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D2.2.1 Franz Theodor Csokor: rote oder gelbe Strasse

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Im Salon der Camilla Spitz und mit dem da verorteten Blick Richard Billingers auf Veza Taubner ergeben sich vielfältige Rückbezüge zu Billinger selbst, mehr aber noch zu dessen Freund Franz Theodor Csokor.

Das Evozieren des Bildes der schönen Römerin Nanna durch Elias Canetti verschleiert in seinem Kerngehalt, dass Veza Taubner selbst gerade diesen bei Franz Theodor Csokor und Richard Billinger festgestellten Glauben an eine höhere Ordnung dekonstruiert hat. Ethik und Mitmenschlichkeit fokussieren bei ihr nicht auf einen allmächtigen Gott, sondern auf mitmenschliches Handeln, das im Tun jedes Menschen angelegt sein soll, ganz im Sinne des von Immanuel Kant formulierten kategorischen Imperativs. In diesem Sinne ist der Roman Die Gelbe Strasse eine eindrückliche Auseinandersetzung mit Franz Theodor Csokors Die Rote Strasse: „Während Csokor das Scheitern seiner Protagonisten in ihrer gleichsam atheistischen Haltung ortet, öffnet Veza Canetti an der gleichen Stelle ein Panoptikum der Sozialkritik.“372 „Intertextuell ist die Nähe der beiden Texte – Die rote Strasse und Die Gelbe Strasse – bereits durch die Wahl der Titel gegeben. Die Bezeichnung Die rote Strasse verweist auf das rote Licht, das einerseits am Fusse des Holzkreuzes auf dem Platz der Barmherzigkeit steht, und andererseits auf das rote Licht über dem Eingang zum Bordell am selben Platz. ‚Im Giebel seiner durch Stufen über den Platz erhöhten Türe brennt eine rotgläserne Laterne. Die Mitte des Platzvordergrundes nimmt ein leeres Holzkreuz ein, darauf die Passionsinsignien (…) wo ein Pult den Kreuzfuss berührt, flackert in einem roten Gläschen ein ewiges Licht. Immer noch Nacht; doch schon gegen die Frühdämmerung zu.‘ Aber auch die Verwendung der Farbe Gelb in Veza Canettis Roman weist auf das Theaterstück Die rote Strasse zurück, bezeichnete Franz Csokor doch den reichen Mann und Bordellbesucher, der im Gold schwimmt und sich jede Frau kaufen kann, mit der gelbe Mann. Die Obsession für die Farbe Gelb zeigt sich beim reichsten Mann im Roman Die Gelbe Strasse, dem Immobilienbesitzer, Rentier, Kapitalist Vlk, hingegen vorerst nur im Gelb seiner Brille, erst als er unter falschem Verdacht verhaftet wird, seiner Brille verlustig geht, beginnt er die Wände seiner Zelle mit dem eigenen gelben Kot umzufärben, entsprechend dem vom Hundekot eingefärbten Belag seiner Strasse, der gelben Strasse. In beiden Texten steht die Farbe Gelb auch für Gold: der gelbe Mann in der roten Strasse schwimmt darin buchstäblich, und das Gold des Winkelbankiers, welches das Kind Hedi in der gelben Strasse findet, bringt indirekt den Mann mit der gelben Brille, nämlich Vlk, zu Fall. Die Farbe Rot des Glases hingegen birgt in der roten Strasse am Fusse des Kreuzes das ewige Licht und taucht den Platz der Barmherzigkeit zusammen mit der rot schimmernden Lampe über dem Bordelleingang in ein stimmiges Licht. Ganz anders bei Veza Canetti, hier verkörpern die Roten oder die roten Gustis wie bereits ausgeführt das soziale Gewissen, indem sie das Geschehen gleichsam aus sozialistischer Perspektive im dialektischen Materialismus kommentieren. Hier offenbart sich auch gleich ein ganz grosser Unterschied zwischen den beiden Texten, kommentieren doch die Figuren aus der Roten Strasse das Geschehen nicht wie bei Veza Canetti aus verschiedenen Perspektiven, sondern es gibt nur eine relevante Perspektive, wie die als Jüngstes Gericht gestaltete Schlussszene offenbart, nämlich die eschatologische. Die kommentierenden Stimmen zu Beginn und Ende des Theaterstückes Die rote Strasse betonen denn auch das Serielle des Geschehens, in dessen Zentrum das Paaren, ‚Paaret‘, und das ‚Blut‘ stehen, welches binde und scheide. Franz Csokor nennt diese drei Stimmen die Unterverantwortlichen. Auch die Stimmen der Häuser in der Lästergasse kommentieren das Geschehen in der Gasse nicht aus verschiedenen Perspektiven, sondern paraphrasieren es. Wenn sie ausnahmsweise kommentieren, dann aus der Perspektive des Kosten-Nutzen-Optimierens, was der Perspektive des Gelben Mannes entspricht. ‚Besinnt euch doch ihres Gesponsen von einst, des Kaufmannes dort im Palaste! Jede wohl hier wäre selig gewesen über solch einzige Gunst aber sie –? Gepeinigt hat sie ihn nur, bespöttelt, genarrt und gehetzt (…).‘ Auch bei Veza Canetti gibt es diese Stimmen aus der Strasse, die kein Verständnis für ihre Mitmenschen aufweisen, sondern einfach nur lästern. Veza Canetti kontrastiert aber diese Stimmen geradezu nüchtern mit Stimmen aus der Perspektive von Recht, Psychologie, Sozialismus und so weiter.

