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10 – Nacht und Morgen danach

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Nina verbrachte eine unruhige Nacht. Sie wachte mehrfach auf und immer wieder kreisten ihre Gedanken sofort um die Erlebnisse des Vortages. Und in jeder Phase zumindest oberflächlichen Schlafs quälten sie die Ereignisse auch noch im Traum, von ihr dann sogar noch tiefer und fesselnder empfunden.

Doch so sehr sie sich während der Wachphasen die Erinnerungslücken zu füllen bemühte, die den Zeitraum zwischen dem Moment, als sie ihr Auto am Vortag aus der Tiefgarage unter dem Theaterplatz holen wollte und ihr plötzlich jemand von hinten ein süßlich riechendes Tuch auf Mund und Nase drückte, und jenem, als sie sich auf dem Boden der Lagerhalle liegend fand, es gelang ihr nicht. Die Vorgänge während dieses Zeitraums blieben ihr verschlossen.

„Der Kerl wird mich in die Halle verschleppt, ausgezogen und fotografiert haben, fertig!“, hatten letztlich ihre Vernunft und ihre Fantasie gemeinsam die Rolle der Erinnerung übernommen.

Obwohl ihr klar gewesen war, dass diese Version ebenso zutreffend wie lückenhaft sein konnte, hatte sie sich sogleich etwas besser gefühlt. Sie hatte ihr ein gewisses Gefühl von Sicherheit gegeben, hatte zumindest die Ungewissheit, was ihr alles widerfahren sein konnte, ein wenig zu vertreiben vermocht.

Normalerweise liebte sie es, morgens lange zu schlafen, wenn es ihr der neue Tag erlaubte. Nie dachte sie daran, das Bett ausgesprochen früh zu verlassen, auf dessen wohlige Wärme und Gemütlichkeit zu früh zu verzichten und das Gefühl der Geborgenheit aufzugeben, doch heute war alles anders. Sie mochte gerade wieder etwa eine Stunde geschlummert haben, als sie erneut erwachte. Überdreht und erschöpft fühlte sie sich, nicht wie üblich ausgeschlafen und erholt. Zudem hatte sie heftige Kopfschmerzen. Sie knipste das Licht der Nachttischlampe ein, stand auf und zog die Vorhänge zur Seite. Es war kurz nach fünf Uhr, draußen war es noch nicht genügend hell, sodass sie das Licht noch nicht wieder löschen konnte.

Sie hoffte, dass es ihr nach dem Aufstehen zumindest phasenweise gelingen würde, die marternden Gedanken zu verscheuchen oder zumindest zu unterdrücken. Im Bett jedenfalls hätte sie keine Chance dazu gehabt. Vielleicht würde es ihr nach dem Aufenthalt im Bad, einer anschließenden Tasse Kaffee und einer Kopfschmerztablette besser gehen.

Sie duschte lange; eine Zeit lang blieb sie einfach regungslos stehen und fühlte nur den Strahl auf ihren Körper treffen und ablaufen. Irgendwann aber hatte sie genug davon, drehte das Wasser ab, langte aus der Duschkabine heraus nach einem Badetuch, trocknete sich damit ab und stieg dann aus der Kabine heraus. Das Badetuch noch in der Hand haltend stellte sie sich vor den leicht beschlagenen Wandspiegel und schaute sekundenlang in das Abbild ihres Gesichtes.

„Warum, und warum ich?“, fragte sie sich leise.

Als sie ihre morgendliche Toilette abgeschlossen hatte, machte sie sich daran, die Kaffeemaschine herzurichten und sich eine Scheibe Weißbrot zu toasten.

Es war noch viel zu früh, um ihre Mutter anzurufen und zu fragen, ob sich der Fremde wie angekündigt noch einmal gemeldet hatte und was er von ihr wollte.

„Ob die Bilder wohl noch im Netz stehen?“, schoss es ihr unvermittelt durch den Kopf, während die Kaffeemaschine gluckernd die letzten Tropfen des Wassers in den Filter prustete. Die Frage ließ ihr keine Ruhe. Sie ging ins Wohnzimmer und schaltete im Stehen den Computer und den Monitor ein. Während das System hochfuhr, holte sie sich eine Tasse Kaffee aus der Küche. Sodann startete sie den Browser und stellte auf dessen Aufforderung den Netzzugang her. Sekunden später hatte sie ihre übliche Eingangsseite auf dem Bildschirm.

