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22 – Im Stahlbad der Gefühle
ОглавлениеWie oft noch würde sich dieser Einstieg in einen Tag wiederholen müssen? Wie oft würde sie sich noch früh morgens vor den Monitor ihres Computers setzen müssen, um nachzusehen, ob die Nacktbilder von ihr noch im Internet eingestellt waren?
Es war noch früh, aber Nina fühlte sich ausgeschlafen wie schon lange nicht mehr.
„Kein Wunder!“, hatte sie, noch im Bett liegend, zu sich selbst mit einem Blick auf ihren Wecker gesagt, als sie festgestellt hatte, dass sie, mit kurzzeitigen Unterbrechungen, fünfzehn oder sechzehn Stunden geschlafen haben musste.
„Das müssen KO-Tropfen gewesen sein!“, hatte sie ergänzt und sich gefragt, ob sie das ihr verordnete Mittel vielleicht versehentlich überdosiert hatte.
Ihr erster Weg nach dem Aufstehen hatte sie heute nicht ins Bad, sondern ins Wohnzimmer geführt. Mit von der Nacht gezeichneter Frisur und leicht verquollenem Gesicht wartete sie darauf, dass der PC endlich hochgefahren war und sie die Verbindung zum Internet herstellen konnte.
Wie schon am Vortage war Geduld von ihr gefordert, da der Browser auch heute wieder ungewöhnlich lange suchen musste.
Warum dauerte es denn schon wieder so lange? Noch immer hatte der Browser die Seite nicht gefunden. Plötzlich aber erschien eine mit großen roten Buchstaben vor einem gelben Hintergrund geschriebene Meldung auf dem Bildschirm. "Hallo, mein Freund, ich habe mir erlaubt, mir Zugang zu deiner Seite zu verschaffen, deine widerlichen Bilder zu entfernen, alle deine Daten komplett zu sichern und für Bedarfsfälle (z.B. staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren) vorzuhalten. Ich rate dir dringend, keinen weiteren Gebrauch von den Bildern zu machen, diese vielmehr sofort und unwiederbringlich zu beseitigen, egal in welcher Form sie dir vorliegen. Du willst doch nicht, dass man solches Material bei dir findet, oder? Sollten die Bilder in irgendeiner Form wieder auftauchen, so werden alle deine Daten - ein wirklich aussagekräftiges Profil! - der Staatsanwaltschaft eine Strafanzeige begleitend übermittelt. Mit Onlinergruß, der Cracker"
Was war denn das? Handelte es sich um irgendeine Fehlfunktion oder war die ursprüngliche Seite tatsächlich nicht mehr da?
Nina klickte auf die Befehlsschaltfläche zum erneuten Ladeversuch. Erneut verstrich Sekunde um Sekunde, ohne dass die Bilder erschienen, bis wiederum der Gruß des Hackers angezeigt wurde. Nina schloss das Browserprogramm vollständig, um es sogleich wieder zu starten. Es änderte nichts daran; erneut erschien nur die für sie so erfreuliche Mitteilung. In banger Hoffnung, dass selbst nach einem Neustart ihres Computers die Bilder verschwunden bleiben würden, fuhr sie ihn herunter, um ihn sogleich wieder zu starten. Als der PC wieder einsatzbereit zur Verfügung stand, stellte sie eine neue Verbindung zum Internet her und startete ihren Browser. Das Ergebnis blieb gleich, die Bilder waren aus dem Internet gelöscht.
Eine plötzliche, eine unendliche Erleichterung überkam sie. Sie konnte darauf vertrauen, was sie sah! Bis in den Hals hinein spürte sie ihr Herz vor Aufregung und Freude wie wild schlagen. Ein Hochgefühl ersetzte die Beklemmung, die sie noch vor Minuten fest im Griff gehalten hatte. Die Bilder waren verschwunden, einfach weg! Nein, sie waren nicht einfach nur weg, jemand hatte sie beseitigt! Alex hatte sie beseitigt! Sie hatte gewusst, dass auf ihn Verlass war!
