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3 - Warten

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Erika Lange ging weiterhin ruhelos in der Wohnung ihrer Tochter auf und ab, ständig darauf bedacht, dass sie sowohl jederzeit das Läuten des Telefons hören als auch aufmerksam werden würde, wenn sich etwas an der Wohnungstür tat. Zwischendurch schaute sie immer wieder durch das der Anliegerstraße zugewandte Wohnzimmerfenster hinab auf die Straße und den Gehsteig, jeweils in der Hoffnung, die Tochter nahen zu sehen.

Ninas kleine Wohnung, die aus zwei Zimmern mit Küche und Bad bestand, verriet in Einrichtung und Gestaltung Geschmack und Stil. Sie hatte sich dieses Zuhause geschaffen, nachdem sie sich vor knapp zwei Jahren, kurz nach ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag, von ihrem damaligen Lebensgefährten Alex getrennt hatte. Es passte gut zu ihr.

Sie hatte den größten Teil der Einrichtung nach der Trennung neu beschaffen müssen. Es war für sie ein finanzieller Kraftakt gewesen, die vom Vermieter geforderte Kaution sowie die für die Renovierung und für die Einrichtung notwendigen Mittel aufzubringen. Auch in den Monaten darauf hatte sie so manchen Teil ihres Einkommens als Erzieherin für die weitere Gestaltung der Wohnung ausgegeben. Alle Angebote auf eine finanzielle Unterstützung hatte sie strikt abgelehnt. Nina war stolz auf ihre Selbstständigkeit und nahm lieber finanzielle Engpässe in Kauf als auch nur die Spur einer Abhängigkeit von ihrer Mutter.

Der größte Raum war das Wohnzimmer. Zwar war auch dessen Wohnfläche nicht gerade großzügig bemessen, doch hatten ein großes Sofa, zwei Sessel, ein Tisch, eine offene Regalwand mit Fernseher und Musikanlage und sogar ein Schreibtisch mit Computer darin Platz gefunden, ohne dass der Raum einen überfüllten Eindruck machte. Mehrere gerahmte unterschiedlich große Drucke offenbarten ihre Vorliebe für die Kunst Salvatore Dalis. Sie hatte die Bilder über die Wände verteilt und dabei auch eine größere Wandfläche nicht ausgespart, die von einem Fach der Regalwand umkränzt war. Etliche Figuren, vor allem Eulen und Clowns, die überwiegend aus Gips oder Ton gefertigt sein mochten, hatte sie in deren Fächern platziert.

Zahlreiche in der Regelwand aufgestellte Bücher, geordnet, aber in Gruppen verteilt, verrieten ihre Lust am Lesen. Mehrere bunte Glaskugeln, die sie vor einiger Zeit vom Besuch einer Glasbläserei in Bayern mitgebracht hatte, baumelten an Nylonschnüren in einer Zimmerecke von der Decke herab, zwei weitere Kugeln hatte sie in das Fenster gehängt. Diese allerdings waren vom Raum aus kaum zu sehen, da sie von der Gardine verdeckt wurden. Nina hatte damals beim Bezug der Wohnung lange mit sich gerungen, ob sie eine Gardine anbringen sollte oder nicht. Eigentlich hatte sie diese noch nie gemocht, sich dann aber doch dafür entschieden. Sie würde sich vornehmlich in diesem Zimmer aufhalten, so hatte sie überlegt. Ohne Gardinen wäre der Raum von den Wohnungen der auf der gegenüber liegenden Straßenseite stehenden Häuser aus vollständig einsehbar gewesen.

Der Parkettfußboden gab dem Raum eine eigene Atmosphäre, wie sie eben nur von einem Parkettfußboden vermittelt werden kann. Ein Läufer, den Nina knapp außerhalb des Drehbereichs der Wohnzimmertür ausgelegt hatte, sorgte einerseits für Wohnlichkeit und minderte darüber hinaus den Trittschall.

Auf dem Schreibtisch hatte sie das gerahmte Porträt ihres Freundes Benjamin, von ihr immer zärtlich Ben genannt, aufgestellt, mit dem sie inzwischen deutlich länger als ein Jahr zusammen war. Ein weiteres Portrait von ihm stand in der Regalwand, wo sie zudem ein Bild ihrer Eltern, Erika und Rolf Lange, aufgestellt hatte, das aus der Zeit vor deren Scheidung stammte. Ein jünger datiertes Einzelbild ihrer Mutter hatte daneben seinen Platz gefunden.

Das Wohnzimmer machte wie immer einen überaus gepflegten Eindruck. Nina war von Kindesbeinen an sehr ordnungsliebend gewesen und legte größten Wert auf die Sauberkeit ihres Zuhauses.

Erika Lange registrierte ihre Eindrücke zwar flüchtig, verdrängte die sich damit verknüpfenden Gedanken jedoch wieder, obwohl ihr diese eine wohltuende Ablenkung verschafften. Sie hatte im Moment kein wirklich interessiertes Auge für die Wohnung, und sie wollte jetzt auch keins haben!

Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen war, obwohl kaum mehr als 30 Minuten vergangen sein mochten, hörte sie, dass von außen ein Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür gesteckt wurde. Sie hatte soeben wieder an das Fenster treten und den nächsten der ungezählten Blicke auf die Straße hinunter werfen wollen. Nun sah sie, wie die Tür für einen Spalt geöffnet wurde und hörte, dass der Schlüssel wieder aus dem Schloss gezogen wurde. Während sie mit kurzen schnellen Schritten und in der bangen Hoffnung, dass Nina erscheinen möge, dem Eingang entgegen strebte, öffnete sich die Wohnungstür ganz und sie erkannte mit unendlicher Erleichterung, dass tatsächlich ihre Tochter eintrat.

„Endlich!“, rief sie ihr entgegen und ging mit weit ausgebreiteten Armen auf sie zu, um sie zu umarmen.

Nina erschrak beim Anblick der Mutter. Einen Moment lang blieb sie stehen, so als ob sie unschlüssig wäre, wie sie sich verhalten sollte. Dann aber machte sie die zwei oder drei fehlenden Schritte auf die Mutter zu, während sie von einem heftigen Weinkrampf erfasst wurde, und fiel ihr in die Arme.

„Was ist los, Nina?“, fragte Erika Lange erregt, während sie mit ihrer rechten Hand den Hinterkopf der Tochter umfasste und deren Stirn dann fest an ihre Schulter presste.

„Kind, so sprich doch! Was ist passiert? Was hast du denn?"

Nur mit Mühe schaffte es Nina, eine Antwort zu schluchzen.

„Ach Mutti, es ist so schrecklich!"

Was ist denn passiert?“, drang die Mutter weiter auf sie ein.

„Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber..." unterbrach sich die Tochter, während sie sich langsam aus der Umarmung löste. „Ich muss mich jetzt erst setzen. Holst du mir bitte ein Glas Wasser?"

Erika Lange zögerte kurz, gab dann der Wohnungstür einen Stoß, sodass sie ins Schloss fiel, und eilte in die Küche. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es aus einer bereits angebrochenen Flasche mit Mineralwasser, welche sie ihm Kühlschrank fand. Nina schlich während dessen ins Wohnzimmer und ließ sich dort in das Sofa fallen. Im nächsten Moment kniete die Mutter vor ihr, reichte ihr das Glas Wasser und forderte sie erneut ungeduldig zum Sprechen auf.

„Kind, nun sag doch endlich, was los ist!"

„Moment!“, bat Nina um ein paar Sekunden Zeit und trank das Glas vollständig aus, wobei sie darauf Acht geben musste, dass sie sich nicht wegen des Schluchzens verschluckte.

„Ich weiß nicht, was passiert ist, Mama", begann sie sodann, das bohrende Verlangen der Mutter um Information jedoch kaum befriedigend. „Ich weiß nur, dass es schrecklich gewesen ist. Erst dachte ich, ich sei vergewaltigt worden, aber nun glaube ich es nicht mehr."

Sie musste einen Moment innehalten, weil eine neuerliche Weinattacke über sie kam. Recht schnell aber hatte sie sich wieder so weit unter Kontrolle, dass sie fortsetzen konnte.

„Ich fand mich nur auf dem Boden einer Lagerhalle irgendwo im Bereich Berliner Straße, Industriestraße. Ich lag auf dem Boden, als ich wach wurde, und war völlig nackt, und auch leicht am Rücken verletzt."

"Du warst nackt? Warum warst du nackt, woraus bist du erwacht, und wie bist du in die Halle gekommen?"

„Ich weiß es doch nicht, ich sage es dir doch!“, entgegnete Nina ungehalten, um dann, immer wieder durch ein Schluchzen unterbrochen, fortzusetzen. „Ich bin auf jeden Fall entführt worden, denn das Letzte, was ich noch weiß, ist, dass ich mein Auto aus der Tiefgarage unter dem Theaterplatz holen wollte, als mir jemand plötzlich von hinten ein süßlich riechendes Tuch auf Mund und Nase gedrückt hat. Ab da fehlen mir sämtliche Erinnerungen bis zu dem Moment, als ich am Boden liegend wach geworden bin."

Erika Lange kniete weiterhin vor ihrer Tochter und streichelte ihr unbewusst und nur aus einem mütterlichen Gefühl heraus den linken Arm. Sie fühlte sich hilflos, unendlich hilflos. Angst und Sorge wollten nicht von ihr weichen, denn zu ungewiss waren die Hintergründe dessen, was die Tochter hatte erleben müssen. Ihre Kehle war nun wie zugeschnürt, sie hätte kein Wort über ihre Lippen gebracht, selbst wenn sie eine Idee gehabt hätte, womit sie ihre Tochter aufrichten und stützen konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, sie zu quälen. Tränen liefen ihre Wangen hinunter.

