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»Sieger und Besiegte«
Kapitel 8
Bordzeit Spürkreuzer JOURNEE, 21. März 1312 NGZ
Mulmig war ihm schon zumute. Morris Thompson wusste, dass seine Vorbehalte einer Hinterfragung nicht standhalten würden; dennoch konnte er sie nicht einfach beiseite schieben. Vielleicht, wenn er lange genug an sich arbeitete und einen Kosmopsychologen konsultierte, doch bislang hatte er keinen Anlass dafür gesehen, und nun war es zu spät. Ob er wollte oder nicht, er musste die Zähne zusammenbeißen.
Wird schon schief gehen!, redete er sich ein.
Morris ließ den defekten Steuerchip in seine Hosentasche gleiten, dann setzte er das neue, gerade einen halben Quadratzentimeter messende Bauteil ein und vergewisserte sich, dass die Impulse tatsächlich weitergeleitet wurden.
Vielleicht war der defekte Chip schon in der Werft eingebaut worden. So etwas kam vor. Ein Teil, das zu Millionen produziert wurde, für den Bruchteil eines Galax – und das, wenn er es recht bedachte, vielleicht nie benötigt wurde. Es regelte die Kabinentemperatur über einen Wert von 30 Grad Celsius hinaus.
Der Maahk friert, weil dieses Mistding defekt ist. Das allein wäre mir egal. Aber ausgerechnet die Kabinensteuerung hat sich dieses Fehlers wegen desaktiviert. Nachdem der Maahk daran rumgespielt hat. Widerwillig schloss der Techniker die Wartungsöffnung. Und wer muss zu dem Kerl in die Kabine? Ich! Ausgerechnet ich. Einen Augenblick lang hielt Morris inne und atmete tief ein. Aber davon wurde nichts besser. Im Gegenteil. Er steigerte sich nur noch weiter in seine Panik hinein. Er musste sich an der Wand abstützen, weil er jäh den Eindruck hatte, dass sich ihm der Boden entgegen wölbte.
Und wenn ich es melde? Rhodan ist der Letzte, der kein Verständnis für seine Crew aufbringt.
Bilder erschienen vor seinem inneren Auge. Immer deutlicher wurde die längst vergessen geglaubte Erinnerung und trieb seinen Puls in die Höhe.
Da war ein Schädel, halbmondförmig, wuchtig ... Die Schuppenhaut wirkte wie bei einer Echse spröde und trocken, und die vier großen, runden Augen oben auf dem Schädelkamm starrten ihn durchdringend an. Wo bei einem Menschen der Hals war, öffnete sich ein schmaler Spalt und entblößte zwei Reihen spitzer Zähne. Diese Zähne kamen näher, waren ganz dicht über ihm ...
Morris Thompson riss die Hände hoch und drückte sie auf die Ohren. Es half nichts, er hörte sich noch immer gellend schreien. Das war ein Schrei, den er sein Leben lang nicht vergessen würde. Zweieinhalb Jahre alt war er damals gewesen, aber die Szene hatte sich tief in ihm festgefressen. Er glaubte, Leichen zu sehen, Menschen in zerfetzten Raumanzügen, von Strahlschüssen halb verbrannt, entstellt, einige Atemschutzgeräte vor die Gesichtern pressend ...
Das Chaos schlug über ihm zusammen. Er taumelte und drückte die Stirn gegen den kühlen Stahl, bis seine aufgewühlten Emotionen sich endlich wieder beruhigten. Seit die JOURNEE Andromeda erreicht hatte, quälten ihn diese Bilder. Sie wurden intensiver und kamen in immer kürzeren Abständen ...
Du musst sie ignorieren!
Er ballte die Fäuste und biss die Zähne zusammen. Eine gehörige Portion Trotz, andere nannten es Hartnäckigkeit, hatte er stets an den Tag gelegt.
