seine Stimme klang durch den Helmlautsprecher leicht verzerrt.
»Ich ...« Sie verstummte. Er hatte den Antigrav seines Kampfanzugs aktiviert, und ein seltsames Schwindelgefühl überkam sie. Sie hatte buchstäblich den Boden unter den Füßen verloren, doch irgendwie kam sie sich in seinem Griff völlig sicher vor. »Ich muss zurück«, sagte sie. »Ich bin Ärztin. Da unten müssen Verletzte versorgt werden ... und Tote geborgen ...«
»Schon gut«, sagte der Soldat sanft. »Darum kümmern sich andere. Du hast genug durchgemacht. Ich bringe dich in Sicherheit.«
Raye hob ihre schlanken, feingliedrigen Hände. Sie zitterten heftig. »Was ist passiert?«
»Wir wissen es noch nicht genau.« Sie spürte, wie ein Fesselfeld sie sanft gegen den Kampfanzug drückte und verhinderte, dass sie abrutschen konnte. Sie schaute kurz nach unten. Höhenangst hatte ihr noch nie zu schaffen gemacht, doch jetzt griff ein schreckliches Unbehagen nach ihr und drohte ihr Herz mit eisigem Griff zu zerquetschen.
»Ich muss ... wieder ... da runter ... da sind Wesen, die meine Hilfe brauchen ...«
»Nein«, sagte der Soldat sanft und verstärkte das Feld. »Da unten lebt niemand mehr. Beruhige dich. Ich bringe dich hier raus.«
»Da ... lebt niemand mehr?« Allmählich wurde ihr als Medikerin bewusst, dass sie unter einem schweren Schock stand.
Sie schrie leise auf, als der Soldat ganz nah an einer Verstrebung vorbeiflog. Die Hitze des noch immer glühenden Metalls schien tief in ihre Haut einzudringen.
Dann hatten sie die Kuppel verlassen.
Raye riss die Augen auf. Nacktes Entsetzen erfasste sie und ließ sie einen Augenblick lang sprachlos zurück.
Die Hauptstadt des Planeten war nur noch ein endloses Trümmerfeld. Wo Wolkenkratzer die Wolken nicht nur angekratzt, sondern sogar durchstoßen hatten, dehnte sich nun fetter, pechschwarzer Rauch aus, der gigantische Staubwolken einsog. Wo kühne Minarette das Auge erfreut hatten, brodelte Lava in tiefen Kratern. Wo sich gigantische Fertigungsanlagen erstreckt hatten, verzerrte eine glasierte Oberfläche den Mondschein tausendfach und verlieh ihm Tentakel, die nach ihr zu greifen schienen.
»Nein«, flüsterte sie dann, »nein.«
Ihr wurde klar, dass der Soldat sie belogen hatte, um sie zu beruhigen. Er wusste sehr wohl, was sich hier abgespielt hatte. »Erzähl mir nichts ... du weißt wirklich nicht, was hier passiert ist?«
»Ganz ruhig«, sagte der Mann.
»Was ist hier passiert?«
Der Soldat zögerte. »Ein Angriff aus dem All«, sagte er dann. »Er hat unglaubliche Verwüstungen angerichtet. Die halbe Hauptstadt liegt in Trümmern. Aber gerade wurde Entwarnung gegeben. Sie haben sich zurückgezogen.«
Ein Angriff aus dem All? Unmöglich. In Hathorjan herrscht Frieden. Wie kann das sein? »Was erzählst du mir da? Wer hat uns angegriffen? Was wird hier gespielt?«
»Wir wissen es noch nicht«, sagte der Soldat. »Sie haben nicht die geringste Gnade walten lassen. Sie fielen über uns her und haben zerstört, was sie zerstören konnten. Solche Grausamkeit habe ich noch nie gesehen.«
»Wer?«, fragte Raye. »Wer?«
»Ich weiß es nicht«, sagte der Soldat. »Es waren Fremde.«
»Keine Maahks?«, fragte Raye. Obwohl sie es besser wusste, kehrte diese Urangst ihres Volkes auch zu ihr immer wieder zurück.
»Keine Maahks«, bestätigte der Soldat.
»Wie viele Schiffe haben diese Welt überfallen?«
»Eins. Es war nur ein Schiff. Und wir hatten nicht die geringste Chance gegen dieses eine Schiff.«
»Nur ein Schiff? Ein Schiff ist über diese Welt gekommen und hat all das angerichtet?«
»Ja. Aber es war ein ganz besonderes Schiff. Ein sehr seltsames.«
»Was meinst du damit?«
»Dieses Schiff ...«, sagte der Soldat und hielt kurz inne. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll ... Aber dieses Schiff ...«
»Ja?«
»Es brannte«, sagte der Soldat. »Ich weiß nicht, was es damit auf sich hatte, aber es brannte.«