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Z2. Die Pseudonyme mit dem Namen Murner
ОглавлениеBereits Eva Meidl482 hat 1998 darauf hingewiesen, dass das Pseudonym Murner auf den nazifeindlichen Publizisten und Aktivisten Carl von Ossietzky hinweisen könnte, der unter dem Pseudonym Thomas Murner publiziert hat. Mit dem Namen Thomas Murner wird aber auch der ursprüngliche Namensträger, der elsässische Humanist, Dichter und Satiriker Thomas Murner (1475–1537), Mönch des Franziskanerordens, ins Spiel gebracht. Thomas Murner war wie Veza Canetti auch körperlich behindert, der Thomas-Murner-Biograf Theodor von Liebenau bezeichnet in einer Biografie von 1913 das Leiden Murners in seiner Biografie als „Englische Krankheit“483 und schreibt: „Diese Krankheit sowie die Hinneigung zum Franziskanerorden und der sehnliche Wunsch der Eltern bestimmte den körperlich jedenfalls missgestalteten Murner sich dem geistlichen Stande zu widmen.“484
Das Pseudonym Martin Murner hat Veza Taubner ein erstes Mal für die Erzählung Die Grosse verwendet, die auch tatsächlich im Januar 1933 in der Zeitung Deutsche Freiheit in Saarbrücken – also nahe der französischen Grenze und unweit von Strassburg, dem Wirkungsort des Franziskaners Thomas Murner – erschienen ist. Im Herbst des gleichen Jahres wurde die Erzählung auch noch im Elsass selbst, das heisst in Mühlhausen, in der Zeitung Der Republikaner veröffentlicht. Die Wiener Arbeiter-Zeitung brachte die Erzählung im Sommer 1933. Die zwei letzten Zeitungen brachten Die Grosse unter der Pseudonym-Variante Martina Murner. Die Murner-Pseudonyme – Martha, Martin und Martina – hat Veza Taubner nur im Jahr 1933 verwendet. Neben der Erzählung Die Grosse war Murner das Pseudonym für die Erzählungen Der Dichter, Der Fund und Der Zwinger. Mit Ausnahme der Erzählungen Der Kanal und Der Zwinger sind genau diese Erzählungen nicht in den Roman Die gelbe Strasse aufgenommen worden. Gut möglich, dass Veza Taubner sich wegen den Publikationsorten ihrer Erzählungen unweit der Stadt Strassburg vom Namen des Humanisten und Dichters Thomas Murner hat inspirieren lassen. Womöglich um mit der Namenswahl einen anderen Aspekt ihres Denkens zu verdeutlichen, nämlich den Blick der Humanistin und Satirikerin auf die Welt ausserhalb des Diskurses von Herrschaft und Knechtschaft, der mit dem Pseudonym Magd als Perspektive und Position bereits von ihr eingebracht worden war. Auch über die Vornamen lässt sich spekulieren. Das Pseudonym Martin Murner, das nur einmal gewählt wurde, ist wohl eher ein Versehen, da für die Erzählung Die Grosse sonst Martina verwendet wurde. Mit Ausnahme der Erzählung Der Fund zeigt Veza Taubner in den unter dem Pseudonym Martina Murner publizierten Erzählungen Die Grosse, Der Zwinger und Der Dichter Kinder der Unterschicht, die früh erfahren müssen, dass die Gesellschaft sie nicht gleich behandelt wie die Kinder der Oberschicht.
In Martina steckt Martin, und das ist, etymologisch gesehen, der Kriegsgott der Römer namens Mars. In der erst posthum veröffentlichten, im Exil entstandenen Erzählung Der letzte Wille sagt die Ich-Erzählerin dementsprechend, nachdem sie und ihr Mann einen Waisenknaben aus den Trümmern geborgen haben: „Wir werden kämpfen, oh, wir werden kämpfen, dass es ihm bleibt, dieses Lächeln.“ (DF 196) Das ist schon fast eine Kampfansage der Autorin mit dem Namen des elsässischen Humanisten und Kämpfers.
