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BEFOLGE DIE REGELN
Die Ronde van Vlaanderen 1969: In seiner vielleicht stärksten Saison preschte Merckx bei einer nassen und verregneten Ausgabe der Ronde mit noch kuschligen 80 Rennkilometern vor der Brust vorne aus dem Feld heraus. Als einsamer Solist stürmte er gegen den beißenden Wind an. Da wies ihn sein Teamleiter an, die Beine hochzunehmen und auf die Meute zu warten. »Leck mich«, antwortete der Prophet. Merckx teilte die Fluten am Mount Velomis – niemand konnte ihn aufhalten.
Eine alte Velominati-Legende:
Er stand oben auf dem Mount Velomis, halb Mensch, halb Rad. Als er auf die Welt hinabblickte, die zu schaffen ihn so viele Mühen gekostet hatte, wurde ihm bewusst, dass seine Jünger weich geworden waren.
Sie beschwerten sich über Kälte, über Regen, über gefährliche Abfahrten. Sie beschwerten sich über Wind, über Hitze, über lange Tage im Sattel. Sie fuhren in abgetragenen Shorts und Trikots, die nicht zusammenpassten, und unter ihren Hintern befanden sich rückwärtig baumelnde Gepäckfächer. Auf ihren ungepflegten, nachlässig gewarteten Maschinen brachten sie Schande über alles, wofür er stand.
So geschah es, hoch oben auf dem Mount Velomis, dass er noch einmal auf sein Rad stieg. Und während seine Reifen langsam wieder zu summen begannen auf seiner mächtigen Rolle, legte er los und trat in die Pedale, erst voller Verzweiflung, dann voller Wut, dann voller Fürsorge.
Als sich sein Feuer schließlich in Erbarmen aufgelöst hatte und der Schweiß begann, von den mächtigen Geschützen seiner Beine auf den uralten Fels unter ihm zu tropfen, da formten die heiligen Mächte den Granit des Mount Velomis, so dass sie fortan in Stein gehauen dort zu lesen waren.
Die Regeln.
Der Mount Velomis erhebt sich wie der Olymp über einer großartigen Kultur geprägt von Traditionen und Etikette, er erhebt sich über einem Jahrhundert Radsportgeschichte von den frühen Heldentaten von Major Taylor und Henri Desgrange bis hin zu den vergötterten Bravourstücken von Coppi, Bobet, Merckx und Hinault. Sein Schatten reicht weit über die Erfindung des Schnellspanners und der Kettenschaltung hinaus – allesamt Dinge, die wir in unserem ruhmreichen Sport seit langem für eine Selbstverständlichkeit halten. Wie ein mächtiger Fluss strömen von seinen Hängen all die zu erlernenden Lektionen herab, weitergetragen durch die kollektive Erfahrung von Mechanikern, die in Diensten anspruchsvoller Rennfahrer standen, die Wert auf kleinste Details legten. Die pochenden Herzen der Radsportjünger entfachen gemeinsam einen mächtigen Sturm, wenn wir uns völlig verausgaben, bis an unsere Grenzen und noch ein Stückchen mehr.
Wenn Radsportler sich in Schale werfen und auf ihr Rad steigen, stehen sie nicht auf den Schultern von Giganten; sie stehen auf einem gewaltigen Berg geformt aus Geschichte und Legenden. Sie stehen auf dem mächtigen Fels des Mount Velomis.
Wir sind Radsportler. Der Rest der Welt fährt einfach bloß Rad.
Befolge die Regeln.