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Prolog

Der Radsport ist ein mächtiger Sport mit einer reichen und überaus vielschichtigen Historie. Ob Rennfahrer, Unternehmen, Teil der Bekleidung oder Komponente: Praktisch alles und jedes in diesem Sport hat seine eigene Legende oder erzählt seine eigene Geschichte – ein wichtiger Grund, warum viele Menschen eine solche Passion für den Radsport aufbringen. In vielen Fällen besitzen diese Geschichten und Legenden sogar eine ganz persönliche und nostalgische Verbindung zu unserem eigenen Leben.

Obschon er so stark in Traditionen verwurzelt ist, ist der Radsport gleichzeitig auch unbändig modern und strebt stets nach Fortschritt mittels Technik und Wissenschaft. Eine Tatsache, die seine Komplexität nur noch mehrt.

Aus dieser fragilen Balance zwischen Tradition und Fortschrittswillen rührt seit jeher ein besonderer Sinn für Etikette. Die Vorgaben für akzeptables Verhalten unter Rennradfahrern haben sich im Laufe vieler Jahre entwickelt. Sie sind ebenso das Resultat der dem Radsport innewohnenden Gefahren wie auch der steten wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Fahrern, die für diesen Sport kennzeichnend sind. Entstanden ist daraus ein komplexes Geflecht von Übereinkünften, die regeln, was für einen Radsportler akzeptabel ist und was nicht. Die Bandbreite reicht von rein ästhetischen bis hin zu rein funktionalen Konventionen.

Wir sind die Velominati, der heilige Orden der Radsportjünger. Wir verbringen unsere Tage damit, über die Essenz des Radsports nachzudenken, zu seinem Kern vorzudringen, um zu verstehen, was ihn zu einem solch farbigen, schillernden Universum formt. Das ist der Raison d’Être der Velominati.

La Vie Velominatus ist ein Ausdruck, den die Velominati häufig verwenden, um die Lebensweise eines wahrhaften Radsportlers zu beschreiben: eines Rennradfahrers, der diesen Sport, seine Geschichte, seine Kultur, seine Etikette und seine Ausübung in einem beinahe religiösen Kontext betrachtet.

La Vie ist Französisch und bedeutet »das Leben«. Aber es würde viel zu kurz greifen, wenn man den Ausdruck nur in diesem Sinne verstünde, denn es hieße, sich nur auf eine Bedeutungsebene zu konzentrieren, auf nur eine Facette, und gleichzeitig etwas Wichtigeres außer Acht zu lassen: nämlich die Gemeinschaft der vielen anderen gleichgesinnten Seelen, mit denen wir diese schöne Erfahrung teilen.

Es geht nicht um das Individuum; es geht um das Kollektiv. Um eine Art zu leben und das Leben zu betrachten. Das ist der gemeinsame Weg der Radsportjünger.

La Vie Velominatus steht und fällt mit Passion, und diese Passion wird durch fünf entscheidende Aspekte befeuert.

Erstens: Wir glauben, dass die beste Herangehensweise, um ein besserer Radsportler zu werden, einfach darin besteht, so oft wie möglich Rad zu fahren, und zwar so ambitioniert wie möglich.

Zweitens: Wir halten die Historie des Radsports in Ehren. Wir bewundern jene, die vor uns da waren und für uns gelitten haben. Aber wir betrachten auch die heutige Radsportkultur mit derselben Demut wie die Radsportkultur jener Generationen, denen wir nachfolgen.

Drittens: Wir betreiben und betrachten unseren Sport in dem Wissen, dass stetige Weiterentwicklung der Schlüssel ist, um auf Dauer bestehen zu können. Die Art und Weise, wie man die Dinge früher gemacht hat, muss nicht unbedingt die Art und Weise sein, wie man sie heute machen sollte. Wir lieben die Tradition, aber wir begrüßen die Zukunft mit offenen Armen.

Viertens: Wir glauben, dass Ästhetik eine entscheidende Rolle spielt, damit ein Fahrer das erforderliche Maß an Motivation entwickeln kann, um den Radsport in einer Weise auszuüben, dass er tatsächlich das meiste aus seinen Möglichkeiten macht und Tag für Tag aufs Rad steigt, Saison für verregnete Saison, Jahr für Jahr. Wenn man gut aussieht, dann fühlt man sich gut. Oder wie der Schriftsteller Paul Fournel es ausdrückt: Schön zu sein, heißt auch, schnell zu sein.

Fünftens und vermutlich am wichtigsten: Wir glauben, dass man, um die ersten vier Aspekte bestmöglich umsetzen zu können, einen gesunden Sinn für Humor braucht und nach Möglichkeit auch einen gewissen schwarzen Humor.

