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// von William Fotheringham
Vor ein paar Tagen schneite es bei uns in der Gegend und ich wollte meine Tochter vor die Tür bringen. Sie war nicht in der Stimmung dazu. Nun, sagte ich, du weißt doch, wie das bei uns läuft, wenn’s ums Radfahren geht. Regel #5, antwortete sie. Sie ist noch nie widerwillig aufs Rad gestiegen.
Man kann ein kulturelles Phänomen auf verschiedene Arten als solches erkennen, aber der entscheidende Punkt, an dem eine Sache zum Selbstläufer wird, ist, wenn sie keine Erklärung mehr benötigt. Sobald etwas wirklich Teil der Kultur geworden ist, muss man nicht mehr großartige Überlegungen anstellen, was es ist und warum es so ist. Genau das ist der Status, den die Regeln der Velominati bemerkenswerterweise inzwischen in vielen Radsport-Haushalten erreicht haben, wie die Episode mit meiner Tochter zeigte. Auch Sie haben bestimmt Ihre Regel #5-Momente. Auch Sie kennen Regel #5-Ausfahrten.
Wir alle haben unsere eigenen Regeln für das Rennradfahren, einen ungeschriebenen Verhaltenskodex, an dem wir uns orientieren. Ich habe einen langjährigen Freund, der mit dem Notizbuch arbeitet: Wenn du dich auf dem Rennrad wie ein Idiot benimmst, landet dein Name umgehend in seinem Notizbuch. Dieses Notizbuch existiert nicht im physischen Sinne, sondern nur in seinem Kopf. Wer aber definitiv im Notizbuch stand, das war der Typ, der uns schon seit Jahr und Tag bei jeder einzelnen Vereinsausfahrt attackiert hatte. Als er schließlich bei einer solchen Ausfahrt mal schutzlos auf der windzu-gewandten Seite ganz rechts am Rand der Straße fuhr, war der Tag der Abrechnung gekommen. Serge, wie ihn die Velominati nennen würden, wusste nicht einmal, dass er im Wind war, da erschien ihm auch schon der Mann mit dem Hammer, um ihn niederzustrecken.
An diesem Punkt sagte mein Freund weise: »Er stand im Notizbuch.« Das Notizbuch ist beinahe biblisch: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Früher oder später. Das Notizbuch ist aber nicht einfach eine Schwarze Liste von Leuten, denen man in Der Pate-Manier einen abgetrennten Pferdekopf ins Bett packt. Es ist viel subtiler. Eher so, dass die Leute, die auf die Konventionen scheißen, auch nicht mit Mitgefühl rechnen dürfen, wenn sie selbst in Schwierigkeiten kommen. Mit anderen Worten: Befolge die Regeln.
Mein alter Kumpel ist, fast unnötig zu erwähnen, ein erfolgreicher Absolvent der Eddy-und-Roger-Schule. Diese Schule zeichnet sich dadurch aus, dass alle Verhaltensfragen in Bezug aufs Rennradfahren nach demselben Maßstab bewertet werden: Was hätten Eddy und/oder Roger getan? Koteletten? Gut. Hände an den Bremshebeln, Rücken flach, Unterarme flach? Gut. Schlauchreifen erst 20 Jahre im Keller lagern, bevor man sie aufzieht? Gut. Rennen im Schneesturm? Obligatorisch. Kettenblätter ausbohren? Ja. (Sorry, das waren die 1970er.) Die Ehrenmitglieder der Eddy-und-Roger-Schule sind die Kämpfernaturen, die richtig harten Burschen des Radsports, und sie werden – selbstverständlich! – auch im weiteren Verlauf dieses Buches immer mal wieder auftauchen. Da wäre zum Beispiel Sean Kelly: ein Fahrer, den ich einmal gesehen habe, wie er bei Temperaturen um den Gefrierpunkt über einen schlammbedeckten, glitschigen Wirtschaftsweg irgendwo in Irland bretterte, als wäre es der Wald von Arenberg, nur um bei einem weihnachtlichen Spaß-Rennen einen Haufen Amateure zu besiegen, denn das besagte Rennen fand in seiner Heimatstadt statt und wurde von seinem Radsportverein ausgerichtet. Oder Laurent Fignon, dessen unnachahmliche Coolness bei der Tour 1984 bedeutet, dass er der Einzige war, der es je gewagt hat, Bernard Hinault in der Öffentlichkeit auszulachen, und die Sache überlebt hat. Und so weiter. Der Mitfavorit der Tour de France, der sich beschwerte, dass es bei der 2011er Ausgabe zu viele gefährliche Abfahrten gäbe, war hingegen eindeutig kein Schüler von Eddy und Roger. (Wir alle wissen, wer gemeint ist.)