Ich bin nicht psychisch krank. Dann würde ich nicht auf dem Spürkreuzer Dienst tun; die Mannschaft wurde auf Herz und Nieren überprüft.
Es war nicht anders gewesen, als er auf die LEIF ERIKSSON gekommen war, Rhodans Flaggschiff. Bravourös hatte er alle Tests absolviert, vor allem hinsichtlich seiner Kommunikationsfähigkeit in Extremsituationen. Einige Mitbewerber waren vor angreifenden Spinnenkreaturen geflohen, nach überholten menschlichen Maßstäben hässliche Kreaturen, die Urängste weckten. Er hingegen hatte ihre Intelligenz erkannt und es geschafft, eine Verständigung herbeizuführen.
Höchste Punktzahl dafür bei dieser Simulation, schoss es ihm durch den Sinn. Geeignet für Fernerkundung. Das hatte ihm die Möglichkeit eröffnet, unter dem Oberbefehl eines der potentiell Unsterblichen an Bord der modernsten Raumschiffe der Flotte auf Reisen zu gehen.
Niemand hatte bei den Tests nach Maahks gefragt. Dann wären seine Ängste spontan zum Ausbruch gekommen.
Er erreichte den nächsten Antigravschacht. Sekundenlang zögerte er, sich dem gerichteten Schwerkraftfeld anzuvertrauen, das ihn nach unten bringen sollte. Zwei Sektoren vor ihm lag die Medostation. Er konnte sich krank melden, um Zeit zu gewinnen. Allerdings wusste Morris, dass ihn schon die ersten Untersuchungen als Simulanten entlarven würden. Die Wahrheit würde danach sehr schnell ans Licht kommen.
Entschlossen trat er nach vorn. Nur zwei Decks trennten ihn von der Kabine des Maahks.
Was ist damals geschehen?, fragte er sich intensiver als zuvor. Er entsann sich nicht. Nur diese entsetzliche Erinnerung quälte ihn.
Das Kommandodeck ... Hier befanden sich die Zugänge zur Zentrale mit den Missionsstationen, die Kabinen für die drei Schichten der Zentralebesatzung und, entlang der äußeren Peripherie, die freien Unterkünfte für Gäste. Dazu der Konferenzraum mit der Cafeteria und, genau gegenüberliegend, die Schiffsmesse.
Morris Thompson redete sich ein, dass er den Anblick des Methanatmers ertragen konnte, ohne in Panik zu verfallen. Ich schaffe es!, dachte er, während er einem der Ausrüstungsspinde einen leichten SERUN entnahm und den Anzug über seine Technikermontur streifte. Noch bevor er die Magnetsäume vollständig geschlossen hatte, meldete sich der Pikosyn mit der Bemerkung, dass seine Kleidung die Wiederaufbereitung der Körperausscheidungen unmöglich machte.
»Ich weiß. Ich trage den SERUN nur für die Dauer einer kurzen Überprüfung in Giftgasatmosphäre.« Morris erschrak über den belegten Klang seiner Stimme. Mit einem knappen Handgriff öffnete er den Nackenwulst und zog die Helmfolie nach vorn. Die einströmende Atemluft blähte das Material auf. Symbolkodes erschienen auf der Helminnenseite. Mittels Blickschaltung aktivierte der Techniker die für seine Arbeit benötigten Funktionen, zuletzt den Translator. Er würde nicht umhinkommen, mit dem Maahk zu reden, obwohl seine Kehle wie ausgedörrt war und die Zunge schwer und aufgequollen.
»Du stehst unter starker Anspannung«, diagnostizierte der Pikosyn. »Um eine organische Erkrankung auszuschließen, empfehle ich eine medizinische Überprüfung. Mit deinem Einverständnis informiere ich die Medostation ...«
»Lass das!«, befahl Morris. »Mir geht es gut!« Genau das ist nicht der Fall, schoss es ihm zugleich durch den Kopf.