„Alex, ich liebe dich!“, entluden sich ihre Emotionen in einem überschwänglichen, aber ungehörten Ausruf.
Sie musste ihm danken! Nein, sie wollte ihm danken! Aber nicht jetzt, nicht am Telefon! Für einen Anruf war es ohnehin noch zu früh. Alex würde sicher noch im Bett liegen. Wahrscheinlich hatte er ohnehin einigen Schlaf nachzuholen, denn er würde sich kaum viel Ruhe gegönnt haben, bevor er die Bilder aus dem Internet beseitigt hatte.
Ein plötzliches über ihr Gesicht huschendes Lächeln zeigte, dass sie eine Idee hatte.
Ja, sie würde Alex mit einem Frühstück überraschen!
Kaum hatte sie ihren Entschluss spontan gefasst, als das gerade eben noch flüchtige Lächeln zurückkehrte, diesmal aber nicht sogleich wieder verschwand. Sie freute sich auf Alex´ zu erwartendes erstauntes Gesicht, wenn sie mit ihrem mit Brötchen und allen ein opulentes Frühstück erlaubenden Delikatessen gefüllten Korb vor seiner Tür stehen würde.
Allzu lange würde sie ihn nicht ausschlafen lassen dürfen. Wenn sich in den vergangenen Monaten nichts daran geändert hatte, würde er normalerweise gegen neun Uhr zu arbeiten beginnen, würde somit spätestens kurz nach halb neun das Haus verlassen müssen.
„Um halb acht muss ich vor seiner Tür stehen“, sagte sie sich. Sie würde sich beeilen müssen, um noch rechtzeitig alles beschaffen zu können, was sie nicht im Haus hatte, um den Frühstückskorb füllen zu können. Es würde wohl nicht ganz einfach werden, da noch kein Supermarkt geöffnet hatte.
„Über die Brötchen hinaus werde ich manches beim Bäcker bekommen, vielleicht auch in einer Tankstelle“, überlegte sie.
Alex würde wohl bis spät in die Nacht gearbeitet und erst zur Schlafenszeit die Fotos aus dem Internet beseitigt haben, denn sonst hätte er sicher angerufen. Wahrscheinlich hatte er sie zu wecken befürchtet.
„Oder hat er es vielleicht versucht, mich aber nicht erreicht? Habe ich es vielleicht überhört? Vielleicht hat er auf den Anrufbeantworter gesprochen.“
Sie fuhr ihren PC herunter und schaltete ihn und den Monitor aus, erhob sich und ging zum Anrufbeantworter hinüber. Sie musste ihn gestern irgendwann abgestellt haben, denn er war nicht auf Empfang geschaltet.
„Mist!“, schoss es ihr durch den Kopf, wobei ein verkniffener und Bedauern ausdrückender Gesichtsausdruck ihren Ärger unterstrich. Vielleicht hatte Alex sie erfolglos zu erreichen versucht und vielleicht ebenso ihre Mutter.
„Ja, vielleicht auch Mutti!“
Es lag schon rund zwanzig Stunden zurück, dass sie ihre Mutter von ihrem Auto aus gleich im Anschluss an ihren Besuch der Lagerhalle angewählt hatte.
„Versuch du es später dann bitte nicht auch noch!“, hatte ihre Mutter gebeten, sie abends nicht anzurufen. Und diesen Wunsch hatte sie am frühen gestrigen Abend auch noch einmal wiederholt, als sie sich nach der Rückkehr von ihrer Arbeit gemeldet hatte.
„Ja, Mutti hat sich zu melden versprochen, wenn sie erneut mit dem Fremden am Telefon gesprochen haben würde oder es etwas Neues geben würde.“
Vielleicht war es ihr zu spät geworden und sie hatte deshalb nicht mehr anzurufen versucht.
„Vielleicht aber habe ich das Läuten überhört und Mutti hat zudem nicht auf den Anrufbeantworter sprechen können, eben weil er ausgeschaltet gewesen ist.“
Oder der Fremde hatte sich nicht mehr gemeldet, vielleicht weil Alex die Bilder doch schon früher beseitigt hatte und ihm plötzlich ein Druckmittel fehlte.
