Читать книгу Die Regeln - Velominati - Страница 25
ОглавлениеREGEL #93 //
ABFAHRTEN DIENEN NICHT DER ERHOLUNG. ERHOLEN KANNST DU DICH BEIM REGENERATIONSBIER
Abfahrten sollten ebenso hart und herausfordernd sein wie die Anstiege – und hinzu kommt, dass sie noch erheblich gefährlicher sind. Fahr bergauf am Anschlag und nutze die anschließende Abfahrt, um eine Lücke zu schließen oder eine zu reißen. Abfahrten sollten wehtun und keine Regenerationspausen sein. Die Erholung erfolgt bei anderer Gelegenheit: beim gemeinsamen Bier und Fabulieren danach.
Ständig hört man, wie hart dieser oder jener Anstieg sei, aber beim Klettern geht es im Kern letztlich nur darum, mehr Druck auf die Pedale zu bringen. Auch das ist in gewisser Weise eine Kunst, daran ist nicht zu rütteln, aber ob du schnell bergauf fährst, hängt nur davon ab, wie groß deine Willensstärke ist und mit welcher Furie sie dafür sorgt, dass deine Beine die Pedale herumwuchten.
Bergab gestaltet sich die Sache ganz anders: Schnell abzufahren, ist entweder eine Frage des Könnens oder aber der Fähigkeit, seiner Vorstellungskraft zu trotzen.
Wenn man älter wird, lässt man in allem nach, außer darin, sich auszumalen, was in einer Highspeed-Abfahrt wohl passieren könnte. Es gibt zwei Möglichkeiten, dem zu begegnen: a) du wirst ein besserer Abfahrer oder b) du fährst langsamer den Berg runter. Option b) ist nicht wirklich eine Option, sondern vielmehr nur ein Notbehelf.
Als junger Kerl verstand ich nicht viel von der Physik des Radfahrens, von Rädern und Reifen. Ich machte mir keinen Kopf, ich fuhr einfach.
Je schneller, desto besser. Bei einer Gelegenheit, die aufgrund ihrer Konsequenzen herausstach, krachte ich in Upstate New York mal voll in eine Schikane.
Damals zelteten wir oben auf dem Berg, während mein Bruder unten in der Stadt logierte. Häufig fuhren wir mit dem Fahrrad hinunter, um ihn zu besuchen, und ich lernte, dass alles, was ich tun musste, um schneller durch die Spitzkehren zu kommen, war, härter in den Lenker zu greifen. Bei besagter Gelegenheit befand ich mich in wilder Verfolgung meiner Schwester, die an mir vorbeigezogen war. Jeder Junge mit einer älteren Schwester weiß, unter welchen Druck mich das setzte, ich hatte also keine andere Wahl, als sie rücksichtslos zu verfolgen. Wir fuhren in die Kurven hinein und ich griff härter in den Lenker, um ein höheres Tempo zuzulassen. Mein Rad jedoch, bockig wie es war, hielt an seinem vergnügten Schlingerkurs fest und ich war gezwungen, abzusteigen. Ich erinnere mich noch, dass ich ganz erstaunt war, wie weit ich schlitterte. »Wow, wie ein Motorradrennfahrer«, war mein erster Gedanke.
Gut abfahren ist – mehr noch als alles andere beim Radfahren – eine Kunst. Die Kräfte, mit denen wir spielen, um auf zwei Rädern aufrechtzubleiben, wirken bei hohem Tempo in zugespitzter Form, und das Kurvenfahren macht die Dinge nur noch komplizierter. Es gibt keinen schöneren Anblick auf Erden als eine Perlenkette von Fahrern, die durch eine Serie von Kurven gleiten und sich wie eine Schlange den Berg hinabwinden.
Es gibt wenige Radsportler im Laufe der Geschichte, die sich als Meister der Abfahrtskunst hervorgetan haben. Paolo Salvodelli und Philippe Gilbert sind bekannt für ihre spektakuläre Art, die Berge hinabzurasen, mit der sie praktisch in jeder Kurve die Physik herausfordern, so dass beide Reifen auf dem Asphalt nach außen rutschen, am absoluten Limit ihres Grips.
