Читать книгу Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler - Страница 59
E3. Salon der Alma Mahler
ОглавлениеIn den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis gibt es keinen Hinweis darauf, dass Veza Taubner schon früh – vor 1924 – den Salon der Alma Mahler besucht haben könnte. Mehrere Indizien weisen indessen darauf hin, dass die Autorin in ihrer Jugendzeit – somit vor oder während des Ersten Weltkriegs – in Kontakt mit den Kreisen um Alma Mahler gekommen sein muss, nicht nur über den Bruno-Walter-Chor und die da aktiven Schwestern Levy (Alice Asriel und Tony Wely) sowie Hans Asriel und Fredl Waldinger.
Eine ganz besondere Beziehung muss Veza Canetti zum dritten Ehemann von Alma Mahler, Franz Werfel, gehabt haben. Werfel ist einer der Menschen, die Elias Canetti explizit hasst. Wie oft bei Hass-Objekten des Dichters stehen diese in einer besonderen Beziehung zu Veza Canetti. Ein Grund für den Hass kann aber auch einfach der Neid auf den sehr erfolgreichen und ungleich berühmteren Franz Werfel gewesen sein, der spätestens seit 1924 mit dem Roman Verdi in der breiteren Öffentlichkeit rezipiert wurde.
Ausführlich zu seinen Aversionen gegenüber Franz Werfel äussert sich Elias Canetti in den Unpublizierten Lebenserinnerungen:
„Überhaupt war jener Anfang des Jahres 1934 an Demütigungen reich: Da war der Zusammenbruch des Roten Wien, mir selbst und auch Veza der furchtbarste Schlag; es ist seither nichts mehr in der Welt so gegangen, wie man es sich gewünscht hat. Dann war die Vorlesung der Komödie bei Anna. Broch und Werfel waren anwesend. Anna war beiden zugetan, damals begann ihre Liebesgeschichte mit Broch, die genau so kurz dauerte wie die mit mir. Die Vorlesung verwendete sie dazu, um Broch anzusehen und zu erregen. Sie hörte kaum zu und ihre Abwesenheit teilte sich auch Broch mit. Werfel wurde durch die Komödie an Karl Kraus erinnert und reagierte mit äusserster Feindseligkeit. Das Resultat war ein Fiasko, wie man es sich ärger nicht vorstellen kann. Ich hatte alle meine Hoffnungen an die Komödie gehängt. Nichts von mir war geglückt und nichts war aufgeführt. Manche Menschen in Wien kannten mich und hielten viel von mir. Aber ich war 29 und keines der drei Werke, die zählten, lag der Öffentlichkeit vor. Werfel, der nicht einmal bis zum Ende der Vorlesung blieb, fuhr mich an: ‚So lassen Sie doch die Finger davon!‘ Dann ging er und ich musste weiterlesen. Es waren seine Freunde, in deren Haus ich las, sein Urteil war für sie massgebend. Wenn ich je einen Schock in meinem Leben bekommen habe, so war es damals. Werfels Absicht war, mich an weiterem Schreiben zu verhindern, und ich denke mit Entsetzen, dass er seine Absicht erreicht hat. Ich habe seit jenen Tagen kein dichterisches Werk mehr unternommen. Über 15 Jahre sind vergangen, und ich hatte in den Grinzinger und Amershamer Jahren Zeit und Musse für ein ganzes Oeuvre. An Einfällen fehlte es mir nie; aber es war etwas wie ein ungeheuerliches Schreibverbot in mir wirksam, und ich suchte nach anderen Menschen, die statt meiner schrieben, für diese Katastrophe war Anna verantwortlich und ich habe mich viel später in England auf eine schreckliche Weise an ihr gerächt.“449 Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat der Hass auf Franz Werfel schon viel früher begonnen, Sven Hanuschek notiert, indem er sich auf jugendliche Entwürfe von Elias Canetti aus der Zeit vor 1928 stützt: „Und er muss sehr früh schon Franz Werfel kennengelernt haben, lange vor der Verbindung mit seiner Stieftochter Anna Mahler; Canetti scheint von Anfang an mit ihm im Dissens gelebt zu haben. In den frühen Entwürfen findet sich eine ästhetische Debatte mit Werfel, der ihm ‚Dialog-Übungen‘ empfohlen hatte: ‚Dialogübungen, Monologe sind so langweilig wie Predigten, weil sie sich faktisch doch immer an den zweiten richten, der hört oder liest.‘ Und Werfel muss ihm die Devise vorgeschlagen haben: ‚Lächeln – Ahnen – Schreiben!‘ Canettis Gegenvorschlag lautet: ‚Grüssen – Spucken – Glotzen, das sind wir, nicht obiges, verdammter überschwänglicher Priesterschmock Werfel.‘“450 Da keine weitere explizite Quelle darüber Auskunft gibt, wie der Chemiestudent Elias Canetti zu einem Schüler-Lehrer-Verhältnis mit Franz Werfel kam, kann darüber spekuliert werden, wie es zur Bekanntschaft gekommen sein könnte. Ins Auge zu fassen ist erstens die Bekanntschaft von Veza Taubner und Franz Werfel über das Publizieren, Lektorieren und Übersetzen im Zsolnay-Verlag. Zweitens könnte Franz Werfel auch den Salon von Camilla Spitz besucht haben, zumal er mit Hugo von Hofmannsthal befreundet gewesen war. Drittens ergibt sich eine Spur über Ernst Polak, einen guten Freund Franz Werfels aus der Zeit des Literaten-Cafés Arco451 in Prag. Ernst Polak ereilt in den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis ein ähnliches Schicksal wie Werfel selbst. Als explizites Hassobjekt findet Ernst Polak allerdings nur Eingang in die Unpublizierten Lebenserinnerungen.
