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ОглавлениеTEIL I:
Die Jünger
Es war ein langer, allmählicher Prozess, diese Reise, die uns zu Jüngern des Radsports machte. Vielleicht begann alles mit diesem Gefühl zu fliegen, als wir uns zum allerersten Mal auf einem Fahrrad vorwärtsbewegten, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und nach ein paar wackligen Metern umzufallen. Oder vielleicht war es das erste Mal, dass wir eigenhändig ein neues Lenkerband aufzogen und erstaunt waren, wie frisch unser Rennrad nun aussah. Oder womöglich das erste Mal, dass wir eine seltsam vertraute Schwermut bemerkten, ja, ein Gefühl des Verlustes sogar, als wir aus irgendeinem Grund, den wir nicht beeinflussen konnten, einige Zeit ohne unser geliebtes Rad auskommen mussten.
Der Radsport ist ein schwerer Sport. Nicht schwer in dem Sinne, dass man frontal über den Haufen gelaufen würde wie beim Rugby oder American Football. Nicht schwer in dem Sinne, dass man gegen das Ertrinken kämpfen müsste wie beim Schwimmen. Nicht schwer in dem Sinne, dass man einen kleinen Ball mit einem schmalen Holzschläger treffen müsste wie beim Baseball. Der Radsport ist schwer, weil unsere Ausfahrten und Rennen in Stunden und in Hunderten von Kilometern gemessen werden. Dieser Sport ist schwer in dem Sinne, dass das größte Hindernis nicht etwa das Rad ist oder das Streckenprofil, sondern unser Geist: Wir müssen der Verlockung widerstehen, drinnen auf dem Sofa zu bleiben, wenn es draußen aus Kübeln schüttet, wir müssen die Courage aufbringen, auch dann weiterzumachen, wenn unsere Beine furchtbar schmerzen, und wir müssen genügend Standhaftigkeit beweisen, um bitterer Kälte ebenso zu trotzen wie erdrückender Hitze.
Radsportler ticken anders als andere Menschen. Wir streben danach, die höchsten Pässe in der kürzest möglichen Zeit hinaufzufahren; wir brennen darauf, über die schmalsten, ruppigsten Wirtschaftswege ganz Europas zu brettern. Wir ziehen die Vorhänge zur Seite, sehen nichts als dunkle Wolken und verregnete Straßen und packen doch eiligst unsere Klamotten zusammen, um uns so schnell wie möglich der grausamen Pracht einer Ausfahrt bei widrigen Bedingungen hinzugeben.
Wenn ein Radsportler davon spricht, »sich großartig zu fühlen«, meint einer wie wir damit etwas anderes als die meisten Menschen. Jünger des Radsports müssen gelernt haben, auch dann den Druck auf den Pedalen aufrechtzuerhalten, wenn die Lunge zu explodieren droht und das Herz versucht, mit einem mächtigen Satz der Enge des Brustkorbs zu entkommen. Und das alles, während der Körper von so viel Laktatsäure geflutet wird, dass der Kiefer beginnt zu schmerzen, die Muskeln sich in brennende Kohleklumpen verwandeln und die Sehkraft schwindet.
Dann nicht einzuknicken und stattdessen noch mal den Druck auf dem Pedal zu erhöhen, um einfach noch ein bisschen mehr Tempo aus uns und unserem Rad herauszupressen, bedeutet für uns, »sich großartig zu fühlen«.
Der Radsport besitzt eine reiche und überaus vielschichtige Historie. Alles in diesem Sport, jedes Unternehmen, jeder Rennfahrer, jedes Teil der Bekleidung und jede Komponente, hat seine eigene Legende. Und oft besitzen diese Dinge auch eine ganz persönliche und nostalgische Verbindung zu unserem eigenen Leben. Bilder unserer Heroen – die Großtaten von Merckx, Coppi, Hinault – geistern uns im Kopf herum, wenn wir einen berühmten Berg hochbolzen oder unsere Konturen im flämischen Spiegel betrachten, den der regennasse Asphalt bildet.
Obschon er so stark in Traditionen verwurzelt ist, ist der Radsport gleichzeitig auch unbändig modern und strebt stets nach Fortschritt mittels Technik und Wissenschaft. Eine Tatsache, die seine Komplexität nur noch mehrt. Wir werden von den Legenden der Vergangenheit inspiriert, aber was uns letztlich antreibt, ist Fortschritt: leichteres und steiferes Material; atmungsaktivere Kleidung, die besser mit Feuchtigkeit zurechtkommt, ganz gleich, ob sie aus unseren Poren strömt oder vom Himmel herunterprasselt. Keine dieser Neuerungen wird jedoch einfach kritiklos akzeptiert; alles muss sich erst bewähren im Kontext unseres großartigen Sports und vor dem Hintergrund des gemeinsamen Weges, den wir alle gefahren sind.
Dieser Dualismus verleiht uns eine Perspektive und hilft uns, uns weiterzuentwickeln, ohne unsere Wurzeln zu vergessen. Er hält uns vor Augen, dass ein wahrer Velominatus ein Radsportjünger höchsten Ranges ist. Wir verbringen unsere Tage damit, über den Kern dessen nachzudenken, was unseren Sport so besonders macht und ihn zu einem solch farbigen, schillernden Universum formt. Das ist der Raison d’Être der Velominati. Das ist unsere Agonie – unser Ehrenabzeichen – unsere Sünde.
Der Prophet Eddy Merckx überbringt das heilige V-estament.