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19 – Alex IV

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Stunde um Stunde war vergangen, ohne dass sich Alexander Schröders Hoffnung, der Fremde werde alsbald seine Seite im Internet kontrollieren, erfüllt hatte.

Die Ereignislosigkeit hatte das Warten für ihn zur Tortur gemacht. Zwischendurch hatte er Nina ein weiteres Mal anzurufen versucht, weil er sich um sie gesorgt hatte, sie aber nicht erreicht. Es war irgendwann am Nachmittag gewesen.

Er hatte gearbeitet, dann gelesen, um bald darauf doch wieder zu arbeiten. Er hatte ferngesehen, sich etwas zu essen bereitet, wieder gearbeitet, gewartet und gewartet. Irgendwann nach einem kaum enden wollenden Tag war es Abend geworden, und Alex hatte noch immer gewartet.

Der Aschenbecher war inzwischen mehr als randvoll gewesen. Er hatte ihn ausleeren und sich zugleich einen starken Kaffee kochen wollen, um seine zunehmende Müdigkeit zu vertreiben. Er hatte die Lautstärke an seinen noch stummen PC-Boxen weit nach oben gedreht, um ein Signal auch von der Küche aus vernehmen zu können, und den Ascher so vorsichtig und bedächtig vor sich her getragen, dass nichts von dessen Inhalt herausfallen oder von einer Luftbewegung hinaus gepustet werden konnte. Er hatte es fast geschafft und die Küchenspüle, hinter deren Tür sich der Mülleimer verbarg, erreicht, als ihn ein lauter Pington aus seiner Vorsicht gerissen und er den Ascher mit einer so plötzlichen Bewegung fast mehr auf die Spüle geworfen als nur unsanft gestellt hatte, dass mehrere Zigarettenstummel auf den Boden gefallen waren, denen ein Ascheschnee nachgerieselt war. Er war zum PC zurück gestürzt, hatte erkannt, dass sich der Fremde soeben eingeloggt hatte und der von ihm installierte Trojaner zuverlässig dessen IP mitgeteilt hatte, die nun in einem Fenster auf dem Bildschirm gestanden hatte. In aller Eile hatte er sich auf eine Ecke der Sitzfläche seines Schreibtischstuhls gehockt, den er sich nicht erst zurecht rücken können hatte. Er hatte die IP in das Eingabefeld eines bereits im Hintergrund geöffneten Programms gehämmert und die Tastatur dann in einer Weise bearbeitet, die an ein Trommelfeuer erinnert hatte, immer wieder abgelöst von einem Blick auf die Meldungen auf dem Bildschirm und gelegentlichen Mausklicks zum Öffnen und Schließen von Programmen und Fenstern.

„Hab dich an der Angel, alter Freund“, hatte er vor sich hin geflüstert, sein reges Treiben dabei nicht unterbrechend.

„Lokalisiert, Computer übernommen, und“, hatte er sich für einen Moment des Wartens unterbrochen, um unmittelbar darauf triumphierend auszurufen: „Systeminformationen und Cookies geklaut!“

Er hatte nicht gewagt, noch weitere Daten auf den eigenen PC zu ziehen, da er damit rechnen musste, dass der Fremde jeden Moment die Verbindung zum Internet trennen konnte, bevor er sein Hauptziel, die Beseitigung der Daten auf dem fremden PC, erreicht hatte.

„Platte wird formatiert!“ Er hatte seinen Oberkörper aufgerichtet, erleichtert tief ausgeatmet, in die Hände geklatscht und dann die Verbindung getrennt, um die angelegte Log-Datei, in die das System alle Datentransfers protokolliert hatte, zu öffnen.

„Wunderbar!“, hatte er sich gedacht, während er nach kurzem Blick am Bildschirm den Befehl zum Ausdrucken gegeben hatte.

Gleich darauf hatte der Drucker die erste Seite ausgegeben, die Alex prüfend Zeile um Zeile durchgegangen war. Er hatte den Vorgang mit den beiden Folgeseiten wiederholt, dann aber am Ende der Einträge auf dem dritten Blatt gestutzt.

„Was ist das denn?“, hatte er erneut vor sich hin geflüstert und gespürt, dass ein gewisses Unbehagen in ihm aufstieg.

„One internet alert accepted“, hatte dort schwarz auf weiß gestanden. Damit hatte er nicht gerechnet. Offensichtlich hatte der Fremde den Ausspähversuch erkannt oder er war von seinem System gewarnt worden, denn er hatte seinerseits den Weg der Daten bis zu ihm zurück verfolgt. Alex hatte zu erkennen geglaubt, dass der Gegenüber nicht abschließend erfolgreich gewesen, seine eigene Trennung also gerade noch rechtzeitig erfolgt war.