Am ergiebigsten ist die vierte Spur: In der publizierten Lebenserinnerung Das Augenspiel und darin im Kapitel zum Künstlertreffpunkt bei Anna Mahler mit dem Titel Operngasse fügt Elias Canetti einen Rückblick auf eine Gesellschaft auf der Hohen Warte im Hause von Alma Mahler ein.
„Er (Franz Werfel, Anm. va) hatte sogar die Menschenliebe, mich zu fragen, wie es mir geht und brachte dann gleich das Gespräch auf Veza, deren Schönheit er bewunderte. Bei einer der Gesellschaften auf der Hohen Warte war er vor ihr niedergekniet und hatte leiblich eine Liebesarie gesungen, immer auf einem Knie, bis zu Ende, und stand erst auf, als er sich sagen konnte, dass ihre Darbietung ihm so gut gelungen war wie einem professionellen Tenor, er hatte eine gute Stimme. Er verglich Veza mit der Rowena, der berühmten Schauspielerin der Habimah, die auch in Wien die Hauptrolle der Besessenen im ‚Dybuk‘ gespielt hatte, alle waren von ihr hingerissen gewesen.“452
Die Handlung des jüdischen Theaterstückes Der Dibbuk von Salomon An-Ski lässt sich folgendermassen zusammenfassen. Der Vater von Lea verspricht seine Tochter einem anderen als dem von ihr gewünschten und geliebten Mann; dieser bricht in seinem Unglück daraufhin tot zusammen. Anlässlich der Hochzeit von Lea mit dem von den Eltern geplanten Bräutigam fährt ein Toter in Lea ein und sie erscheint beim Öffnen des Schleiers durch den Ehemann als Mann. Mit Rowena ist die Schauspielerin Hanna Rovina gemeint, die als Lea bei der Aufführung in hebräischer Sprache grosse Erfolge feierte. Aufführungen dieses Stückes von Salomon An-Ski mit Hanna Rovina in der Rolle der Lea waren nach grossen Erfolgen in Moskau zwischen 1922 und 1926 auch auf einer Europatournee zu sehen. Belegt ist ein Gastspiel in Wien mit Hanna Rovina im Jahr 1926.453 Die Truppe liess sich 1928 in Israel nieder.454
Alma Mahler lebte zusammen mit Franz Werfel erst ab 1931 auf der Hohen Warte, zuvor wohnte sie ab 1914 äusserst zentral an der Elisabethstrasse 22. Interessant in Bezug auf Veza Taubner und Alma Mahler, geborene Schindler, ist die wohnliche Nähe von Alexander Zemlinsky.
Alma Mahler war ab 1901 Schülerin und Geliebte von Alexander Zemlinsky,455 der an der Oberen Weissgerberstrasse 16 (Lehmann’s Adressbuch) wohnte. Alma Schindler und Alexander Zemlinsky haben sich also in unmittelbarer Nähe des Radetzkyplatzes bewegt, der – wie thematisiert – als Zentrum des Familienkosmos der Calderons angesehen werden kann. Alexander Zemlinsky wohnte sogar gerade gegenüber von Vezas Onkel Morris J. Calderon an der Oberen Weissgerbergasse. Mit Ausnahme des Chors von Bruno Walter (im Zusammenhang mit dem Hause Asriel und Fredl Waldinger) gibt es keine Hinweise darauf, dass Veza Taubner bereits in ihrer Kindheit Alma Mahler kennengelernt haben könnte. Für eine Bekanntschaft mit Franz Werfel, der seit 1917 in Wien lebte und ab 1919 mit Alma Mahler befreundet war und vor dem Krieg als Lektor im Kurt Wolff Verlag Leipzig amtete, wo er auch seine ersten Werke verlegte, spricht einiges mehr. Dies, obwohl Werfel mit Karl Kraus schon vor dem Ersten Weltkrieg verfeindet war.456 Ursprünglich war Franz Werfel von Karl Kraus gefördert worden, erste Gedichte vom ganz jungen Lyriker wurden schon im Jahre 1911 in der Fackel publiziert.457
Eine weitere Spur zu einer frühen Bekanntschaft von Veza Taubner und Franz Werfel ist, dass dieser mit Rainer Maria Rilke befreundet gewesen war und dass Elias Canetti in den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen von dieser todessehnsüchtigen Rilke-Anhängerin auf der Raxalpe spricht, von der er Veza Taubner nur mit einem Ultimatum wegreissen konnte. Die Werfel-Rovena-Geschichte könnte erstens darauf hinweisen, dass Veza Taubner womöglich jemand Liebes weggestorben sein könnte, allenfalls ein Freund aus der Zeit vor Elias Canetti – wie in der Dibbuk-Geschichte –; zweitens könnte Franz Werfel einfach nur so etwas wie ein alter Verbündeter Veza Taubners gewesen sein, hatte er sich doch im Jahr 1918 tagespolitisch aktiv für den Sozialismus in Wien eingesetzt und müsste darum ein offenes Ohr für die sozialkritischen Anliegen Veza Taubners gehabt haben.458 „Die österreichische Presse beschuldigte die Mitglieder der Roten Garde, die blutigen Zwischenfälle angezettelt zu haben, verurteilte insbesondere deren Anführer Egon Erwin Kisch als verantwortungslosen Abenteurer, brachte aber auch Franz Werfel in direkten Zusammenhang mit den Geschehnissen.“459
Breitenstein am Semmering, der Sommerwohnsitz von Alma Mahler, und der von Elias Canetti erwähnte Knappenhof auf der Raxalpe befinden sich beide in der Nähe von Reichenbach; ob das in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, kann nicht abschliessend beurteilt werden.