Vom letzten Internetbesuch hatte sie die Adresse der Seite, auf der die für sie schrecklichen Bilder eingestellt waren, noch im Gedächtnis, sodass sie diese nun schnell und einfach wieder aufsuchen konnte. Ihr war bewusst, dass sie kaum auf eine Änderung hoffen durfte. Warum sollte ihr Peiniger den Schmutz aus dem Netz genommen haben?

Der Browser suchte bereits ungewöhnlich lange. Die Netzverbindung schien im Augenblick nicht die beste zu sein.

„Ungewöhnlich für einen so frühen Morgen, dass der Datenfluss so langsam vonstatten geht“, stellte sie fest. Oder war vielleicht nicht eine schlechte Verbindung für das lange Laden des Browsers verantwortlich, sondern das Fehlen der gesuchten Seite? Hatte Alex vielleicht schon Erfolg gehabt?

Es war mehr die Motivation gewesen, sich zu vergewissern, ob eine Änderung der Verhältnisse eingetreten war, denn eine Hoffnung darauf, die sie zum Onlinegang getrieben hatte. Jetzt aber stieg gerade diese Hoffnung in ihr auf und ließ sie in fast schon banger Erwartung auf den Bildschirm starren.

Plötzlich aber erschien doch die Nina bereits bekannte Passwortabfrage; enttäuscht und mit mechanisch anmutenden Bewegungen tippte sie das Passwort „tabulos“ ein, um sich dann jedoch nach dem Erscheinen des dunkelblauen Hintergrundes mit dem Bildrahmen den weiteren Anblick zu ersparen, die Verbindung zu unterbrechen und den Computer wieder herunter zu fahren. Es war keine Änderung eingetreten, Alex hatte noch nichts erreicht.

Es war auch noch zu früh, um ihn anzurufen. Er würde wahrscheinlich ohnehin bis in den späten Abend oder in die Nacht hinein am PC gesessen haben, so wie sie ihn von früher kannte. Ein Anruf jetzt würde ihn sicherlich aus dem tiefsten Schlaf reißen.

Mit ihrer zur Hälfte geleerten Kaffeetasse ging sie in die Küche zurück, zog die inzwischen erkaltete Scheibe Weißbrot aus dem Toaster und setzte sich an den Tisch. Ohne Appetit nahm sie einige Bissen zu sich, die sie mit dem lauwarmen Kaffee hinunter spülte.

War es auch noch zu früh, um ihr Auto aus der Tiefgarage unter dem Theaterplatz zu holen? „Nie wieder dort hin“, hatte sie sich noch gestern geschworen.

„Es ist noch zu früh, die Straßen sind mir noch zu verlassen“, verschob sie ihren Weg auf später. Natürlich würde sie die Tiefgarage, in der ihre Pein ihren Anfang genommen hatte, wieder aufsuchen, heute und zukünftig immer wieder, nur eben nicht jetzt in übertriebener Frühe. Warum hätte sie die Tiefgarage zukünftig meiden sollen? Der Ort würde für sie nicht weniger sicher sein als für alle anderen Besucher, nicht weniger sicher als früher für sie selbst. Es würde keinen Sinn machen, ihn zu meiden, es wäre nur eine Kapitulation vor der eigenen Angst.

Ein Gedanke schoss durch ihren Kopf, der sie vor Schreck erstarren ließ. Ihr Herz begann zu rasen und sie fühlte, wie beinahe von einer Sekunde zur nächsten das Gefühl kalten Schweißes auf ihrer Stirn entstand.

Warum dem Peiniger, diesem verbrecherischen Schwein, nicht nur durch das Betreten der Tiefgarage trotzen, sondern auch durch das Aufsuchen der Halle, in dem er seine Tat vollendet hatte?