„Ist jetzt ohnehin nicht zu klären und auch nicht mehr zu ändern“, hatte er sich gedacht. Außerdem, so hatte er gehofft, dürfte der Fremde durch das Formatieren der Festplatte ohnehin alle Daten verloren haben. Ein letztes Restrisiko bestand darin, dass Informationen vom Bildschirm notiert oder auf einem anderen Medium abgespeichert worden sein konnten, doch diese Gefahr hatte er als gering eingeschätzt. Allerdings hatte er sich doch eingestehen müssen, dass er sein ungutes Gefühl nicht ganz ablegen konnte.

Er war kurz noch einmal online gegangen, um die überflüssig gewordene Email des Trojaners aus dem Postfach des extra hierfür eingerichteten Accounts zu löschen und unmittelbar darauf auch diesen selbst aufzugeben, um die Spuren, die zu ihm führen konnten, zu verwischen. Er hatte sich eine Zigarette angezündet, war in die Küche gegangen, um den Aschenbecher auszuleeren und die auf die Erde gefallenen Stummel sowie die Asche zusammen zu kehren, und hatte sich wieder an seinen PC gesetzt. Einen Kaffee hatte er nicht mehr gebraucht, er war wieder hellwach gewesen.

Seine Hoffnung, dass er über die erspähten Systeminformationen und über die als Cookies bekannten Textdateien, die von Webseiten auf Computern der Besucher gespeichert werden, Aufschluss über die Identität erlangte, war rasch enttäuscht worden. Das Betriebssystem war auf einen Alibinamen „Odysseus“ registriert worden und das Verzeichnis „Cookies“ war gänzlich leer gewesen. Offenbar hatte der Fremde das Speichern dieser Dateien generell unterbunden gehabt.

So war ihm nichts anderes übrig geblieben als sich beim Provider des Fremden einzuhacken und dessen Kundendatei auszuspionieren, um über die erspähte IP die Personendaten des anderen zu erfahren. Nina würde sicher unendlich überrascht sein, wenn er ihr sogar die Identität des Peinigers schon so schnell bezeichnen können würde und nicht allein die Bilder aus dem Internet verschwunden waren.

Er hatte sich vergewissert, dass seine Firewall aktiv war und deren Einstellungen dafür sorgten, dass er sich unsichtbar im Netz bewegte. Sodann hatte er erneut die Netzverbindung hergestellt, seine Spezialsoftware gestartet und versucht, sich Zugang zu den Kundendaten des Providers zu verschaffen. Allen Versuchen zum Trotz war er immer an derselben Stelle hängen geblieben, an der es zu Sicherheitsabfragen kam, die er zu umgehen trachtete. Völlig in seine Bemühungen vertieft hatte er alsbald jegliches Gefühl für die Zeit verloren.

Es mussten Stunden vergangen sein, als ihn plötzlich das Anschlagen des Haustürgongs aufschreckte. Ungläubig schaute er auf seine Armbanduhr. Es war drei Uhr in der Frühe.

„Wenn sie immer noch so verrückt wie früher ist, dann kann es nur Nina sein! Wer sonst?“, dachte er sich, ging zur Wohnungstür und wollte gerade den Sprechknopf der Türsprechanlage betätigen, als der Gong ein zweites Mal die Stille durchbrach.

„Ja bitte?“, fragte er in das Mikrofon.

„Kripo Dortmund“, kam es zurück, und der Sprecher ergänzte seine Meldung noch um einen Namen, den Alex jedoch nicht richtig verstand.

„Sagen Sie, wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?“, fragte er entgeistert, um dann mit ärgerlichem Unterton fortzusetzen: „Kommen Sie morgen wieder!“

Er war nicht bereit, mitten in der Nacht Polizisten in seine Wohnung zu lassen.

Der Sprecher aber blieb hartnäckig.

„Herr Schröder, wir möchten ebenso wie sie, dass kein Aufsehen erregt wird, machen Sie also bitte die Tür auf!“

„Was wollen Sie denn von mir?“

Der Sprecher wartete einen Moment mit seiner Antwort. Alex hatte das Gefühl, dass er sich erst überlegen musste, ob er den Anlass des Besuchs an der Haustür preisgeben durfte.

