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2 – Mutter in Angst

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„Stellen Sie bitte sicher, dass ich Sie um 17 Uhr erreichen kann! Ihre Tochter braucht Sie! Ich melde mich!“

Diese Nachricht hatte Erika Lange vorgefunden, als sie wie üblich, gleich nach ihrer Rückkehr vom Dienst, den Anrufbeantworter abgehört hatte. Die männliche Stimme hatte seltsam gedämpft geklungen, so als ob der Anrufer durch ein vor den Mund gehaltenes Tuch gesprochen hatte.

„Ihre Tochter braucht Sie!“, hatte der Mann gesagt. Wieso, was war mit Nina? Wollte jemand sie beunruhigen, ein Schockanrufer vielleicht? Dann hatte er sein Ziel erreicht, sie war beunruhigt!

Sie hatte die Nachricht mehrmals abgespielt, um sicher zu gehen, sich nicht verhört zu haben, um die Gewissheit zu erlangen, dass sie alles richtig verstanden hatte.

„Stellen Sie bitte sicher, dass ich Sie um 17 Uhr erreichen kann! Ihre Tochter braucht Sie!“

Kein Zweifel! Sie hatte alles richtig verstanden gehabt und zur Uhr gesehen; es war gegen 16.30 Uhr gewesen.

Wie lange lagen diese schrecklichen Minuten zurück? Sie sah auf ihre Armbanduhr. Mehr als eine Stunde war seitdem vergangen, deutlich mehr. Die Herfahrt durch den dichten Straßenverkehr hatte einige Zeit in Anspruch genommen.

Sie ging in Ninas Wohnung auf und ab und wartete, wartete sehnsüchtig auf das Erscheinen ihrer Tochter. Warum hatte der Fremde sie mit seinem zweiten Anruf hierher dirigiert?

Hektisch hatte sie nach dem Abhören des Anrufbeantworters das Mobilteil ihres Telefons zur Hand genommen und die Rufnummer ihrer Tochter gewählt. Sechs-, sieben oder achtmal musste es bei Nina geläutet haben, dann hatte sie aufgelegt, jedoch sogleich wieder neu gewählt. Sie hatte sich gezwungen, die Zifferntasten sorgfältig und mit Bedacht zu drücken, um ein Verwählen auszuschließen.

„Geh bitte ran, Nina!“, hatte sie gefleht, vor Angst und Aufregung zitternd. Ihr Hoffen war vergebens gewesen. Nina hatte sich nicht gemeldet. Ihren Anrufbeantworter musste sie ausgeschaltet haben, denn er war nicht angesprungen.

Sie hatte im Kindergarten angerufen, in dem Nina als Erzieherin arbeitete und dessen Telefonnummer ihr geläufig war. Unter normalen Umständen hätte sie Nina um diese Tageszeit nicht mehr erreichen können. Sie hatte es gewusst, aber auf ihr Glück gehofft, dass es heute anders sein würde. Auch dieses Hoffen aber hatte sich nicht erfüllt. Der dortige Anrufbeantworter hatte sie auf den Folgetag vertröstet.

Mit dem Mobilteil in der Hand war sie in den Flur geeilt, wo sie ihre Handtasche auf der Garderobe liegen gewusst hatte. Hastig hatte sie diese geöffnet, den Inhalt auf das Garderobenschränkchen geschüttet und ihr Notizbuch aus dem kleinen Häuflein hervor gezogen, in welchem sie auch Ninas Handynummer notiert hatte. An Ort und Stelle hatte sie diese gewählt, jedoch ohne Erfolg.

„Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar. Sie haben jedoch die Möglichkeit, nach dem folgenden Signalton eine Nachricht zu hinterlassen“, hatte sich die weibliche Stimme der automatischen Anrufbeantwortung des Mobilnetzbetreibers gemeldet.

„Verdammt!“, hatte sie geflucht und die Verbindung unterbrochen, um jedoch sogleich erneut zu wählen und diesmal auf das Angebot der Sprecherin einzugehen.

„Hallo Nina, ich bin´s, Mutter. Ruf mich bitte an! Bitte! Schnell! Ich warte sehr! Bis gleich!“

„Ich muss hinfahren!“, war es ihr durch den Kopf geschossen. „Hinfahren und nachsehen!“

Beinahe im selben Atemzug hatte sie sich ihre Jacke von der Garderobe gegriffen. Der Bügel, auf dem diese gehangen hatte, war zu Boden gefallen. Sie hatte ihn liegen gelassen und war, sich im Gehen die Jacke überwerfend, der Wohnungstür entgegen gehastet.

