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9 – Ein offenes Verlangen
Оглавление„Lange“, meldete sich Erika Lange mit betont energischer Stimme am Telefon, als es um exakt 23 Uhr läutete. Schon beim Abheben hatte sie gefühlt, dass es der Fremde vom Nachmittag war, der sie zu erreichen versuchte.
„Es ist gut, Frau Lange, dass Sie sich an unsere Absprache halten und so nett auf mich gewartet haben“, kam es aus der Leitung. „Ich hoffe nur für Sie, und besonders auch für Ihre reizende Tochter, dass Sie in allen Punkten unserer Vereinbarung so kooperativ waren.“
Für Stunden hatte sie der Schuft auf seinen Anruf warten lassen, nun aber war er wieder am Apparat. Es überraschte sie nicht, dass er seine Stimme wieder verstellte und verfremdete.
Er schien seine Macht über sie auszukosten. Es war ihm offenbar nicht genug, sie einfach nur einzuschüchtern, sondern er hatte Spaß daran, ihr das Gefühl des Ausgeliefertseins und der eigenen Machtlosigkeit mehr als deutlich vor Augen zu halten.
„Wenn Sie durch Ihre Andeutung von mir die Bestätigung zu erhalten hoffen, dass wir, meine Tochter und ich, nicht die Polizei eingeschaltet haben, so kann ich Sie beruhigen. Wir haben uns an Ihre Forderung gehalten“, gab sie beherzt zurück.
„Mit wem spreche ich denn bitte überhaupt?“, ging sie in die Offensive.
„Namen sind Schall und Rauch, Frau Lange. Im Übrigen wollen wir es besser so halten, dass Sie keine Fragen stellen. Es reicht, wenn Sie Antworten geben“, parierte der Fremde ihren Versuch.
„Zudem, liebe Frau Lange, weiß ich natürlich, dass Sie die Polizei brav aus dem Spiel gelassen haben. Ich würde es immer erfahren, wenn Sie sich nicht an unsere Vereinbarung halten sollten, und das wäre ausgesprochen schlecht für Ihre Tochter“, ergänzte er mit einer deutlichen Drohung.
Erika Lange bemerkte den Widerspruch in seinen Worten. Einerseits hatte er gehofft, wie er sich ausdrückte, dass seine Forderungen eingehalten worden waren, die Polizei somit nicht eingeschaltet worden war, andererseits tat er so, als könne er sich polizeiinterne Informationen verfügbar machen. Es half ihr zwar in der Sache nicht wirklich weiter, dass sie den Bluff erkannt hatte, aber es schenkte ihr eine gewisse stille Genugtuung, die ihr mehr Sicherheit und Ruhe im Auftreten gab.
„Sie haben den Grund für Ihren Anruf noch nicht genannt“, erinnerte sie, dabei bewusst eine Formulierung in der Form einer Frage vermeidend. „Sicherlich wollen Sie etwas von mir.“
„So ist es, Frau Lange“, bestätigte der Fremde. „Ich möchte etwas von Ihnen, oder besser gesagt, ich möchte, dass Sie mir etwas besorgen.“
Er legte eine kurze, die Spannung erhöhende Sprechpause ein, bevor er fortsetzte.
„Ich weiß, dass Sie sich Zugang zu so ziemlich allen internen Unterlagen der Stadt Dortmund verschaffen können, und ich möchte, dass Sie dieses Privileg für mich nutzen und mir einen Originalvorgang beschaffen und aushändigen. Ich verlange von Ihnen die Herausgabe der Liegenschaftsakte der Stadt Dortmund zum ehemaligen Rodenbach-Grundstück an der Straße Am Lehmfeld, zu dem Grundstück also, auf dem die neue Stadthalle gebaut werden soll. Ich verlange die Herausgabe im Original, inklusive aller Verträge und so weiter, auch wenn sich diese in anderen Akten befinden sollten.“
„Das ist unmöglich, absolut unmöglich“, widersprach Erika Lange vehement.
„Das ist nicht unmöglich, liebe Frau Lange“, beharrte der Fremde, „und wenn Sie persönlich keine Möglichkeit haben sollten, so schaffen Sie eine!“
Der Anrufer sprach weiterhin sehr ruhig. Er war sich seiner Sache offenbar ganz sicher.