„Es geht um Ihre illegalen Internetaktivitäten, die wir erkannt und protokolliert haben“, sagte er endlich, und ergänzte: „Wir haben Sie auf frischer Tat ertappt. Wenn Sie nicht öffnen, müssen wir uns gewaltsam Zutritt verschaffen, um Beweise zu sichern. Öffnen Sie also bitte!“

„Mist, das waren die Bullen, die mich ausgespäht haben!“, schoss es ihm durch den Kopf. „Es war deren Zugriff auf mein System, der in meinem Protokoll gestanden hat. Das hat mir gerade noch gefehlt! Und ich Idiot habe vorschnell geglaubt, dass ich den Typen erwischt habe!“, warf er sich vor.

„Okay, wenn es denn unbedingt sein muss“, gab er widerwillig nach.

„Aber nur kurz, bitte sehr!“

Er löste den Öffner für die Haustür aus und trat durch die Wohnungstür ins Treppenhaus hinaus. Die Polizisten sollten nicht auch noch an der Wohnungstür läuten müssen, was die Nachtruhe der Nachbarn zusätzlich stören konnte. An ein Verstecken seines Computers und ein Beseitigen aller Beweismittel war ohnehin nicht mehr zu denken.

Die automatische Treppenhausbeleuchtung war bereits angesprungen und von unten erklangen leise Trittgeräusche.

„Wenigstens versuchen sie besonders leise zu sein“, erkannte er an.

Augenblicke später erschienen die beiden Herren, als sie die letzte Kehre der Treppe auf dem Weg ins zweite Obergeschoss hinter sich gelassen hatten.

Zivile, dachte er sich. Beide Herren waren farblos, aber korrekt gekleidet.

„Ich möchte bitte zunächst Ihren Dienstausweis sehen!“, empfing Alex seine ungebetenen Gäste.

„Das ist Ihr gutes Recht“, erklärte der ihn zuerst erreichende und mit einem Akzent sprechende Polizist, fuhr mit der Hand in die Innentasche seiner Jacke und holte eine Brieftasche heraus. Im Gehen schlug er diese auf, passierte dabei Alex und die geöffnete Wohnungstür und stand unvermittelt im Flur.

„He, erst Ihren Ausweis!“, protestierte Alex flüsternd.

Der Polizist blieb im Flur stehen.

„Ja, natürlich doch, immer mit der Ruhe! Wir wollen doch niemanden aufwecken!“

Alex folgte ihm in seine Wohnung, seinerseits vom zweiten Polizisten verfolgt, der sich von Alex unbemerkt weiße Stoffhandschuhe überstreifte und dann die Wohnungstür hinter Ihnen schloss.

Ohne dass Alex auch nur die geringste Chance zur Gegenwehr hatte, trat der zuletzt Eingetretene von hinten an ihn heran, und während Alex immer noch zusah, wie der andere zur Ablenkung umständlich in seiner Brieftasche kramte, fasste ihm der Zweite mit der linken Hand brutal in die Haare, zog seinen Kopf nach hinten und hielt ihm zugleich mit der rechten Hand den Mund zu.

„Keinen Laut!“, drohte er.

Im Bruchteil einer Sekunde wurde Alex sein verhängnisvoller Fehler bewusst, vorschnell der Erklärung der Männer Glauben geschenkt zu haben, von der Polizei zu sein.

Der Angreifer nahm die Hand von Alex Mund. Einen Augenblick später hielt er ein langes Messer in seiner rechten Hand und setzte es Alex an der ihm abgewandten Seite so an den Hals, dass die Schneide dessen Haut berührte.

„Bist du allein?“, zischte er und als Alex zunächst schluckte und nicht sogleich antwortete, drückte er ihm das Messer so tief in die Haut, dass schon eine Schnittverletzung drohte.

„Ja, ich bin allein! Was wollt ihr?“

Seine Frage wurde ignoriert. Der Begleiter steckte die Brieftasche wieder ein und streifte sich nun ebenfalls weiße Stoffhandschuhe über, während er nacheinander alle Räume der Wohnung inspizierte, um dann zu seinem Komplizen zurück zu kehren.

„Es ist niemand sonst da“, meinte er leise. „Der Computer steht dort vorn“, ergänzte er mit dem Arm zum Arbeitszimmer zeigend.

Der Mann mit dem Messer zog Alex´ Haare zugleich hoch und noch weiter nach hinten, und zwang ihn, das Messer nicht von seinem Hals nehmend, in kleinen Schritten in das Arbeitszimmer. Der Zweite nahm die ausgedruckte Log-Datei zur Hand, die Alex neben den Monitor gelegt hatte.

„Interessant!“, meinte er nach einem kurzen prüfenden Blick darauf. Unter den Augen von Alex und dem Messerträger setzte er sich an den PC und durchforstete die verschiedenen Ordner nach den darin abgelegten Daten.