„Stellen Sie bitte sicher, dass ich Sie um 17 Uhr erreichen kann!“, hatte der Anrufer gemahnt. Wenn sie nun das Haus verlassen hätte, um zur Wohnung der Tochter zu fahren, wäre sie keinesfalls um 17 Uhr zurück gewesen.

„Aber was wird, wenn ich Nina nicht zu Hause antreffe? Was wird, wenn sich der Anrufer tatsächlich um 17 Uhr wieder meldet, mich aber nicht erreicht?“, hatte sie sich gefragt. Sie hatte nicht gehen dürfen.

Die Polizei! Hätte sie die Polizei einschalten sollen? Aber was wäre ihr zu melden gewesen, was war vorgefallen? Ein Mann hatte auf ihren Anrufbeantworter gesprochen und sie gebeten, sie um eine bestimmte Uhrzeit telefonisch sprechen zu können, weil ihre Tochter sie brauche. Was hieß das schon! Vielleicht brauchte Nina sie tatsächlich und der Anrufer war ein freundlicher Helfer, der aus irgendeinem Grund seinen Namen nicht genannt hatte. Vielleicht hatte er beste Absichten. Aber warum hatte er seinen Namen nicht gesagt?

Sie hatte ihre erwachsene Tochter trotz mehrerer Versuche nicht telefonisch erreichen können. Auch dies hätte die Polizei gewiss nicht als ungewöhnlich eingestuft.

Sie hatte in der Wohnung bleiben müssen, warten müssen, warten bis 17 Uhr. Es war etwas nicht in Ordnung. Sie hatte es gewusst. Aber sie hatte warten müssen, mindestens noch eine quälend lange halbe Stunde.

„Bei Ben, vielleicht ist sie schon bei Ben“, war ihr eine neue Idee gekommen. Warum hatte sie nicht sofort an diese nahe liegende Alternative gedacht?

Auch Bens´ Telefonnummer stand in ihrem Notizbuch, da sie Nina schon mehrfach bei ihm angerufen hatte. Zitternd hatte sie die Nummerntasten gedrückt und die letzten Zahlen jeweils leise vor sich hin geflüstert.

„Sieben, fünf, drei, bitte geh ran!“

Ben hatte sich nicht gemeldet. Es war gar nichts passiert, Ben hatte keinen Anrufbeantworter. Nach oftmaligem Erklingen des Rufzeichens hatte sie den Verbindungsversuch enttäuscht abgebrochen. Hatte Nina nicht sogar erwähnt, dass Ben für ein paar Tage abwesend sein würde? Sie hatte sich zu erinnern geglaubt.

Sie hatte ihre Jacke wieder abgestreift, diese achtlos über einen Garderobenhaken geworfen und war zurück ins Wohnzimmer geeilt. Sie hatte erneut die Festnetznummer ihrer Tochter gewählt, das Rufzeichen so oft abgewartet, bis es systembedingt vom Besetzzeichen abgelöst worden war. Dann erst hatte sie die Verbindung unterbrochen, sogleich aber die Wahlwiederholungstaste gedrückt und wieder in den Hörer gehorcht. Diesen Vorgang hatte sie wiederholt, mindestens ein halbes Dutzend Mal wiederholt. Doch sie hatte ihre Tochter nicht erreichen können.

Irgendwann aber, kurz vor 17 Uhr, hatte sie ihre Versuche eingestellt, um die Leitung für den Unbekannten frei zu machen. Sie hatte auf dem Sofa Platz genommen, sich zur Ruhe gezwungen und das Mobilteil direkt vor sich auf den Tisch gelegt, um beim erwarteten und inzwischen sehnlichst erhofften Läuten schnell zugreifen zu können.

Es war ihr so vorgekommen, als wäre die Zeit nur zäh und schwerfällig vorangegangen, so wie Honig vom umgedrehten Teelöffel tropft.

Schließlich hatte die Wanduhr 17 Uhr angezeigt. Ein Fehlgehen war ausgeschlossen gewesen, da sie funkgesteuert wurde. Das Telefon war jedoch stumm geblieben. Weitere Minuten waren verronnen, ohne dass etwas passiert war.

