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6 –Mut und Entschlossenheit gegen Scham und Angst
ОглавлениеNina war wieder allein in ihrer Wohnung. Ihre Mutter hatte sich auf den Heimweg machen müssen. Widerwillig war sie gegangen, von Unbehagen und Sorgen begleitet und nur ein wenig davon beruhigt, dass Nina ihre Weinkrämpfe überwunden hatte. Sie hatte ihre Tochter in deren Schockzustand nicht allein zurück lassen wollen, aber es war nicht anders gegangen. Der Fremde hatte ihr keine andere Wahl gelassen. Er hatte seinen abendlichen Anruf bei ihr zu Hause angekündigt und ihre Anwesenheit gefordert. Dem hatte sie sich beugen müssen.
„Bitte sorg dafür, dass jemand bei dir ist, bis Benjamin kommt, ruf jemanden an, lad dir Besuch ein!“, hatte sie besorgt gefordert, aber Nina hatte abgelehnt.
„Ich möchte jetzt lieber allein sein“, hatte sie gesagt und der Mutter ins Gedächtnis zurück gerufen, dass Benjamin noch bis zum übernächsten Wochenende im Ausland sein würde, im australischen Melbourne.
Sie hatte ausgiebig geduscht, als ihre Mutter gegangen war, und ihre Kleidung vollständig gewechselt. Anschließend hatte sie sich gleich etwas besser gefühlt. Jetzt aber fühlte sie sich einsam und allein, so schrecklich einsam und allein. Zugleich aber war sie froh, allein zu sein, kein Mitleid und keine Fragen ertragen zu müssen, ungestört ihren eigenen Gedanken nachhängen zu können. Es hätte schlimmer kommen können, sie hätte viel größeren Schaden davon tragen können!
Was hätte schlimmer kommen können? Es war schlimm, was ihr widerfahren war und was sie jetzt fortwährend ertragen musste! Es gab keinen Vergleich, keine Abstufung im schlimmen Leid! Es hätte anders kommen können, ja, anders, aber nicht schlimmer als es jetzt war, nur anders schlimm!
Ihr Auto stand noch immer in der Tiefgarage unter dem Theaterplatz. Sie hatte es stehen lassen, sie hatte es schlicht vergessen auf der Flucht aus der Halle und von der Halle weg. Sie musste es holen!
„Jetzt nicht!“, sagte sie sich. „Es läuft mir nicht weg! Jetzt nicht wieder dort hin, nie wieder dort hin! Nie wieder dort auflauern lassen!“
Unfähig zu ruhen ging Sie fortwährend grübelnd in ihrer Wohnung auf und ab.
„Eigentlich geht es mir gut“, sagte sie sich. „Ich müsste zufrieden sein. Ich bin gesund!“
Was sollte sie tun?
„Ich bin nicht gesund!“, widersprach sie sich. „Ich bin krank, ich bin verletzt, ich bin gedemütigt worden, man hat mich vergewaltigt, auf miese hinterhältige Art vergewaltigt, auch wenn man mich nicht körperlich missbraucht hat!“
Sollte sie stillhalten und warten, bis der Fremde seine noch unklaren Ziele erreicht haben und die Bilder selbst wieder entfernen würde?
„Blödsinn, vergewaltigt, ich bin doch nicht vergewaltigt worden!“, hielt sie sich erneut selbst die Gegenrede. „Was erzähle ich? Ich mache es nur schlimmer! Ich bin nicht vergewaltigt worden! Ich muss diese Gedanken lassen, ich quäle mich nur selbst, ich spiele ihm in die Hände! Ich bin nicht vergewaltigt worden!“
Wenn sie stillhalten und warten würde, dann lief sie Gefahr, dass die Fotos Verbreitung finden würden, und zudem gab es nicht die geringste Gewähr dafür, dass der Fremde die Bilder irgendwann freiwillig vollständig und ohne verbleibende Kopien beseitigen würde.
„So, ich bin nicht vergewaltigt worden?“, gingen ihre hysterischen Gedanken auf sie selbst los. „Was ist denn jetzt, gerade jetzt? Ich werde jetzt, gerade jetzt, ich werde immerfort vergewaltigt! Das Schwein vergewaltigt mich im Internet, jetzt, eben und auch gleich noch!“
Es war seltsam! Ihre Gedanken wurden hektischer und hektischer, zerstörerischer und zerstörerischer, aber sie halfen! Nina wurde körperlich ruhiger, sie verarbeitete die Situation, sie erarbeitete sich das Feindbild, auf das sie all ihren Hass, all ihre schlechten Wünsche und all ihre Tatkraft richten konnte. Jawohl, sie hatte kein Recht, sich ergeben der Situation auszuliefern, die der Fremde durch seine Tat verursacht hatte und auch jetzt, gerade jetzt noch aufrecht erhielt. Sie hatte das Recht, nein, sie hatte die Pflicht, sich selbst zu schützen und alles daran zu setzen, dass ihr Peiniger am Ende der Verlierer sein würde!
„Die Eier schneide ich ihm ab!“
Sie fühlte eine unbändige, eine gehässige Vorfreude.
„Ja, du Schwein, die Eier schneide ich dir ab, wenn ich dich zu fassen kriege!“, grinste sie.
Aber konnte sie bis dahin mit einem überstürzten, planlosen, unkontrollierten Handeln vielleicht sogar ihre Mutter gefährden?