Es gibt mehrere auffällige Parallelen zwischen dem Ehepaar Werfel-Mahler und dem Ehepaar Canetti-Taubner. Beide Frauen sind plus/minus ein Jahrzehnt älter als ihre Männer, beide Frauen sind in Wien aufgewachsen und eng vertraut mit der Kulturszene, beide Männer gehen, kaum ansässig in Wien – Franz Werfel 1917 und Elias Canetti 1924 –, eine Liebesbeziehung mit ebendiesen Wienerinnen, Alma Mahler beziehungsweise Veza Taubner, ein. Beide Ehen werden erst nach ungefähr zehn Jahren Liebesbeziehung geschlossen – 1929 respektive1934. Beiden Ehen wird nachgesagt, dass sie nach der Heirat erkaltet seien. Beide Frauen setzen sich sehr für das dichterische Werk ihrer Männer ein und pflegen intensive Beziehungen zu kulturellen Kreisen nicht nur in Wien, sondern später auch im Exil. Beide Ehepaare verlassen die langjährigen Wohnungen in der Innenstadt und ziehen in die vorstädtische Hügellandschaft: Werfel-Mahlers 1931460 auf die Hohe Warte, Steinfeldgasse 2 in Döbling (Villa Ast, erbaut von Josef Hoffmann 1911), und die Canetti-Taubners 1935 an die Himmelstrasse 30 in Grinzing. Beide Ehepaare werden durch den Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland 1938 gezwungen ins Exil zu gehen, das Ehepaar Mahler-Werfel landet in New York und das Ehepaar Canetti-Taubner in London.
Im Gegensatz zu Elias Canetti hat sich Franz Werfel bereits in der Zwischenkriegszeit zum Bestseller-Autor entwickelt, er stirbt 1945 mit nur 55 Jahren an einem Herzinfarkt. Elias Canetti hingegen feiert seine grossen Erfolge verzögert durch den Zweiten Weltkrieg erst ab den 70er Jahren und stirbt 1994 hochbetagt im Alter von 89 Jahren. Alma Mahler überlebt nicht nur ihren Mann um fast 20 Jahre, sondern obendrein die um 18 Jahre jüngere Veza Canetti um anderthalb Jahre. Ob sich Franz Werfel für die künstlerische Seite von Alma Mahler, das Komponieren, eingesetzt hat, musiziert hat man auf jeden Fall zusammen, ist unbekannt. Bekannt ist hingegen, dass Alma Mahler sich mindestens in der Anfangsphase ihrer Beziehung beratend mit der Dichtkunst ihres Mannes auseinandergesetzt haben muss. Die gegenseitige Unterstützung und Zusammenarbeit zwischen Veza und Elias Canetti ist ein sehr weites Feld und harrt einer detaillierten Untersuchung.
Trotz diesen doch erstaunlich vielen Parallelen zwischen den beiden Ehepaaren ist eine nähere Bekanntschaft, ja Freundschaft zwischen den beiden Frauen nicht zu belegen, es scheint sogar so, dass Veza Taubner vor allem Franz Werfel gut gekannt haben muss. Politisch stand sie diesem bestimmt näher als den Ideen Alma Mahlers, die trotz des jüdischen Ehemannes nicht nur am Judenhass festhielt, sondern auch am austrofaschistischen Ständestaat. „Im Salon Alma Mahler-Werfels scheuen sich Ödön von Horvath, Franz Theodor Csokor, und Carl Zuckmayer nicht, mit den Regierungsmitgliedern des Ständestaates und den fragwürdigen Kulturpolitikern der ‚Vaterländischen Front‘ zusammenzutreffen.“461