„Warum sollte ich das tun? Warum sollte ich mich damit quälen?“, flüsterte sie vor sich hin, um dann, wieder in Gedanken, fortzusetzen: „Es gibt doch keinen Sinn! Was sollte ich dort? Ich sollte froh sein, dass ich entkommen konnte! Doch, es gibt einen Sinn! Er hätte es nicht geschafft, mich für immer aus dieser Halle zu bannen! Er würde es nicht schaffen, dass sich dieser Ort in meinem Unterbewusstsein mehr und mehr zur Hölle entwickeln könnte! Nach einem Besuch könnte ich immer offen damit umgehen. Außerdem habe ich noch nie gekniffen! Und wenn ich dort auf ihn treffen sollte? Unsinn! Was sollte er dort? Die Halle ist leer! Und mit etwas mehr Zeit und ohne Panik finde ich vielleicht Hinweise, die ich gestern übersehen habe, Hinweise auf die Abläufe, Hinweise auf den Kerl und vielleicht noch mehr!“

Sie würde die Halle wieder aufsuchen, heute, aber jetzt noch nicht. Sie konnte den Besuch mit dem Holen ihres Autos aus der Tiefgarage verbinden.

Die gedankliche Auseinandersetzung hatte den ersten Schrecken der Idee vertrieben und sie wieder viel ruhiger gemacht. Sie sah auf die Uhr.

„Es ist immer noch zu früh, um Mutter oder Alex anzurufen“, stellte sie fest.

„Ich muss in der Einrichtung anrufen, dass ich heute nicht arbeiten kann, dass ich Urlaub nehmen muss“, fiel ihr ein.

„Urlaub nehmen, mir von dem Verbrecher auch noch den Urlaub schmälern lassen?“, baute sich sogleich ein innerer Widerstand gegen diese Überlegung auf. „Wenn schon nicht zur Polizei, dann doch zumindest zum Arzt, auch noch einen Tag später!“

Wie zur eigenen Bestätigung nickte sie mit dem Kopf.

„Ich habe alles Recht der Welt, zum Arzt zu gehen! Ich kann nicht arbeiten! Ich rufe an und teile mit, dass ich krank bin und nicht kommen kann, und lasse mir anschließend einen Arzttermin für heute geben.“

Ihrer Gynäkologin konnte sie von ihrem Erlebnis erzählen, ohne dass sie Angst haben musste, dass die Polizei Kenntnis davon erhielt. Sie würde es auch verstehen, dass sie nicht arbeiten konnte, würde ihr zwar auch zur Anzeige bei der Polizei raten, aber mehr auch nicht. Die Wunde auf ihrem Rücken würde sie ihr zeigen, als Beleg.

„Ach was!“, wischte sie diesen Gedanken fort. Eines solchen Nachweises würde es auf keinen Fall bedürfen.

„Es ist auch noch zu früh, um mich krank zu melden und um mir einen Arzttermin zu holen“, stellte sie fest. „Für alles ist es zu früh, für alles!“

Sicherlich war die Tageszeitung bereits vom Boten gebracht worden und steckte im Briefkasten neben der Wohnungstür. Sie ging vor die Tür, die Zeitung steckte tatsächlich bereits im Kasten. Sie zog sie heraus und trug sie in die Küche, um sie dort aufzuschlagen, nachdem sie sich Kaffee nachgeschenkt hatte. Ob etwas darin stand, was in Zusammenhang mit ihren gestrigen Erlebnissen stehen konnte?

„Ach was, wie sollte ich es erkennen, wenn etwas Derartiges darin stünde!“, hörte sie sich leise vor sich hin sagen. „Ich weiß doch noch nicht einmal, warum ich zum Opfer geworden bin!“

Oberflächlich blätterte sie die Zeitung durch, überflog die Inhalte nur und nahm nur von den Überschriften der einzelnen Artikel wirklich Notiz. Es fehlte ihr die Konzentration, um längere Texte bewusst zu lesen.

Ein erneuter Blick zur Uhr bestätigte ihr, dass es immer noch viel zu früh war, um die Dinge zu erledigen, die für einen geordneten Ablauf notwendig waren oder die sie sich für heute vorgenommen hatte. Sie musste warten.

Im Bann des Augenblicks

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