Im Chez Fotheringham haben wir auch eine Regel #5a, die ich als geeignete Ergänzung für den Kodex erachten würde. Es sind nur fünf Wörter, die alles sagen: Eddy hat sich nie beschwert. Es gibt sicherlich Puristen, die argumentieren würden, dass sich Eddy sehr wohl beschwert hat, sogar recht häufig, und an diesem Einwand ist durchaus etwas dran. Eddy war dafür bekannt, seine Gegner beim Warten vor dem Start darauf hinzuweisen, dass er Kopfschmerzen/ein lädiertes Knie/ein Ziehen im Ellbogen/eine leichte Erkältung habe. Aber er ließ sich davon nicht aufhalten und gewann das besagte Rennen auch so. Und niemals hätte er das Zipperlein als Ausrede benutzt, um das Rennen sausen zu lassen.
Die Regeln überlappen sich teils mit einem eher obskuren Verhaltenskodex namens »Das Wissen«, das all denjenigen bekannt sein wird, die die Weisheiten von Robert Millar studiert haben. »Das Wissen« ist eine Sammlung von Konventionen des Radsports, die Millar in den 1980ern als einer der damals nur sehr wenigen englischsprachigen Profis im Peloton lernte zu befolgen. Mitte der 1990er Jahre verkündete er sie dann dem britischen Publikum in einigen Artikeln im Magazin Cycle Sport: Man isst nicht das weichere Innere des Baguettes. Hotelzimmer und Teamautos dürfen keine Klimaanlage haben. Wenn man nicht auf dem Rad sitzt, sollte man immer eine Wollmütze tragen, außer im Hochsommer. Man muss der Versuchung widerstehen, in kurzen Hose zu trainieren, vor allem wenn es 40 Grad im Schatten sind. Man stellt sich unter die Dusche und nimmt kein Bad in der Wanne, denn Baden zerstört den Muskeltonus. Die Velominati-Regel, dass man sich niemals am Tag vor einem Rennen rasieren darf, weil dies einen schwächt, ist direkt von Millar übernommen.
Worauf sich die Regeln, »Das Wissen« und die Eddy-und-Roger-Schule gleichermaßen stützen, das ist Passion. Vor langer Zeit fragte ich Eddy einmal, was ihn antrieb, so ziemlich jedes Radrennen zu gewinnen, das es wert war, sich eine Startnummer anzuheften (außer Paris–Tours, für die Pedanten unter Ihnen), und er hatte eine einfache Antwort: Leidenschaft, einfach nur Leidenschaft. »Sie war stärker als ich. Ich war ihr hörig.«
Das Wichtigste an Leidenschaft ist, dass stets die Robert-Millar-Regel gilt. Diese Regel besagt, dass begnadete Kletterer am Berg nicht etwa weniger leiden würden als wir anderen, sie leiden genauso, sie fahren nur schneller bergauf. Was ich damit sagen möchte, ist, dass Passion in vielen Erscheinungsformen und Intensitätsstufen daherkommt und dass sie uns an ganz verschiedene Orte führt.