Die Regeln bilden eine der Säulen von La Vie Velominatus. Unser Kodex ist dabei weit mehr als nur eine simple Auflistung von allerlei Gesetzen und Geboten, die für Außenstehende auf den ersten Blick mehr oder weniger willkürlich oder unsinnig erscheinen mögen. Vielmehr fassen die Regeln die grundlegenden Prinzipien zusammen, nach denen ein Jünger des Radsports sein Leben lebt. Auch wenn einige Punkte vielleicht seltsam erscheinen und andere so wirken, als wären sie rein ästhetisch motiviert, so haben doch alle ihren Ursprung in der Geschichte, Kultur und Etikette unseres Sports und dienen letztlich allesamt einem Zweck: die Leute zu motivieren, öfter aufs Rennrad zu steigen und den Radsport und das Radfahren noch inniger zu lieben als bisher.

Du wirst bei der Lektüre dieses Buches schnell merken, dass es eine oberste Regel gibt, und zwar ist dies die Regel #5: Beiß verflucht noch mal auf die Zähne! Das ist das zentrale Element des Kodex der Velominati. Wir sprechen auch gern einfach von der V (»Die Fünf«), wenn wir uns auf diesen Kerngedanken beziehen. Radsport ist nun mal ein harter Sport, und das erfordert von uns im Umkehrschluss, dass wir hart im Nehmen sein müssen. Die V steckt in jedem von uns, wie ein tiefer Brunnen, den wir anzapfen können, wenn wir ihn am meisten brauchen. Die V durchdringt uns, sie ist immer um uns, sie hält unseren Sport zusammen.

Unter den Velominati gibt es einige, die der Regel #5 dermaßen große Wertschätzung entgegenbringen, dass sie das Gefühl haben, alle anderen Regeln wären überflüssig. Diese Regel #5-Fundamentalisten haben vielleicht nicht gänzlich Unrecht, aber die Dinge auf ihren simplen Kern zu verkürzen, würde doch auch bedeuten, den größeren Gedanken zu negieren, dass aus Komplexität unermessliche Freude entspringen kann. Es mag ja sein, dass ein Glas Wasser genügt, um seinen Durst auf die denkbar erfrischendste Weise zu stillen, und doch kann man gleichzeitig auch einen guten Wein wertschätzen, der sich durch die Tiefe seines Geschmacks und seine Unverwechselbarkeit abhebt. Wir haben uns entschieden, mit offenen Armen der Vielfalt an Weisheiten zu begegnen, die durch die übrigen Regeln vermittelt wird – sei es, das Training in schlechtem Wetter zu genießen (siehe Regel #9), lieber das Radsport-Fachgeschäft vor Ort zu beehren, als im Online-Handel einzukaufen (siehe Regel #58), oder immer und überall zu versuchen, sorgsame Nonchalance zu verkörpern (siehe Regel #80). In der Tat versuchen die Velominati sich auszuzeichnen, indem sie die Subtilität dieses glorreichen Sports feiern.

Dieses Buch setzt nichts voraus außer Passion: Als Leser wirst du nichts benötigen als eine, wie auch immer geartete, Leidenschaft für den Radsport. Wir werden dir keine Lektionen in Radsportgeschichte erteilen, und wir werden dir nicht erklären, was ein Schnellspanner ist. Es gibt andere Bücher und sonstige Medien, die viel besser geeignet sind, um etwa die Geheimnisse des Trainings oder der richtigen Tritttechnik zu erläutern.

Vielmehr möchte dieses Buch dich inspirieren, selbst aufs Rennrad zu steigen – ganz gleich, ob du das erst gestern noch gemacht hast oder zum letzten Mal vor zehn Jahren. Wir hoffen, einen Beitrag dazu zu leisten, dass du genau dieselbe Liebe und Neugier für diesen Sport, für das Rad und diese Art zu leben – La Vie Velominatus – entdecken wirst wie wir. Dies ist eine unerschöpfliche Quelle der Motivation, der Freude und des Vergnügens, die uns immer wieder aufs Neue inspiriert, eine Runde mit dem Rad zu drehen, mehr über unseren Sport zu lernen und nicht nur bessere Radsportler zu werden, sondern bessere Menschen.

Die Regeln und unser Glossar haben sich im Laufe der Jahre organisch weiterentwickelt, und was uns heute vorliegt ist eine Liste mit insgesamt fünfundneunzig Regeln. Die Regeln sind chronologisch durchnummeriert, also nach dem Zeitpunkt, an dem sie dem Kanon hinzugefügt wurden – und nicht etwa geordnet nach ihrer Bedeutsamkeit. Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, die Regeln für dieses Buch in fünf Abschnitte zu untergliedern, die jeweils unter einer thematischen Überschrift stehen, anstatt sie in der Reihenfolge zu belassen, in der sie auf Velominati.com aufgeführt sind. Jede Regel hat jedoch ihre ursprüngliche Nummer beibehalten. Im Laufe der Jahre haben wir zudem ein eigenes Vokabular entwickelt; solltest du also mal einen Begriff nicht auf Anhieb verstehen, konsultiere einfach das Glossar am Ende dieses Buches oder die Community von Velominati.com.

Vive la Vie Velominatus.

Die Regeln

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