»Dein Puls erhöht sich schnell, der Blutdruck steigt.«
Morris' Blick wanderte zur Medoanzeige. Er desaktivierte die Funktion. Eine klugscheißerische Syntron-Funktion hatte ihm gerade noch gefehlt.
Der Schottmelder ... Die enge Atmosphärenschleuse ... Er versuchte, sich eine paradiesisch schöne Welt vorzustellen, mit stahlblauem Wasser, einem endlos feinen Sandstrand, zwei Sonnen am wolkenlosen Himmel ... Die Realität holte ihn zurück. Vor ihm stand der Maahk.
Obwohl er mit 1,86 Meter nicht eben zu den kleinen Leuten zählte, musste Morris Thompson aufsehen. Der erdrückenden Körperfülle des Methanatmers hatte er nichts entgegenzusetzen.
Als der Maahk die schmalen Lippen verzog, schloss Morris die Augen.
Die Bilder von damals überschlugen sich. Geifernde Fratzen, Schreie ... Panik ...
»Grek-halb«, dröhnte es aus dem Helmlautsprecher. Morris schluckte krampfhaft. Er blinzelte, sah den Tentakelarm mit der sechsfingrigen Hand vor sich pendeln und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, wo auch immer der sein mochte. Nicht in Andromeda jedenfalls.
»Grek-halb«, erklang es erneut, drängender, als warte der Methanatmer auf irgendetwas. Da war noch eine Zahl. Morris hörte und vergaß sie.
»Thompson«, antwortete er.
Sein Gegenüber griff nach seiner Hand und hielt ihn unentrinnbar fest.
Sterbende Raumsoldaten ... Maahks, die aus gelandeten Walzenraumern strömten, eine unüberschaubare Flut. Die Bilder veränderten sich, weckten neue, böse Erinnerungen.
»Du bist Terraner, Thompson?«
Morris schüttelte den Kopf. Greks Haut erschien ihm bleich, fast durchsichtig. Außerdem hatte er sich eine Wärmefolie um den Nacken gewickelt.
Hastig durchquerte Morris die Kabine, nahm die Abdeckung des Funktionsverteilers ab und suchte mit dem Prüfgerät inmitten der verschachtelten Bausteine. Er starrte auf die flackernde Anzeige, registrierte die Werte aber kaum, schaffte es nicht, sich wirklich zu konzentrieren.
Hinter einem Felsblock tauchte der Kopfwulst eines Methanatmers auf. Der Maahk riss seinen Strahler hoch und schoss. Die Einschläge näherten sich, glutflüssiger Boden spritzte nach allen Seiten, verbreitete eine unerträgliche Hitze ... Ein terranischer Flugpanzer explodierte, weißglühende Wrackteile bohrten sich Geschossen gleich in die Erde und lichteten die Reihen der Angreifer ...
Das Heulen in seiner Erinnerung vermischte sich mit dem Signalton des Prüfstabs. Seit einigen Sekunden war die Blockade der Temperaturregelung behoben. Ein weißes Glühen im Hintergrund verriet den ungehinderten Energiefluss.
Morris setzte die Abdeckung wieder ein. Eine Skala im Helmdisplay zeigte die rasch steigende Temperatur.
»Danke«, sagte der Maahk hinter ihm.
Der Techniker nickte nur. Er hatte es eilig, die Kabine wieder zu verlassen. Er schwitzte, atmete hastig.
»Was habe ich dir getan, Terraner, dass du mich nicht ansiehst? Sage es mir! Ich will aus meinen Fehlern lernen.«
»Nichts«, stieß Morris hervor. »Ich ...«
Der Maahk stand plötzlich wieder vor ihm und packte zu. Mit beiden Händen umklammerte er Morris' Oberarme ...
Vergeblich wehrte er sich gegen den unbarmherzigen Griff. Während ringsum die Menschen starben, schaffte er es nicht einmal, die Augen zu schließen. Gelähmt vor Entsetzen starrte er auf den Schädel des Maahks, der ihn niederdrückte. Was immer der Angreifer sagte, er verstand es nicht, wollte es nicht verstehen ...