Das Pseudonym Martha Murner wurde erst im November 1933 zum ersten Mal verwendet, und zwar für die in der Arbeiter-Zeitung in Fortsetzung erschienene Gross-Erzählung Der Kanal, in deren Zentrum verschiedene Dienstbotinnen Wiens stehen. Akkurat für diese Erzählung hat nun Veza Taubner nicht das zu erwartende Pseudonym Magd verwendet, sondern wiederum das mit Anklang an den Humanisten Murner, hier nun in Kombination mit dem Namen Martha. Martha gilt als Schutzheilige der Hausfrauen und Mägde. Veza Canetti wird dann auch im Roman Die Schildkröten schreiben: „(…) dass nur der Künstler die Menschenwürde noch zu retten vermag.“ (Sch 66) Gut denkbar, dass Veza Canetti sich mit der Wahl des Pseudonyms hier spezifisch schützen wollte, möglicherweise gehörte die Dienstbotenvermittlung Hatvany zu ihrem näheren Lebensumfeld. Vielleicht aus ähnlichen Gründen hat Veza Taubner im November 1933 ein zweites Mal das Pseudonym Martha Murner für die Erzählung Der Neue verwendet. In dieser Erzählung inszeniert die Autorin einen Schlagabtausch zwischen Zeitungskolporteuren in der Stadt Wien. Ein Milieu, das der Autorin im gegebenen Fall sehr vertraut gewesen sein könnte.
Zum Umfeld von Veza Taubner darf der Leopoldstädter Arbeiter-Schriftsteller Adolf Unger (1904–1942) gezählt werden, dieser war neben dem Schreiben in verschiedenen proletarischen Berufen tätig gewesen, unter anderem als Zeitungskolporteur. Im Band Als stünd’ die Welt in Flammen schreibt Herbert Exenberger, indem er Adolf Unger zitiert: „Die Inflation kam. Die Krise. Die Arbeitslosigkeit. Viereinhalb Jahre stand ich ohne geregelte Arbeit da. Ich versuchte und packte alles an, was sich mir bot. Mehr als ein Jahr stand ich an der Lerchenfelderstrasse, Ecke Albertgasse, als Kolporteur und verkaufte Zeitungen (…)“485 In der Erzählung Der Neue von Veza Taubner sorgen die verschiedenen Zeitungskolporteure vor der Kirche dafür, dass das Sprengstofflager des sogenannt braunen Kolporteurs, der deutsche Zeitungen verkauft und gleichzeitig „frech und selbstbewusst Stimmung gemacht hatte“ (GbR 71), aufgedeckt wird. Diese Szene setzt einen eklatanten Bezug zum von Veza Taubner gewählten Pseudonym Martha Murner genau für diese Erzählung. Wurde doch der unter dem Pseudonym Thomas Murner publizierende Leiter der Wochenzeitschrift Die Weltbühne, Carl von Ossietzky, 1931 ins Gefängnis gesteckt, weil seine Zeitschrift die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufgedeckt hatte.486 Dieser sogenannte Weltbühne-Prozess fand international Beachtung. Die Zeitschrift Weltbühne, ursprünglich eine Theaterzeitschrift mit dem Namen Schaubühne, entwickelte sich zu einem Forum der demokratisch denkenden, bürgerlichen Linken der Weimarer Republik. In der Erzählung Der Neue kommt hingegen der Waffenlagerbesitzer selbst ins Gefängnis und die ganz unterschiedliche Zeitungen vertretenden Kolporteure vor der Kirche sympathisieren nun vorerst zaghaft mit dem Kollegen, der eine Zeitung mit sozialistischem Hintergrund vertreibt. (GbR 71 f.) 1932, ein Jahr bevor Veza Taubner zum ersten Mal das Pseudonym Murner verwendet hatte, übertrugen die Macher der deutschen Weltbühne dem 1929487 aus der Kommunistischen Partei Österreichs ausgeschlossenen Wiener Publizisten und ehemaligen Redakteur der Roten Fahne, William S. Schlamm (1904–1978), die Redaktion der Wiener Weltbühne.488 Ob Veza Taubner in irgendeinem Bezug zu dieser Wiener Weltbühne steht – sei es als Autorin, Lektorin, Korrespondentin oder Übersetzerin –, ist unbekannt.489 Der Standort Wien wurde allerdings aus politischen Gründen (Ausschaltung des Österreichischen Parlaments im März 1933) kaum eröffnet, schon wieder aufgegeben und nach Prag versetzt, von wo aus die Zeitschrift als Die Neue Weltbühne von April 1933 bis 1939 erscheinen konnte. 490