„Sie haben keine andere Wahl, und Sie wissen das, Frau Lange. Sollten Sie mir diese kleine Gefälligkeit nicht leisten, wird Ihre Tochter zur Pornoberühmtheit. Ob Sie das wohl verkraften würde?“
„Bis wann soll ich Ihnen die Unterlagen zusammengestellt haben?“, gab sie sich geschlagen.
„Bis zum morgigen Abend, dann erwarte ich die Übergabe!“
„So schnell wird es nicht gehen, denn ich muss den Vorgang erst beschaffen. Die Verträge werden sicherlich separat aufbewahrt, ich muss sie deshalb parallel besorgen, was aber nicht einfach sein wird und ganz bestimmt dauern wird“, versuchte sie erneut zu widersprechen.
„Sie werden es schon schaffen, Frau Lange, da bin ich mir ganz sicher. Und bedenken Sie, dass Sie keine andere Chance haben. Sollten Sie versagen, wird es Ihre Tochter ausbaden müssen.“
„Wie soll die Übergabe vor sich gehen?“
„Besorgen Sie zunächst einfach nur die erbetenen Unterlagen, alles weitere findet sich. Ich melde mich wieder bei Ihnen, und zwar exakt in vierundzwanzig Stunden“, verweigerte der Fremde eine Antwort und legte auf.
„Aufgelegt!“, dachte sie, trennte ihrerseits die Netzverbindung und legte das Mobilteil ihres Telefons beiseite. Mit sorgenvoller Miene blieb sie noch eine Weile sitzen und dachte nach.
Was sollte sie tun? Umfassend auf seine Forderung eingehen? Ja, natürlich musste sie das, es blieb ihr keine andere Wahl! Wo aber war die Grenze?
Sie hielt es nicht aus, zu grübeln und doch keinen befriedigenden Ausweg zu finden. Auch das untätige Dasitzen wurde ihr unerträglich. Sie erhob sich und ging tief in Gedanken versunken im Zimmer auf und ab. Es gab nicht die geringste Gewähr dafür, dass der Erpresser einer erfüllten Forderung nicht gleich die nächste folgen lassen würde, eine vielleicht noch weiter gehende, bis sie auf diesem Weg immer weiter in einen Sumpf geraten würde. Aber gab es denn Anhaltspunkte, die diese Gefahr realistisch erscheinen ließen? Die Forderung des Fremden war sehr konkret. Er musste einen ganz bestimmten und einmaligen Anlass für sein Verlangen haben. Diese Erwägung sprach dafür, dass sie nicht mit immer neuen Erpressungsforderungen würde rechnen müssen.
Aber was blieb ihr sonst? Keinesfalls konnte sie die Polizei einschalten. Einerseits lief sie immer Gefahr, dass der Erpresser dies erfahren und unkontrollierbar reagieren würde, andererseits musste die Arbeit der Polizei unabänderlich dazu führen, dass zumindest den Ermittlungsbeamten das für Nina demütigende Fotomaterial in die Hände fallen würde.
Gab es die Möglichkeit, dass Nina und sie offensiv mit der Sache umgingen, die Polizei einschalteten? Würde es der Erpresser wirklich darauf ankommen lassen, sich durch eine Veröffentlichung oder Weitergabe der Bilder einer Verfolgung auszusetzen, wenn ihm ein solches Handeln in der Sache nicht weiterbringen konnte, sondern nur eine Rachereaktion war? War es Nina zuzumuten, sich aber eben dieser Gefahr auszusetzen?
Es gab keinen Zweifel, sie musste sich der Erpressung beugen.
Wie es Nina wohl ging? Sie hatte ihre Tochter gebeten, den Abend über nicht bei ihr anzurufen, damit die Leitung nicht für den Fremden blockiert sein würde. Gewiss würde Nina wissen wollen, was dieser von ihr verlangte. Sie griff erneut zum Telefon, legte es dann aber sogleich wieder zurück. Womöglich schlief Nina bereits, um sich von den Ereignissen des Tages zu erholen. Es wäre nicht gut, wenn sie ihre Tochter aus dem Schlaf reißen würde. Sie würde morgen anrufen, gleich morgen früh!