Der Prophet Eddy Merckx war auch ein Meister dieser Kunst. Merckx war auch ein großartiger Kletterer – nicht so sehr wegen seiner Statur oder seiner Grazilität oder seines Pedaltritts, sondern vor allem wegen seines grenzenlosen Vermögens, sich zu schinden. Aber auf den Abfahrten bewegte er sich in gänzlich anderen Sphären als seine Kollegen. Er war berühmt für die Akribie, mit der er sich um Rahmengeometrien und die Sitzposition auf dem Rad kümmerte; hunderte Rahmen musste Ernesto Colnago für ihn bauen, ein jeder mit marginal unterschiedlicher Geometrie. Er bevorzugte Rahmen, die auf Abfahrten große Spurstabilität boten – dies war ihm wichtiger als alles andere. Merckx wusste, dass er nur eine Chance hatte, um die Zeit wettzumachen, die er womöglich im Anstieg auf die reinrassigen Bergziegen verlieren würde, und zwar indem er den Berg auf der anderen Seite so schnell wie irgend möglich runterkam.
1971 befand sich Merckx bei der Tour de France in der unglückseligen Lage, dass ihm der Spanier Luis Ocaña im Gesamtklassement um mehr als acht Minuten enteilt war. Merckx war an den Anstiegen regelmäßig distanziert worden, aber am Col de Menté hielt er sich wacker. Den Menté von Osten hochzufahren, ist schon nicht ohne: erst gleichmäßig bergauf, dann gehen in einer Zwischenabfahrt ein paar Höhenmeter verloren, bevor sich die Straße in brutalen Rampen zur Passhöhe hinaufwindet.
Die Abfahrt jedoch ist noch mal eine ganz andere Nummer. Schon beim leisen Gedanken daran läuft es einem eiskalt den Rücken runter. Lose klammert sie sich an die Bergflanke, geradezu grotesk exponiert windet sich die Straße in engen Spitzkehren hinab ins Tal. Als Sicherheitsmaßnahme säumen niedrige Mauern die exponiertesten Abschnitte, so niedrig, dass sie nicht viel mehr ausrichten, als einem die Gewissheit zu verleihen, dass man kopfüber den Abhang hinuntersegelt, sollte man die Kontrolle verlieren und dagegenfahren.
Ein heftiges Unwetter tobte, und als sie die Passhöhe überquerten, stürzte sich Merckx auf der anderen Seite mit einer unheimlichen Mischung aus Angst, Rücksichtslosigkeit und Wagemut talwärts. Ocaña, im Versuch ihm zu folgen, besaß zu viel Vorstellungskraft und stürzte in einer engen Kehre. Er wurde dann auch noch von dem Niederländer Joop Zoetemelk getroffen, der in derselben Kurve eine Reifenpanne hatte und die Kontrolle verlor. Ocaña war außerstande, das Rennen fortzusetzen, und Merckx gewann seine dritte Tour de France in Serie.
Schnell vorgespult zur Tour 2010. Wir erleben Andy Schleck im Gelben Trikot, wie er bei der 15. Etappe am Port de Bales ein Problem mit seiner Kette hat und machtlos zusieht, wie sein Rivale Alberto Contador erst vorbei- und dann davonzieht. Mit 15 Sekunden Rückstand auf den Widersacher kommt Schleck über den Gipfel des Schlussanstiegs, von wo die Strecke direkt hinab ins Etappenziel führt. Er verliert noch 30 weitere Sekunden und erreicht das Ziel mit 45 Sekunden Rückstand auf die Gruppe mit Contador.
Das alles soll veranschaulichen, dass Abfahrten ein ebenso entscheidender Teil des Radsports sind wie Anstiege und Flachstücke. Lerne, sie zu meistern. Lerne, sie zu deinem Vorteil zu nutzen.
Und was die Erholung betrifft: Spar sie dir einfach fürs gemeinsame Bier in der Kneipe auf. Je härter die Tour war, umso mehr Bier und Fabulieren sind anschließend erforderlich, um alles zu verdauen und die Großartigkeit des soeben Erlebten – mit immer größerer Detailversessenheit – zu erklären.
* Schleck wurde nachträglich zum Sieger der Tour 2010 erklärt, weil Contador positiv auf Clenbuterol getestet worden war.