Im Roman Die Gelbe Strasse stürzt sich ein Dienstmädchen ins Wasser und wird vom Wachmann gerettet, was ihr einen Platz im Obdachlosenheim und einen Job bringt. Im Theaterstück Die rote Strasse wird die junge Frau, die sogenannte Sie, bei ihrem selbstmörderischen Gang ins Wasser vom Gelben Mann gerettet, bei dem sie nun auch notgedrungen, aber ungern bleibt. Während am einen Ort, nämlich der gelben Strasse, der Staat helfend eingreift, führt am andern Ort, der roten Strasse, der gleiche Vorgang zu einer fatalen finanziellen Abhängigkeit der jungen Frau von einem ungeliebten Mann. Den Höhepunkt des dramatischen Geschehens – die Person Er (der einstige Geliebte von Sie) vernimmt, dass die Figur Sie an der Geburt des Sohnes im Hause des Gelben Mannes gestorben ist – lässt Csokor im Zimmer einer Dirne spielen, dessen Fenster auf den Platz der Barmherzigkeit hinausgeht, wo vom umgebrochenen Kreuz nur noch der Fuss steht und das ewige Licht schwach leuchtet. Von Frau Iger hingegen, deren Ende im Roman Die Gelbe Strasse im Gegensatz zum Drama Der Oger höchst unbestimmt bleibt, heisst es: ‚Ihr Leid rief einen Gott an.‘“373

Verschiedentlich wurde auch schon von der literaturwissenschaftlichen Forschung darauf hingewiesen, dass der Name Vlk für den Unfrieden stiftenden Kapitalisten im Roman Die gelbe Strasse ein „(…) ironischer Seitenhieb auf den Dichter Csokor“ sei, „der sich selbst gern als Wolf bezeichnete, und d[ie] Tatsache, dass Vlk das tschechische Wort für Wolf ist.“374

In den Entwürfen Elias Canettis, die vor dem Jahr 1928 geschrieben wurden, gibt es eine Binnenerzählung mit einem unleserlichen Titel, die die unschöne Begegnung von einem Menschen mit Namen Wolf und einem Maler schildert. Wobei Wolf davon ausgeht, dass es dem sogenannten Wicht und Maler noch schlechter geht als ihm selber. „‚Sie sind wirklich ein Wicht‘, sagt er ihm einmal, ‚nicht weil Sie Hunger und kein Geld haben, sondern weil es Ihnen noch viel schlechter geht als mir und Sie nicht den Mut aufbringen, sich zu töten, während ich mich jederzeit leicht töten könnte.‘“375 Die Geschichte endet mit der Pattsituation, dass sich der Wicht nur gemeinsam und nur mit einer Pistole umbringen will, Wolf aber genau das feige findet und der Wicht dann erwidert: „Allein geht’s nicht.“376

Theo Waldinger bezeichnet Franz Theodor Csokor als Freund seines Bruders Ernst Waldinger,377 was für eine Überschneidung der Personenkreise rund um die Felonen und rund um den Salon Spitz spricht.

Als Freunde von Richard Billinger gelten auch Alfred Kubin und Carl Zuckmayer. Der Grafiker und Maler Alfred Kubin hat 1935 den Einband der Erstausgabe des Romans von Die Blendung illustriert.

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