Leidenschaft ist nicht auf Eddy und Roger beschränkt. Sie ist die Triebfeder allen Sports, und das gilt in besonderem Maße für unseren Sport, denn Rennradfahren ist nicht einfach etwas, was man am Wochenende gerne unternimmt. Für die meisten von uns ist der Radsport viel, viel mehr: Er ist ein Lebensstil. Und das, so glaube ich, offenbart sich immer wieder während der Lektüre dieses Buches.
Leidenschaft ist das schwer in Worte zu fassende Element, das uns als Radsportler verbindet. Leidenschaft ist es, was wir mit den Jungs gemeinsam haben, die gut genug sind, um mit Radfahren ihren Lebensunterhalt zu verdienen und die Rennen zu gewinnen, von denen wir nur träumen, sie eines Tages bestreiten zu dürfen. Auch sie haben einst geträumt; ob es Tom Simpson war mit den Postern von Fausto Coppi an der Wand seines Kinderzimmers oder der 16-jährige Eddy in seinem geschenkten Faema-Trikot, von dem er den aufgestickten Sponsorennamen abknibbelte, um an seinem ersten Rennen teilnehmen zu können. Passion für den Radsport ist es, was diese Heroen mit dem Kerl verbindet, der neulich bei der Winterbahn-Serie im Velodrom unvermittelt von der Überhöhung in die nicht vorhandene Lücke vor mir herabschoss. (Er steht selbstredend im Notizbuch.)
Ich denke nicht oft über den Stellenwert nach, den der Radsport in meinem Leben hat, aber ich wurde dazu gezwungen, als mir neulich jemand sagte: »Es muss schön sein, dass Sie Ihr Hobby zum Beruf machen konnten.« Hobby? Hobby? Ich war seltsam empört über den Ausdruck. Hobby, das hört sich in meinen Ohren nach etwas Zwanglosem an, nach etwas, was man einfach so anfangen und wieder drangeben kann, nach etwas, was man in seiner Freizeit tut, nur aus Lust und Laune und ohne jeden Ernst. Klar, Radsport macht Spaß und natürlich ist er im Vergleich zu den wirklich ernsten Dingen des Lebens eine entspannte Sache. Wenn es hart auf hart kommt, gehen andere Dinge vor, aber dennoch habe ich das Rennradfahren nie als lockeren Spaß empfunden. Vielmehr habe ich die Idee, mich auf dem Rad mit anderen zu messen, weitaus ernster genommen als die meisten anderen Dinge in meinem Leben und ich habe auf jeden Fall viel mehr Gedanken daran verschwendet. Ich hatte unglaubliches Glück, dieser Leidenschaft auf meine Weise folgen konnte: dass ich auf mäßigem Niveau selbst Rennen bestritten habe (und immer noch bestreite), dass ich die Chance hatte, wichtige Radrennen hautnah zu erleben, und dass ich einige der ganz Großen persönlich treffen durfte. Es war für mich nie einfach nur eine Möglichkeit, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, obschon ich das Glück hatte, dies zu tun.
Also, worum handelt es sich bei dieser Sache, die unsere Gedanken dermaßen bannt und die so viele unserer wachen Stunden für sich beansprucht. Um Sport? Viel mehr als das. Um einen Lebensstil? Viel zu klinisch. Vielleicht um das Leben selbst? Im Sinne von »Get a life«? Ach, ich bitte Sie. Es ist einfach eine Leidenschaft. Eine Passion. Das ist alles. Und dies könnte die wichtigste Regel von allen sein.
William Fotheringham begleitet den internationalen Profiradsport seit 1994 als Korrespondent für den Guardian, er war Gründungsmitglied der Radsportmagazine Cycle Sport und Procycling, und er nimmt selbst seit 1980 an Radrennen teil. Zu den zahlreichen Büchern, die er bereits zum Thema veröffentlicht hat, gehören viel beachtete Biografien von Eddy Merckx, Fausto Coppi und Tom Simpson. Letztere ist – unter dem Titel »Put me back on my bike« – auch in einer deutschsprachigen Ausgabe im Covadonga Verlag erschienen.