„Er ist unser Mann“, stellte er dann fest und Alex war klar, dass dies nichts Gutes für ihn bedeuten konnte.

„Warum hast du uns nachspioniert und unsere Seiten gelöscht?“

Mit durchdringenden Augen sah er Alex an.

„Ich hätte es nicht tun sollen!“, versuchte der zu beschwichtigen. „Ich bin einfach darauf gestoßen und konnte nicht widerstehen, eure Seite zu hacken.“

Der Fremde sah ihm schweigend und regungslos einige weitere Sekunden ins Gesicht. Er schien nachzudenken, ob er der Beteuerung seines Opfers glauben konnte, ob es der Zufall zulassen können hatte, dass die Daten im selben Ort gehackt worden waren, von dem aus sie ins Internet gestellt worden waren.

„Deinen PC und deine Datenträger werden wir dir entführen müssen“, meinte er dann, während er sich erhob und auf Alex zu trat. Direkt vor ihm blieb er stehen und grinste breit. Alex zitterte vor Aufregung.

„Es wird dir aber nichts davon wirklich fehlen, denn du brauchst nichts mehr!“

Blitzschnell wurde Alex bewusst, dass die beiden Eindringlinge es nicht dabei bewenden lassen würden, seinen PC zu stehlen und ihm einen Denkzettel zu verpassen. Sie wollten mehr! Sie wollten sein Leben!

Er riss den rechten Arm hoch, um den Arm des Messerträgers bei Seite zu stoßen und dann ins Treppenhaus zu flüchten, aber er kam nicht dazu. Völlig skrupellos stach der Gewalttäter das Messer tief in Alex´ Hals und schnitt ihm im gleichen Atemzug die Kehle durch. Stumm und mit weit aufgerissenen Augen knickten Alex die Beine weg und er fiel in sich zusammen, wurde aber vom zweiten Mann aufgefangen. Vorsichtig ließ der ihn zu Boden gleiten, um möglichst keine Geräusche zu verursachen, die in anderen Wohnungen Aufmerksamkeit auslösen konnten. Zu zweit trugen ihn die Männer in den Flur, wo er ihnen nicht im Weg lag.

Während Alex sterbend auf dem Flurboden lag, ließen die Verbrecher von ihm ab und begaben sich wieder ins Arbeitszimmer. Ohne auch nur den geringsten Eindruck von Hektik oder zumindest Eile zu vermitteln, gingen sie arbeitsteilig und nach einem offensichtlich zuvor gefassten Plan vor. Während der eine den Netzstecker des Computers zog, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, diesen vorher auszuschalten, zerrte der andere eine mitgebrachte Plastiktasche aus der Hosentasche und verstaute alle CDs und Disketten darin, die er auf und im Schreibtisch fand und die offensichtlich als Speichermedium für Alex persönliche Daten verwendet worden waren. Alle anderen CDs stapelte er achtlos nach einem kurzen prüfenden Blick auf dem Schreibtisch. Zuletzt kontrollierte er einige Hüllen von kommerziellen Programmen, um sicher zu gehen, dass Alex in diesen keine eigenen Daten-CDs versteckt hatte.

„Der Knabe hat sich sehr sicher gefühlt“, meinte er dann leise zu seinem Komplizen, als er keinerlei Anzeichen dafür fand, dass Alex Datenträger versteckt haben könnte.

„Zu sicher“, stellte der andere fest, während er kurz aufsah und überheblich grinste.

Alex Mörder zog seine Handschuhe aus, von denen der eine blutgetränkt war, und steckte sie in die Hosentasche. Sein Begleiter behielt seine Handschuhe an.

Der Mörder nahm den PC unter den Arm, während sein Komplize die Plastiktüte mit den Datenträgern an einer Hand tragend noch einen letzten flüchtigen Blick durch das Zimmer und das Wandregal warf. Da er nichts Auffälliges bemerkte, gab er dem Mörder das Signal zum Aufbruch. Am inzwischen toten und in einer großen Blutlache liegenden Alex vorbei gingen sie betont vorsichtig zur Wohnungstür, um möglichst jedes Trittgeräusch zu vermeiden. Nach einem jeweils kurzen Blick zunächst durch den Türspion und dann durch einen Spalt der vom Handschuhträger vorsichtig geöffneten Tür verließen sie die Wohnung, deren Tür fast lautlos hinter sich ins Schloss ziehend. Die Treppenhausbeleuchtung sprang an. Ohne einem Hausbewohner oder Besucher zu begegnen, verließen sie das Gebäude so leise wieder wie sie gekommen waren.

Im Bann des Augenblicks

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