Ein Strahlschuss zuckte auf.
Er spürte die unerträgliche Hitze, die den Maahk umfloss und dessen Haut verkohlte. Ein grässliches schwarzes Loch entstand mitten in der Fratze, Haut, Fleisch und Knochen verbrannten, und dann, nach einem einzigen atemlosen Augenblick, fehlte der halbe Schädel des Angreifers.
Morris schrie sich die Seele aus dem Leib, während hoch über ihm die Glutwolken explodierender Raumschiffe miteinander verschmolzen und ihr grelles Lodern endgültig die Nacht vertrieb.
Er schrie immer noch, als er aus seiner Deckung hochgezerrt wurde. Dann traf ihn der Schlag ins Gesicht. Er tat schrecklich weh, brachte ihn aber halbwegs wieder zur Besinnung.
Morris Thompson registrierte, dass jemand ihn schüttelte. So wie damals. Er hörte eine Stimme, aber er reagierte nicht, denn die Erinnerung brach vollends auf.
»Schlag den Jungen kein zweites Mal, Reginald-Thorn!«, hallte die Stimme seiner Mutter unter seiner Schädeldecke.
»Diesmal hat er es verdient, Orana. Er hat nicht nur die 3-D-Projektion aktiviert ... wenn es nur das wäre.«
Sein Vater schüttelte ihn. »Sei froh, dass du noch ein Kind bist, sonst ...«
»Reginald!« Mutter ging dazwischen, drückte ihn an sich. »Er ist völlig verstört, siehst du das denn nicht? Und jetzt will ich wissen, was er gemacht hat.«
»Gemacht? Morris hat das volle Programm aktiviert. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat, aber ...«
»Du meinst, auch die Suggestion?«
»Die volle Realität. Ich hoffe, er verkraftet die Szenen.«
»Wie oft habe ich dir gesagt, dass ich das verfluchte virtuelle Zeug nicht in der Wohnung haben will? Es ist deine Schuld, Reginald-Thorn, wenn Morris einen Schaden davonträgt, ganz allein deine Schuld ...«
»Ich entschuldige mein Ungestüm.« Nur langsam fand die Stimme des Maahks Zugang zu Morris Thompsons Bewusstsein. »Ich hätte wissen müssen, dass manche Menschen keine Berührung wünschen. Das liegt daran, dass sie nicht in einem Gelege aufwachsen.«
»Bitte«, wehrte der Techniker ab, »ich habe die Temperaturregelung repariert, das muss genügen.«
»Du reagierst seltsam, Thompson. Ich glaube, du hast Probleme.«
Hastig winkte der Techniker ab. »Was versteht ein Maahk von menschlichen Sorgen? Du lebst dein Leben, ich lebe das meine.«
»Ich bin ein halber Mensch.«
Morris Thompson hatte das Schott schon erreicht, als er sich widerwillig umwandte. Noch immer ließ ihn der Anblick des Maahks frösteln, auch wenn er jetzt wusste, was seine Phobie ausgelöst hatte: ein Simulationsprogramm, das die Benutzer in eine Scheinwelt versetzte, die sie mit allen Sinnen als real empfanden. Dabei hatte noch ein Dutzend Schutzengel über ihn gewacht. Jedenfalls entsann er sich einer Jahre zurückliegenden Meldung, dass zwei Programmdesigner durch ihre eigene Entwicklung den Tod gefunden hatten. Und das war nicht einmal ein Kriegsspiel gewesen, sondern die Simulation giftiger Pflanzenwurzeln.