„Okay, vorerst kannst du sie noch behalten!“, kostete sie das Überwinden ihres Gefühls der eigenen Ohnmacht aus.
Ihr wiedergewonnener Hauch von Optimismus, ihr Arrangement mit der instabilen Wahrheit und ihre Kampfansage an ein Sich-Fügen erlaubten ihr plötzlich eine nüchterne Betrachtung der Situation.
Wenn der Fremde Fotos von ihr benutzte, um auf ihre Mutter Einfluss zu nehmen, dann hatte er sicherlich nichts Besseres, auf jeden Fall nichts Zwingenderes als Druckmittel in der Hand. Aber vielleicht war es auch das Schlimmste, was ein Erpresser in der Hand haben konnte, das Wohl, die Integrität des eigenen Kindes.
Keinesfalls konnte sie die Polizei einschalten. Einerseits würde sie sonst immer Gefahr laufen, dass der Erpresser dies erfahren und unkontrolliert reagieren würde, andererseits würde die Arbeit der Polizei unabänderlich dazu führen, dass ihr das demütigende Fotomaterial in die Hände fallen würde.
Ebenso ausgeschlossen war es für sie, ihren Freund Benjamin einzuweihen. Er würde ihr technisch kaum helfen können, da seine Fähigkeiten am Computer nicht größer als ihre eigenen waren. Und zudem hätte sie viel zu große Angst vor den Folgen für ihn und für die gemeinsame Beziehung haben müssen, denn die Kenntnis von der Existenz der Fotos und das Wissen darüber, dass sie in fremden Händen lagen, würden Benjamin furchtbar schwer treffen. Nina konnte nicht einschätzen, wie er reagieren würde.
„Außerdem kommt er erst am übernächsten Wochenende aus Melbourne zurück“, griff sie auf die geborene Rechtfertigung dafür zurück, den Lebensgefährten in dieser intimen Angelegenheit unwissend zu lassen.
Wenn sie jedoch keine Unterstützung suchte, ganz auf sich allein gestellt blieb, waren ihre Chancen auf eine Änderung der Situation momentan gleich null. Gab es überhaupt einen Ausweg?
Unvermittelt kam ihr ein Gedanke, der sowohl ein Quäntchen Hoffnung als auch zugleich eine strikte innere Ablehnung auslöste.
„Ob ich wohl Alex um Hilfe bitten kann?“
Bis vor etwa zwei Jahren war sie mit ihm liiert gewesen. Sie hatten sogar zusammen gelebt, dann aber festgestellt, dass sie wohl doch nicht für ein dauerhaftes Zusammensein geschaffen waren und sich getrennt. Trotz der einvernehmlichen Trennung auf der persönlichen Ebene, oder vielleicht auch gerade deswegen, war es zu heftigen Streitereien bei der Aufteilung des gemeinsam beschafften Hausstandes gekommen. So war nach dem Auseinandergehen nicht einmal mehr eine Freundschaft zurück geblieben. Alex aber war schon damals ein großer Computerfachmann gewesen, hatte in einer kleinen, wie er sich immer ausgedrückt hatte, Softwareschmiede als Programmierer gearbeitet. Ihm traute sie zu, ihr aus der Not heraus helfen zu können. Trotz der inzwischen vergangenen Jahre empfand sie es als weniger entehrend, wenn er die Fotos von ihr zu sehen bekommen sollte als wenn es hierzu durch Fremde kommen würde. Er hatte damals ohnehin Intimstes zu Gesicht bekommen.
„Nein, wie konnte ich nur auf diese dumme Idee kommen?“, verwarf sie den Gedanken wieder. „Wahrscheinlich würde mir Alex ohnehin nur einen Korb geben. Jetzt vielleicht auch noch mit ihm wieder Stress bekommen? Nein, kein Bedarf, basta! Und außerdem: Kann ich denn die Skrupel über Bord werfen, Benjamin die Angelegenheit zu verschweigen, mich meinem Ex jedoch anzuvertrauen? Nein, keinesfalls!“
Sie nahm das örtliche Fernsprechverzeichnis zur Hand. In völligem Widerspruch zu ihrer Entscheidung suchte sie nach Alexanders Telefonnummer.
„Warum muss er denn auch gerade Schröder heißen?“, haderte sie. „Davon gibt es doch nun wirklich auch ohne ihn bereits genug.“
Sie fuhr mit dem Zeigefinger die Reihe der Einträge unter dem Namen Schröder auf der Suche nach den mit dem Buchstaben „A“ beginnenden Vornamen ab.
„Da ist er ja, ganz weit vorn, Schröder, Alexander“, freute sie sich.
Den Daumen unter der Rufnummer hielt sie das Telefonbuch in der linken Hand. Mit dem Daumen der rechten Hand tippte sie die Ziffern in das Mobilteil, während sie den Blick zwischen dem Verzeichnis und der Tastatur des Telefons hin und her wandern ließ.
„Ich kann es ja mal versuchen“, dachte sie und versuchte sich ein wenig auch vor sich selbst zu rechtfertigen. „Ich kann ja auch sofort auflegen, wenn er mir dumm kommt.“
„Schröder“, kam es aus der Leitung.
„Ich bin´s, Alex, Nina“, gab sie sich nach kurzem Zögern zu erkennen, um dann schluchzend zu ergänzen: „Alex, kannst du mir helfen? Ich brauche deine Hilfe!“
Sie war der Anspannung nicht länger gewachsen.