Die beiden Frauen verharrten einige Augenblicke in ihren Positionen, ohne ein einziges weiteres Wort zu wechseln.

„Wieso bist du eigentlich hier in meiner Wohnung, wieso warst du schon da, als ich kam?“, fragte Nina unvermittelt. Sie gewann langsam ihre Fassung zurück, und so wurde ihr nunmehr das ungewöhnliche Verhalten der Mutter bewusst. Nur die gelegentlichen reflexhaften Atemzüge, die gewöhnlich einem heftigen Weinkrampf folgen, sowie ihre geröteten Augen erinnerten noch an die vergangenen Minuten.

Erika Lange sah in die fragenden Augen der Tochter, sie schluckte mehrfach kräftig, um das Gefühl der zugeschnürten Kehle zu überwinden und ihre Sprache wieder zu erlangen. Es vergingen etliche Sekunden, während derer sich die beiden Frauen stillschweigend ansahen.

„Ich bin von einem Mann hierher dirigiert worden. Erst hat er auf meinen Anrufbeantworter gesprochen, dann hatten wir auch ein persönliches Gespräch am Telefon. Zunächst hat er verlangt, dass ich in meiner Wohnung auf seinen zweiten Anruf warte, und dann im persönlichen Gespräch, dass ich mich in deine Wohnung begebe und dort auf dich warte."

Sie verkürzte ihre Schilderung auf ein zum oberflächlichen Erfassen notwendiges Minimum.

„Wer war der Mann und was bezweckt er?“, fragte Nina, obwohl ihr klar war, dass die Mutter keine befriedigenden Antworten für sie haben würde.

„Ich weiß es nicht," machte diese Ninas Annahme zur Gewissheit. „Er hat verlangt, dass ich hier in deiner Wohnung auf einen neuerlichen Anruf von ihm warte. Wahrscheinlich wird er dann mit der Sprache herausrücken und offenbaren, was er von mir oder von uns will."

„Er will hier bei mir anrufen und dann dich sprechen?“, fragte Nina. Sie hatte das Gefühl ohnmächtig Abläufen gegenüber zu stehen, von denen sie noch nichts verstanden hatte.

„So hat er es gesagt", bestätigte ihre Mutter. „Und er hat mich eindringlich davor gewarnt, die Polizei einzuschalten, da er dir sonst schweren Schaden zufügen würde."

Die Frauen schwiegen erneut für ein paar Sekunden. Die jüngsten Geschehnisse hatten Eindrücke und Gefühle aufgebaut, die nicht einfach in Minuten verarbeitet werden konnten.

Unversehens sprang Nina, die sich von der eingetretenen Stille bedrängt fühlte, auf.

„Was bildet sich dieser Kerl ein?“, entrüstete sie sich. Sie schritt zum Fenster und sah auf die Straße hinab, so wie es auch Erika Lange während des Wartens auf ihre Tochter unzählige Male getan hatte, um sich sogleich wieder abzuwenden und plan- und ziellos im Zimmer hin und her zu gehen.

„Diese Warterei macht mich verrückt!“

Erika Lange stand auf und stellte sich ihrer Tochter in den Weg, um ihr sodann beide Hände auf die Schultern zu legen.

„Quäl dich nicht noch mehr, mein Schatz!“, versuchte sie auf Nina einzuwirken, obwohl sie sich eigentlich selbst in einer Verfassung befand, in der sie Zuspruch benötigte.

Nina verhielt für einen Augenblick, wand sich dann jedoch aus den Armen der Mutter und ging zurück zum Fenster.

„Ich quäle mich nicht!“, rief sie barsch aus. „Ich bin gequält worden und ich werde gequält!“

„Vielleicht will der Unhold doch nur erreichen, dass wir in Panik geraten“, versuchte ihre Mutter eine Erklärung, von der Sie jedoch bereits vor dem Aussprechen wusste, dass diese nur den Charakter einer Beschwichtigung, nur den Wert einer Illusion haben konnte.

„Der Kerl will mehr! Wer solche Anstrengungen unternimmt, will nicht einfach nur Panik auslösen!“

Sie ging wieder auf ihre Mutter zu und blieb direkt vor ihr stehen, um ihr ernst in das Gesicht zu sehen.

„Der Dreckskerl lässt uns warten. Das macht er ohne Zweifel bewusst, aber damit wird es nicht getan sein. Wenn jemand zu solchen Mitteln greift, dann geht von ihm eine schlimme Drohung aus! Da kommt etwas Schreckliches auf uns zu, glaub mir! Der hält etwas für uns bereit, vor dem wir uns schon im Vorfeld ängstigen dürfen! Ich weiß, dass uns etwas droht, aber ich weiß nicht, was es ist. Diese Ungewissheit macht mich verrückt!“

Im Bann des Augenblicks

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