Morris glaubte, sich verhört zu haben. »Ein Maahk wird niemals ein Mensch sein können«, antwortete er verwirrt. »Weder ein halber, noch weniger ... Was euch dazu fehlt, lässt sich mit kalter Logik nicht ersetzen.«
Grek-halb vollführte eine ausschweifende Bewegung, die Morris als theatralisch empfand. Sie wirkte einstudiert, keineswegs spontan. »Was unterscheidet uns von den Menschen?«
»Alles«, beharrte der Techniker. »Aber ich glaube, für eine solche Diskussion bin ich nicht geschaffen.«
»Warte!«
»Was noch?«, fragte Morris ungeduldig. Die Anzeige im Head-up-Display zeigte ihm, dass die Raumtemperatur mittlerweile auf 85 Grad Celsius angestiegen war. Tatsächlich ließ Grek die um den Hals geschlungene Wärmefolie achtlos fallen.
»Du bist Techniker, Thompson. Glaubst du, dass man Gefühle künstlich erzeugen kann?«
Er hatte es am eigenen Leib erlebt. »Natürlich«, sagte er. »Es gibt verschiedene Wege ...«
»Auch für einen Maahk?«
Morris stieß einen überraschten Laut aus. »Nein, das nicht. Logik und Gefühle vertragen sich nicht.«
Sein Gegenüber klopfte sich mit zwei Fingern an den Oberkörper. »Das da«, verkündete er lauter als zuvor und ließ die Finger auf einer silbernen Platte ruhen, »gibt mir die Gefühle. Und ich habe gelernt. Sehr viel über die Menschen. Du empfindest Angst, ist es nicht so?«
»Unsinn«, wehrte der Techniker ab. Das war äußerlich. Zugleich fragte er sich, ob der Maahk Recht haben konnte. Ihm war immer noch mulmig zumute, und dieses kreisrunde, einen Zentimeter über die Schuppenhaut aufragende Ding konnte alles Mögliche sein.
»Warum sagen Menschen die Unwahrheit? Das verstehe ich nicht.«
»Weil ...«
Verrückt!, konstatierte Morris Thompson. Wieso höre ich mir seine verquere Philosophie an? Ich sollte froh sein, dass ich endlich verschwinden kann.
»Du zögerst«, stellte Grek-665½ fest. »Also suchst du nach einer Lüge? Die Wahrheit spricht man aus, ohne zu zögern.«
»Es hat keinen Sinn mit uns beiden«, wehrte Morris ab.
»Ausflüchte gehören in die breite Palette der Kommunikationshemmnisse. Grek-764 hat vor zweieinhalb Jahrtausenden einen Katalog erarbeitet, der eine Vielzahl unverständlicher Handlungsweisen auflistet ...«
»Was willst du von mir, Grek-halb? Ich habe noch unaufschiebbare Arbeiten zu erledigen.«
»Du bist ein geeignetes Studienobjekt, Thompson.«
»Bitte, Grek, nicht mit mir.« Wieso lasse ich mich überhaupt aufhalten? Raumtemperatur konstant fünfundneunzig Grad, ich habe meine Arbeit erledigt. Aber ich sag's ihm: »Wende dich an Perry Rhodan, Grek. Ich bin überzeugt, er wird dir alles Studienmaterial zur Verfügung stellen, das du haben willst.«
»Folglich werde ich ihn bitten, Thompson den Befehl zu geben ...«
»Gibt es noch einen?« Der Techniker stutzte, wehrte dann heftig ab. »Nein, schlag dir das aus dem Kopf! Ich bin ungeeignet.« Mehrmals legte er die Hand auf den Öffnungsmechanismus, doch das Innenschott bewegte sich nicht um einen Millimeter.
»Du bist so herrlich zwiespältig«, bekundete der Maahk.
Dieses Schott ... warum reagiert es nicht? Wieder schlug Morris Thompson mit der flachen Hand auf den Öffnungsmechanismus.
»Du denkst unlogisch«, sagte der Maahk. »Fällt dir das nicht auf?«
Morris stand vor dem Schott und kam sich allmählich wie ein Idiot vor. Seine Gedanken schwirrten wild durcheinander, doch nicht einen konnte er wirklich festhalten. Der Mechanismus reagierte üblicherweise auf Berührung. Ruhig bleiben!, schoss es ihm durch den Kopf. Versuche, dich zu konzentrieren. Seine Abneigung gegen die Methanatmer erschien ihm vollauf berechtigt. Was bildet sich dieser Cyber-Maahk überhaupt ein?