„Welches Spiel treibt der Kerl mit mir, warum ruft er nicht an?“, hatte sie sich gefragt. Hatte er sie in Panik treiben wollen, sie mit ihrer wachsenden Angst um die Tochter quälen wollen?

Endlich, nach weiteren fünf Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, hatte sich das Telefon erbarmt und sein Rufzeichen ertönen lassen. Reaktionsschnell hatte sie zugegriffen, dabei nur kurz auf das Display gesehen, welches jedoch nur den eingehenden Anruf ohne die Rufnummer des Anrufers angezeigt hatte, die Hörertaste betätigt und sich das Mobilteil verkrampft mit beiden Händen an das rechte Ohr gehalten.

„Ja bitte, Lange?“, hatte sie sich fragend gemeldet. Es war ihr bewusst geworden, dass ihre Stimme Angst und Unsicherheit ausstrahlte, sie nicht wie gewohnt schon durch deren festen Klang Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen vermitteln würde.

„Frau Lange?“

Es war die Stimme vom Anrufbeantworter gewesen! Sie hatte wiederum irgendwie gedämpft geklungen. Aber da war noch etwas gewesen, was ihr an der fremden verstellten Stimme aufgefallen war! Jetzt wurde es ihr bewusst, als sie in ihren frischen Erinnerungen wühlte. Was war es gewesen? Sie sann kurz nach, kam jedoch nicht darauf. Es war jetzt nicht wichtig!

„Ja, ich bin am Apparat", hatte sie sich mit der Antwort beeilt.

„Was ist mit meiner Tochter, wo ist sie, wer sind sie und was wollen Sie?“, waren alle ihre brennenden Fragen aus ihr hervor gesprudelt.

„Nun mal langsam, liebe Frau Lange“, hatte ihr der Anrufer Einhalt geboten. „Alles schön der Reihe nach! Wer ich bin ist zunächst unerheblich, ganz ohne Belang, was ich will, erfahren sie schon noch früh genug. Ihre Tochter habe ich zuletzt heute Nachmittag gesehen, und da ging es ihr, na ja, sagen wir mal, den Umständen entsprechend gut, und wo sie jetzt genau ist, kann ich nicht sagen, aber wo sie mutmaßlich bald sein wird, erfahren sie gleich.“

Erika Lange hatte die kurze Pause, die der Anrufer folgen lassen hatte, genutzt.

„Nun sagen Sie mir doch bitte, wo meine Tochter ist, sagen Sie mir doch bitte, wo ich sie finden kann!“, hatte sie gefleht.

Der Anrufer war nicht darauf eingegangen.

„Lassen Sie zunächst auf jeden Fall die Polizei aus dem Spiel, wenn Sie Ihrer Tochter nicht böse schaden wollen!“, hatte er gefordert. „Sie haben doch sicherlich einen Schlüssel für die Wohnung Ihrer Tochter, oder?“

Sie hatte natürlich einen Schlüssel und hatte dies bestätigt. „Ja, den habe ich, aber warum wollen Sie das wissen?“

Erneut hatte der Anrufer ihre Frage überhört.

„Fahren Sie jetzt bitte zur Wohnung Ihrer Tochter und warten Sie dort! Ich gehe davon aus, dass auch Ihre Tochter bald dort eintreffen wird. Warten Sie zusammen mit Ihrer Tochter in deren Wohnung! Ich rufe Sie dort an. Ich melde mich im Laufe des Abends wieder. Und vergessen Sie nicht: Keine Polizei!“

Er hatte die Verbindung kurzum unterbrochen, ohne ihr noch eine Gelegenheit zu geben, sich noch einmal zu äußern.

Sie hatte ein paar Sekunden gezögert, um ihre Gedanken zu ordnen, und dann noch einmal die Rufnummer ihrer Tochter gewählt, aber wieder ohne Erfolg. Sie war aufgestanden und zur Garderobe gehastet, hatte in aller Eile den vorhin ausgeschütteten Inhalt in ihre Handtasche zurückgestopft, wobei sie den Autoschlüssel ausgelassen hatte, um ihn gleich in ihrer Hand zu behalten. Sie hatte sich die Jacke übergestreift, ohne dabei wie üblich auf einen korrekten Sitz zu achten, und sich auf den Weg zur Wohnung ihrer Tochter gemacht.

Im Bann des Augenblicks

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