Oder gab es eine weitere Erklärung dafür, dass sich ihre Mutter nicht telefonisch gemeldet hatte? Nina spürte, wie ihr bei diesem Gedanken ein kalter Schauer den Rücken hinunter lief. Hatte ihre Mutter vielleicht doch Kontakt mit dem Erpresser gehabt?
Dann aber war es möglich, dass ihr etwas zugestoßen war!
Beunruhigt griff sie das Mobilteil ihres Telefons, wählte hastig die Rufnummer ihrer Mutter und presste es bange hoffend an ihr Ohr. Alex hatte sie zu dieser frühen Stunde noch nicht anrufen dürfen, ihre Mutter aber würde normalerweise schon aufgestanden sein und sich für die Arbeit vorbereiten.
Viermal erklang das Rufzeichen, dann s sprang der Anrufbeantworter ihrer Mutter an.
„Guten Tag! Sie sind verbunden mit dem Anschluss...“
Nina trennte die Verbindung, ohne das Ende der Ansage abzuwarten und von der Möglichkeit, eine eigene Nachricht zu hinterlassen, Gebrauch zu machen.
Enttäuscht und beunruhigter als zuvor starrte sie einen Augenblick lang unschlüssig auf das in ihrer Hand liegende Telefon. Ihre Mutter war werktags eine Frühaufsteherin, weil sie ihren Dienst sehr früh aufzunehmen pflegte, aber es war noch viel zu früh, als dass sie das Haus schon verlassen haben konnte, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Erst recht würde sie noch nicht im Büro angekommen und somit auch nicht an ihrer Arbeitsstätte telefonisch erreichbar sein. Üblicherweise zumindest.
Ebenso hastig wie zuvor die Nummer des Festnetzanschlusses ihrer Mutter wählte sie deren Handynummer. Nach kurzem Warten wurde sie von der freundlichen, aber elektronisch eingespielten Frauenstimme des Mobilfunkanbieters davon unterrichtet, dass der Anschlussinhaber derzeit nicht erreichbar sei.
Nina hatte nichts Anderes erwartet und war dennoch enttäuscht.
Es blieb ihr noch der Versuch, es doch im Büro ihrer Mutter zu versuchen. Wenige Augenblicke und einen nicht erfüllten Gesprächswunsch später wusste sie, dass auch die kleine Hoffnung, ihre Mutter auf diesem Wege erreichen zu können, unbegründet gewesen war.
Sie spürte, wie ihre Beunruhigung und Sorge in Panik umzuschlagen drohten.
„Ganz ruhig, Nina“, versuchte sie, leise vor sich hin sprechend, einen kühlen Kopf zu bewahren. „Es ist nichts passiert, es ist alles in Ordnung, es lässt sich alles erklären. Ich bin nur übersensibilisiert!“
Sie zwang sich zu einem mehrmaligen tiefen Durchatmen, bevor sie erneut die Festnetznummer ihrer Mutter wählte. Wie zuvor war es nur der Anrufbeantworter, der auf ihren Gesprächswunsch reagierte. Diesmal unterbrach sie die Verbindung nicht, ließ die Ansage ungeduldig passieren, um dann anders als noch kurz zuvor eine Nachricht auf den Speicherchip zu sprechen.
„Hallo Mama, ich bin´s, Nina. Warum nimmst du nicht ab? Melde dich doch bitte! Ich mache mir Sorgen um dich! Ich wollte dir eigentlich erzählen, dass die Bilder aus dem Netz sind. Das ist bestimmt Alex gewesen. Bitte ruf zurück, sobald du kannst!“
„Ich muss hinfahren und nachschauen, was los ist!“, schoss es ihr durch den Kopf, noch während sie die Verbindung trennte. Irgendetwas stimmte nicht!