»Ich habe den Mechanismus umprogrammiert«, sagte der Giftgasatmer unvermittelt. »Er reagiert nur mehr auf meinen Handabdruck. Tun Menschen das nicht, wenn sie neue Räume beziehen?«
Besserwisser!, dachte Morris wütend. Ich vergesse mich, ich ... Er blieb dennoch ruhig, stieß lediglich mit dem Helm gegen die Wand. »Nein«, sagte er und schloss sekundenlang in ohnmächtigem Zorn die Augen. »Das machen wir nicht. Weil es uns nichts angeht. – Würdest du mich nun bitte hinauslassen?!«
Nichts geschah.
Morris zwang sich zur Ruhe. Nach wie vor befand sich die JOURNEE im Überlichtflug, noch ungefähr 30 Minuten. Er würde frühestens nach dem Rücksturz in den Einstein-Raum als vermisst gelten, sofern er dann nicht seine Kontrollfunktion am Metagrav-Triebwerk wahrnahm.
30 verdammt lange Minuten ... Die Szenen des Kriegs zwischen den Maahks und terranischen Landetruppen drängten sich wieder vor sein geistiges Auge. Sie erschreckten ihn nicht mehr wie zuvor. Vielmehr fragte er sich nun, wer die blutige Schlacht gewonnen haben mochte: die Maahks oder die Terraner?
»Also gut, Grek, wenn du wissen willst, was Gefühle sind ...« Er wandte sich wieder um – und stockte abrupt. Nicht, weil der Maahk inzwischen seinen Raumanzug abgestreift hatte, und auch nicht, weil er fast nackt vor ihm stand ...
Morris schluckte schwer. Er starrte Grek-halb an und hatte das entsetzliche Gefühl, dass ihm die Augen aus den Höhlen quollen. Mit einem heftigen Kopfschütteln versuchte er, sich abzulenken. Aber wieder schaute er hin. Seine Kehle war plötzlich wie ausgedorrt.
Der Maahk wirkte immer noch imposant, eine Ausgeburt muskulöser Geschmeidigkeit. Irgendwann hatte Morris gehört, dass die Methanatmer zwar sechs Finger, jedoch nur vier Zehen hatten. Jetzt sah er die vier Zehen an jedem Fuß, die dicken Sehnenstränge entlang der kurzen, kräftigen Beine ebenso wie die tentakelhaften Arme und die knochenlosen und enorm kräftigen Finger. Die Schuppenhaut bedeckte alle Glieder, vor allem wirkte sie enorm widerstandsfähig und überaus beweglich zugleich.
Morris kniff die Brauen noch enger zusammen. Wie sich Maahks vermehrten, interessierte ihn überhaupt nicht, egal ob zu zweit, zu dritt oder sonst wie ... Ihn verblüffte vielmehr das eigenwillige Kleidungsstück, das Grek bislang unter dem Raumanzug getragen hatte. Es war absonderlich, fand er. In einer anderen Situation hätte er wohl hell aufgelacht, hier beließ er es beim Verziehen der Mundwinkel.
Der Maahk schien seinen Blick einigermaßen richtig zu deuten. »Du findest auch, dass es schön ist«, bemerkte er.
»Dieses Hemd ist«, sagte der Techniker und suchte nach einem passenden Wort, »... etwas Besonderes.«
»Lasky Baty«, sagte der Maahk.
»Hm.«
Eineinhalb Meter muskulöse Brust beanspruchten eine Stofffülle wie eine Staatsflagge. Genau das dachte Morris in diesem Augenblick. Dazu die langen Ärmel, die fast bis zu den Knien reichten. Bei einem Menschen war ein Hemd ein gewohnter Anblick – bei dem Maahk sah es aus wie ein Zerrbild, eine Parodie auf terranische Modeschöpfer und ihre Allüren. Unter dem eng anliegenden elastischen Gewebe zeichnete sich jede Schuppe ab.
Dazu dieses kräftige Blau, das in der Kabinenbeleuchtung fast schon in den Augen schmerzte. Morris blinzelte hektisch.
Amüsant war die Länge des Hemdes. Es reichte dem Maahk bis knapp zu den Hüftknochen, was dem Ganzen einen lasziven Anstrich verlieh.
»Das Hemd ist eine Sonderanfertigung«, sagte Grek. »Ich habe es über ein tefrodisches Handelskontor bezogen. Für einen Wucherpreis, aber ...«
»... es ist schön«, vollendete Morris den Satz. Den spöttischen Tonfall bemerkte sein Gegenüber nicht. »Stellen die Maahks solche Kleidungsstücke nicht her?«
»Nicht mit Lasky Baty.«
Die fotorealistische Schwarzweiß-Abbildung auf der Brust besaß schon die Größe eines Gemäldes. Ein Hohlweg war dargestellt, ein tunnelförmiges Pflanzengewirr, durch das ein sandiger Trampelpfad führte. Der knorrige Ast im Vordergrund brachte Tiefenwirkung.
Das Bild wirkte keineswegs düster; Licht, das am Ende des Hohlwegs zu sehen war, schien bis in den Vordergrund auszustrahlen.
Es roch nach Frühling, das glaubte Morris Thompson selbst im geschlossenen Schutzanzug wahrzunehmen. Eine rein psychische Wirkung, stellte er fest.
»Du kennst das Cover von Lasky Batys legendärer erster Aufnahme.« Das war keine Frage, sondern weit eher eine Selbstverständlichkeit. Der Maahk zweifelte nicht eine Sekunde lang am Bekanntheitsgrad des Motivs. »Hohlweg-Variationen, ein geniales Epos.«
Fast hätte Morris sich verschluckt. Raus hier!, hämmerte es unter seiner Schädeldecke. Weg von diesem Irren!
»Du hast matte Augen«, bemerkte Grek-665½. »Also ist es richtig, dass Menschen vor Freude weinen? Freude – das ist Erfolg, Zukunft, Aufstieg in der Hierarchie.« Mit zwei Fingern klopfte er auf sein Implantat. »Ich lerne sehr viel, seit ich den LemurEmotio-Simulator trage.«
»Ich muss wirklich gehen!«, ächzte Morris. »Es wird Zeit für mich.«
»Natürlich«, antwortete der Maahk. »Verstehe. Aber schau dir das genau an, Terraner! Du musst dir das Bild einprägen, damit es wirkt!«
Zwei Gestalten spazierten durch den Hohlweg dem Betrachter entgegen. Sie waren farbig dargestellt und dominierten das Bild, aber erst, nachdem man alles andere in sich aufgenommen hatte.
Das eine Wesen, groß und kräftig, aber mit kurzen Beinen, wirkte bärenhaft. Die nackten, behaarten Füße verstärkten diesen Eindruck noch. Seine Gesichtszüge waren menschlich, wirkten aber grob, wie unfertig aus einem Block gemeißelt. Im Gegensatz zu dem struppigen Haar an Kopf und Hals präsentierte es Gesicht und Arme sauber rasiert.
Die andere Gestalt war gut zwei Köpfe kleiner. Ein Terraner von durchschnittlicher Statur. Seine Beine steckten in hellbraunen Kniehosen und weißen Strümpfen, dazu hatte er schwarze Schnallenschuhe angezogen, wie sie erst vor wenigen Jahren der letzte Modeschrei gewesen waren. Über einer kurzen Weste trug der Mann einen roten Frack.
Mehr als die Kleidung faszinierte den Techniker die weiße Perücke mit dem nach hinten fallenden Zopf. Seitlich ringelten sich Locken in das rasierte Gesicht.