Ohne Rücksicht darauf, dass sie sich noch nicht im Bad für den Tag zurecht gemacht hatte, griff sie hastig ihre Jacke von der Garderobe, steckte das auf dem Garderobenschränkchen liegende Schlüsselbund, an welchem sich auch die Autoschlüssel befanden, ein und schlüpfte in ihre bänderlosen Schuhe, die sie aus Bequemlichkeit neben statt in den Schuhschrank gestellt hatte. Schon eilig unterwegs zur Wohnungstür mühte sie sich, die Schuhe vollständig anzuziehen und die herunter getretenen Kanten aufrecht zu stellen.
Sie hatte keinen festen Stellplatz für ihren Kleinwagen, heute aber nur einen kurzen Weg zu ihm zurück zu legen, da sie gestern in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung einen freien Platz am Straßenrand gefunden hatte. Hastig stieg sie ein, ließ den Motor an, wendete das Fahrzeug und bog unmittelbar darauf in die weiter stadteinwärts führende Hauptstraße ein.
Der Berufsverkehr hatte bereits begonnen, in jeweils längeren Kolonnen quälten sich die Autos in die Stadt.
„Wenn man es mal richtig eilig hat, ist der Verkehr am dichtesten“, stellte sie fast resignierend fest.
Ein Lastwagen blockierte die rechte der beiden stadteinwärts führenden Spuren. Er wurde gerade zur Belieferung eines Lebensmittelmarktes entladen. Nina musste nach links einfädeln, was ihr nur mit Verzögerung gelang, um gleich darauf nach rechts abzubiegen. Immer wieder schaute sie auf ihre Armbanduhr; sie war schon eine Viertelstunde unterwegs, ohne dass sie bereits in die Nähe der mütterlichen Wohnung gelangt war.
Sie fuhr sehr nahe auf das voraus fahrende Fahrzeug auf, dass nach ihrer Einschätzung unangemessen langsam fuhr.
„Nun fahr doch, das klappt doch noch!“, rief sie laut aus, als eine Fußgängerampel auf gelb sprang und ihr Vordermann sogleich bremste und dann anhielt. Sie hupte und gestikulierte, was dieser aber nur mit einem Blick in den Rückspiegel und einem Verständnislosigkeit ausdrückenden Kopfschütteln quittierte. Es hatte den Anschein, dass er betont langsam reagierte, als die Weiterfahrt bald darauf freigegeben war.
„Na endlich!“, seufzte Nina erleichtert, als der Vordermann in eine Seitenstraße abbog, und trat das Gaspedal durch, sodass ihr Wagen auf eine deutlich überhöhte Geschwindigkeit beschleunigte. Die Straße war nicht allzu breit und hatte nur je eine Spur in jede Richtung. Beide Seitenränder waren dicht mit Autos zugestellt. Sie ignorierte die Gefahr, dass jemand zwischen den Autos hindurch auf die Straße treten oder jemand unbedacht eine Autotür aufstoßen konnte, und sie wurde von einem solchen Pech verschont. Sie kam ohne Zwischenfälle voran.
Kurz nach halb sieben Uhr bog sie in die Nebenstraße ein, an der das Mehrfamilienhaus lag, in dem die Mutter eine Eigentumswohnung besaß. Sie fand sogleich einen Parkplatz direkt vor dem Haus, sodass sie kurz darauf die stets nur locker ins Schloss gerastete und deshalb unverriegelte Haustür passieren und die Treppe zur ersten Etage betreten konnte. Ihre Schritte auf den steinernen Stufen hallten durch das ganze Treppenhaus, während sie eilig empor stieg. Heute aber nahm sie keine Notiz von dem Widerhall, den sie sonst bei jedem Besuch der Mutter als Ursache für die kalte Atmosphäre des Treppenhauses erkannt und deshalb als unangenehm empfunden hatte. Daran änderte nichts, dass sich das Treppenhaus ansonsten, wie das gesamte Gebäude, in einem baulich sehr gepflegten Zustand befand. Sekunden später stand sie vor der Wohnungstür der Mutter und schellte.
Während sie wartete und auf aus der Wohnung dringende Trittgeräusche horchte, registrierte sie beiläufig, dass die Tageszeitung, die der Bote wie regelmäßig zu früher Stunde in die Zeitschriftenrolle unter dem Briefkasten gesteckt hatte, noch nicht in die Wohnung geholt worden war. Dies war ungewöhnlich, hatte ihre Mutter doch schon immer die Angewohnheit gehabt, sich während ihres ersten Morgenkaffees über die Tagesneuheiten zu informieren.