»Phantastisch, nicht wahr?« Ruckartig wandte sich der Maahk um. Auch auf dem Rücken trug er das Hohlweg-Motiv. Die beiden Gestalten waren ebenfalls da, allerdings nur ihre Köpfe im Profil. Sie lächelten, der Bär von oben nach unten, der mit dem weißen Haar aufwärts gerichtet. Doch ihre Blicke gingen aneinander vorbei.
»Was macht dieser ... Lasky Baty?«, fragte Thompson, ohne es eigentlich zu wollen.
Der Maahk beugte sich wieder vor und starrte ihn aus allen vier Augen an. »Du weißt das nicht?«
»Nein.«
Eine Weile war Stille. Grek schlug mit der flachen Hand auf den LemurEmotio-Simulator. »Habe ich das richtig verstanden? Du kennst den größten Musiker Andromedas nicht? Was sage ich – der Lokalen Gruppe. Er ist ein Genie, ein ...«
»... Mensch.«
»Und wenn schon. Seine Musik ist meditativ und berührt die Seele.«
»Das sagen die Maahks?«
»Tefroder und Twonoser, Gurrads, Atto ...«
»Aber nicht die Maahks?«
»Seit ich den LemSim trage, schätze ich diese inhaltlich tiefe Musik. Sie spiegelt den Kosmos wieder, das Werden und Vergehen der Zeit.«
»Du weichst mir aus.« Auf einmal bereitete es Morris Vergnügen, dem Maahk einen Spiegel vorzuhalten.
»Ich sage nur, was ich empfinde. Es ist genau diese Art von Begeisterung, die ich bis vor kurzem vermisst habe.«
»Wie kannst du etwas vermissen, was du nicht kennst?«
»Ich weiß heute, was ich versäumt habe.«
Morris schüttelte den Kopf. »Das ist unlogisch. Und das nur, weil dieser weißhaarige Baty ...«
»Das ist Mozart!«, berichtigte Grek-665½ schroff. »Kennst du den terranischen Komponisten nicht? Er wäre so alt wie Rhodan, wenn er einen Zellaktivator gehabt hätte, vielleicht sogar etwas älter.«
»Keine Ahnung«, gestand der Techniker ein. »Ich interessiere mich nicht für präatomare Geschichte.«
»Ein Volk, das seine Geschichte vernachlässigt, ist zu bedauern.«
Morris seufzte ergeben. »Das sagt dir dieser Simulator?«
»Das sagt mir meine Logik«, widersprach der Maahk.
»Warum diskutiere ich eigentlich mit dir und vergesse meine Arbeit?«
»Weil du ebenso wie ich von Lasky Baty fasziniert bist«, behauptete Grek.
»Dieser bärige Typ soll meditative Musik produzieren? Das glaube ich nicht.«
»Lasky Baty ist faszinierend.«
»Vielleicht ist dein LemSim falsch justiert.« Er lachte amüsiert. »Wenn mich etwas fasziniert, zeige ich es auch.«
»Ich trage sein Bildnis, so wie ich ihn mir vorstelle.«
»Und weil du so fasziniert bist, versteckst du das Hemd unter dem Raumanzug?«
Grek-665½ stockte in der Bewegung. Mit beiden Händen strich er sich dann über den Leib. »Du hast Recht, Terraner. Das ist beschämend für mich. Ich muss das Hemd über dem Schutzanzug tragen. Willst du seine Musik hören? Ich habe sie gespeichert.«
»Ein andermal.«
»Das ist keine Ausrede? Ich kenne die Menschen.«
»Nein, ver... vergiss nicht, dass ich zu den Triebwerken muss. Grek-halb, ich bin in Eile.«
Eine Minute später stand Morris Thompson wieder draußen auf dem Ringkorridor. Fahrig öffnete er den Helm und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Sein Seufzen kam aus tiefer Seele.