Ohne Erika Lange genügend Zeit gelassen zu haben, die Wohnungstür zu erreichen und zu öffnen, schellte sie erneut, dann ein drittes und viertes Mal. Die bange Ungewissheit, das mehr und mehr von ihr Besitz ergreifende ungute Gefühl zerrten an ihren Nerven. Was war mit ihrer Mutter? Warum machte sie nicht auf? Warum hatte sie die Zeitung noch nicht herein geholt? War sie etwa nicht zu Hause? Hoffentlich war ihr nichts passiert!
Die Wohnungstür blieb verschlossen, kein Geräusch drang aus der Wohnung heraus an ihre Ohren. Hastig strich sie den Riemen ihrer Handtasche von der Schulter, nahm diese in beide Hände und öffnete den Verschluss mit Daumen und Zeigefinger. Schnell griff sie nach kurzem Schütteln, mit dem sie den Inhalt der Tasche suchend durcheinander warf, hinein und holte ihr Schlüsselbund heraus. Gegenseitig hatten sie sich in der Vergangenheit Wohnungsschlüssel ausgehändigt, um einander im Bedarfsfall jeweils den Zutritt zur Wohnung zu ermöglichen. Jetzt war ein Bedarfsfall!
Nervös ging sie die Schlüssel durch, bis sie den für die Wohnungstür passenden identifizierte. Vor Aufregung zitternd gelang es ihr erst nach mehreren Fehlversuchen, das Schlüsselloch zu treffen und die Tür dann zu öffnen. Glücklicherweise hing die Sicherheitskette, die von der Mutter normalerweise nachts immer eingehängt wurde, heute funktionslos am Türrahmen.
„Mutter?“, rief sie unmittelbar nach dem Eintreten bei noch geöffneter Tür. „Bist du zu Hause?“
Ihr Rufen blieb unbeantwortet. Im Gehen ließ sie das Schlüsselbund in die Handtasche gleiten und legte diese achtlos auf dem Garderobenschränkchen ab.
„Mutter?“
Die Tür zur Küche stand weit auf. Sie warf einen kurzen Blick hinein, doch der Raum war leer. Ohne einen Augenblick inne zu halten ging sie weiter zur ebenfalls weit geöffneten Wohnzimmertür. Sie trat ein, ließ ihren Blick durch das Zimmer gleiten und wurde dann jäh vom furchtbaren Anblick, der sich ihr bot, überrascht.
„Oh nein!“, entfuhr es ihr.
Erika Lange lag bäuchlings in der Mitte des Wohnzimmers auf dem Boden, den Kopf inmitten eines großen Flecks auf dem Teppich, der von ihrem Blut stammen musste. Ihr Hinterkopf wies eine große verkrustete Wunde auf.
„Vielleicht lebt sie noch, vielleicht ist sie nur bewusstlos!“, schoss es ihr durch den Kopf. „Ich muss den Puls fühlen!“
Sie hatte das Gefühl, dass sie gleich die Besinnung verlieren würde. Ihre Beine drohten ihr den Gehorsam zu verweigern. Ihr Herz raste. Sie riss sich jedoch zusammen und stürzte mit zwei oder drei Schritten zur Mutter und ging dann sofort in die Hocke, um den Puls zu fühlen. Der Arm war kalt, unnatürlich kalt. Erika Lange war tot.
Von panischem Entsetzen erfasst sprang Nina auf, immer wieder „oh nein“ rufend, und rannte durch den Flur aus der Wohnung ins Treppenhaus. Sie musste raus, nur raus, ganz schnell raus! Sie musste Hilfe holen, sofort Hilfe herbei rufen! Die Polizei!
Hinter ihr fiel die Wohnungstür ins Schloss.
Sie musste telefonieren! Die Wohnungstür war zu, die Schlüssel aber waren in der Handtasche, und die Handtasche war in der Wohnung!
Spontan und ohne bewussten Entschluss rannte sie zur gegenüber liegenden Wohnung auf derselben Etage, drückte unzählige Male mit dem Handballen auf den Klingelknopf und schlug zuletzt mit der flachen Hand immer und immer wieder gegen die Tür.
„Machen Sie auf, bitte! Machen Sie bitte auf! Helfen Sie mir, ich brauche Hilfe! Bitte!“
In ihrer Aufregung, Verzweiflung, Hilflosigkeit und Ungeduld bemerkte sie nicht, dass jemand durch den Türspion sah. Unmittelbar darauf wurde die Tür geöffnet und ein junger, unrasierter Mann in Nachtzeug erschien. Nina kannte ihn vom Sehen, und er sie. Mehrfach waren sie sich im Treppenhaus begegnet.
„Bitte helfen Sie mir!“, flehte Nina. „Meine Mutter ist tot. Meine Mutter, Erika Lange, ist tot! Sie liegt auf dem Boden, und da ist ganz viel Blut! Ich glaube Sie ist umgebracht worden! Wir müssen die Polizei rufen!“, prasselte es aus ihr heraus.
„Ihre Mutter ist tot, die Frau Lange?“ Der junge Mann benötigte einen Moment, um die Situation zu erfassen. Zunächst sprach nur Ungläubigkeit aus seiner Miene.
„Ermordet, sagen Sie?“
„Ja, ich sage es doch, wir müssen die Polizei rufen!“
„Kommen Sie herein! Sie können mein Telefon benutzen.“
Der junge Mann trat zur Seite und ließ Nina an sich vorbei eintreten.
„Bitte gehen Sie geradeaus durch bis in mein Wohnzimmer. Dort befindet sich mein Telefon. Es müsste auf dem Tisch liegen.“
Nina hastete weiter. Der Nachbar sah ihr für einen Augenblick unschlüssig nach, folgte ihr dann jedoch zögernd. Mitten auf dem Wohnzimmertisch liegend fand sie das Telefon, so wie es der Nachbar beschrieben hatte. Am ganzen Körper bebend nahm sie es zur Hand, um die Notrufnummer zu wählen. Obwohl nur drei Ziffern einzutippen waren, drückte sie in ihrer Aufregung zwischendurch eine falsche Nummertaste, sodass sie den Versuch abbrechen und neu beginnen musste. Beide Hände am Gerät presste sie das Mobilteil fest an ihr Ohr.
„Polizeinotruf Dortmund, guten Tag!“, hörte sie eine freundliche, aber formelle Männerstimme sagen.
„Ja, Lange, Nina Lange, es ist ein Mord passiert. Meine Mutter ist ermordet worden. Bitte schicken Sie ganz schnell einen Einsatzwagen!“, sprudelte es auch ihr heraus.
„Bitte nennen Sie mir noch einmal Ihren Namen und Ihre Anschrift sowie den Tatort“, forderte die Stimme.
„Nina Lange, ich wohne in der Bochumer Straße 52, der Mord ist aber in der Lortzingstraße 7 passiert.“
„Wie heißt Ihre Mutter?“
„Erika Lange, meine Mutter heißt Erika Lange.“
„Sind Sie noch am Tatort und sind Sie allein?“
„Ich rufe von einer Nachbarwohnung aus an, ich bin hier zusammen mit dem Nachbarn.“
„Frau Lange, der Einsatzwagen ist schon unterwegs. Bitte warten Sie sein Eintreffen ab! Er müsste in wenigen Minuten bei Ihnen erscheinen. Halten Sie sich bitte vom Tatort fern! Auf Wiederhören.“
„Auf Wiederhören.“
Wie nach einer körperlichen Anstrengung, die zu einer totalen Erschöpfung geführt hatte, ließ sie sich in den ihr nächststehenden Sessel fallen. Als ob alle Dämme brachen wurde sie von einem Weinkrampf erfasst und sackte vornüber in sich zusammen. Hilflos trat der Nachbar von hinten an sie heran und legte seine Hand auf ihre Schulter.