Читать книгу Tage des Terrors. Tatsachenroman - Walter Laufenberg - Страница 12
8.
ОглавлениеSitzen da zwei Abiturientinnen auf einer der wenigen Bänke in der Halle des Henry-Ford-Baus der Freien Universität Berlin und mimen das erste Mal Studentinnen.
„Ein toller Kasten“, begeistert Renate sich.
„Ja. – Fragt sich nur wozu“, meint Anne nachdenklich. „Eigentlich doch nur viel Raum für nichts.“
„Für nichts? – Im Gegenteil. für Henry Ford, den Wohltäter der Menschheit, der die sinnvolle Tätigkeit abgeschafft und das maschinenartige Funktionieren eingeführt hat. Das Tollste ist, jetzt habe ich gelesen, daß es Untersuchungen gibt, die belegen, daß die Leute sich sogar wohlfühlen bei der Fließbandarbeit. Weil man dabei so schön abschalten kann und vor sich hin dösen. Man muß nicht selbst denken und trägt keine Verantwortung. Na, wenn das kein Fortschritt ist.“
„Der staunenswerte Ford-Schritt der Menschheit“, bestätigt Anne, wobei sie den Fortschritt dehnt und ein möglichst deutliches D spricht.
Solche Wortspiele waren schon damals meine Liebhaberei, überlegte Annemarie Kleine Sextro. Auch Rainer hat dafür was übrig. Während Renate jedesmal, wenn sie auf eine Möglichkeit zu derartigen Wortspielen stieß, es sich verkniff, sie auszusprechen. „Bloße Kalauer“, hat sie einmal gesagt, „ich halte es nicht für richtig, solchen Zufallserscheinungen der Sprache einen besonderen Wert beizumessen.“ Ich fand diese Spielchen trotzdem schön. Und zumindest als ungewöhnliche Anregung zum Nachdenken scheinen sie mir auch heute noch sinnvoll. Renate aber ging damals schnell über meinen Ford-Schritt hinweg.
„Ich verstehe ja wirklich nicht, wie du dazu kommst, ausgerechnet Jura zu studieren“, wundert Renate sich.
Und Anne fragt zurück: „Und wie kommst du dazu, ausgerechnet Soziologie zu studieren?“
„Aber gerade Jura? Das ist doch so ein Fach, in dem alles zubetoniert wird, damit sich nur ja niemals was ändern kann. Dagegen die Soziologie, die...“
„Die Rechtswissenschaft ist zwar ein Betonsockel, das scheint mir auch so“, verteidigt Anne ihr Fach, „aber der wird dauernd den Lebensverhältnissen angepaßt. Der Jurist arbeitet in allem, was er tut, an der Weiterentwicklung des Rechts, an seiner Verbesserung und damit am Aufbau einer Welt, in der endlich einmal Gerechtigkeit...“
„Schön wär‘s ja“, unterbricht Renate sie, „nur kann ich nicht dran glauben.“
„Aber deine Soziologie? Glaubst du, die schafft die Welt der Gerechtigkeit?“
Beide haben sie das Vorlesungsverzeichnis in der Hand. Ihr erstes Vorlesungsverzeichnis. Eine stattliche Broschüre. Vorne drauf prangt das große Universitätssiegel mit dem Berliner Bär, der in seinen Pranken eine Fackel hält.
„Die Fackel sieht aus“, meint Renate zu ihrer Freundin, „wie ein überdimensionales Eishörnchen.“
„Ja, und der Bär reißt schon das Maul auf und leckt sich die Lippen vor Heißhunger.“
„Dabei steht er bis an die Brust im Wasser. Hochwasser in Berlin. Auch mal was Besonderes.“ Und lachen wie um die Wette.
Dann deutet Renate auf das Universitätssiegel und meint: „Aber sieh mal. Da stehen die Worte VERITAS, IUSTITIA, LIBERTAS, also Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit. Deine großartige Gerechtigkeit ist also nur die zweite von den drei hehren Forderungen.“
„Und deine Soziologie ist überhaupt nicht dabei.“
„Oh doch, sie steht sogar an erster Stelle. Denn die Wahrheit ist ja das Ziel, das hinter der Arbeit der Soziologen steht.“
„Aber die Soziologen vermessen die Gesellschaft doch nur, und das mit sehr zweifelhaften Meßmethoden, habe ich gehört“, wird Anne grundsätzlich.
„Natürlich, die vermessen die Gesellschaft. Aber das tun sie, um daraus Erkenntnisse zu beziehen, habe ich gerade erst bei dem Kölner Professor Weisser gelesen, – das ist übrigens einer der wesentlichen SPD-Köpfe – Erkenntnisse also, die sie als Verkehrszeichen, als Warnlichter, als Hinweise und so aufstellen können. Um damit einen reibungsloseren Ablauf des Lebens in einer wirklich freien Gesellschaft zu schaffen.“
„Na schön, Verkehrszeichen. Dann ist das also doch kein Eishörnchen, was der Bär da hochhält, sondern eine richtige Fackel, und die steht für Achtung, allgemeine Gefahrenstelle, also für die Soziologie.“
Erst nach einer längeren Pause greift Renate das Gespräch wieder auf: „Weißt du, was ich auch so toll finde an der Soziologie, das ist, da gibt es einen Professor, der hat sogar richtige Romane veröffentlicht.“
„Ach ja.“
Das Studium selbst zu finanzieren, das war ein Traum, von dem wir damals gern sprachen. Dabei machte es sich gut, daß wir zuhause wohnen und essen konnten, natürlich ohne etwas dafür abzugeben. Und daß wir auch immer noch von den Eltern gekleidet wurden. Das selbstverdiente Geld, das uns reizte, das sollte zusätzliches Geld sein. Für zusätzliche Wünsche. Nur wie und wo es verdienen?
„Das erste Mal eigenes Geld in den Fingern haben“, wie mein Vater das ausdrückte, „das ist schon ein erhebendes Gefühl.“ Dabei legte er aber Wert darauf, daß nicht der Eindruck entstehen könnte, seine Tochter sei auf das Selbstverdiente angewiesen. „Man kann nicht einfach alles mitnehmen, was sich einem bietet, wenn man eine geborene Mietzner ist“, sagte er mit alttestamentarischer Feierlichkeit. Und darin war er ausnahmsweise einig mit Renates Vater. Nur daß der Polizist Hobbes aus seiner ganz anderen Weltsicht heraus die Akzente ein wenig anders setzte: „Du kannst nicht einfach das nächstbeste Angebot annehmen. Es muß das auch zur Tochter eines Staatsbeamten passen.“
Jedenfalls ein passendes Angebot für die geborene Mietzner wie für die Beamtentochter war Vaters Idee: „Die beiden Mädels können sich auf der ,Grünen Woche‘ nützlich machen, indem sie am Stand unseres Unternehmens Würstchen verkaufen. Nicht als normale Verkäuferinnen, sondern mehr so als Hostessen, die in schicke Kostüme gesteckt werden, in den Farben meiner Firma, und dann einmal ihren frischen Charme für eine gute Sache einsetzen können.“
So lernten Renate und ich die Freuden und Leiden des Messebetriebs kennen. Eine Woche lang selbst Ausstellungsstücke – heftig tätige – neben den Schweinen, Hühnern, Prachtochsen und dergleichen mehr. Offensichtlich von den Frankfurter Würstchen der Firma Mietzner so restlos begeistert, wie wir deren Geruch, ja Anblick schon am zweiten Tag kaum noch ertragen konnten. Dabei war uns ausdrücklich eingeräumt worden, vom Chef persönlich, daß wir selbst so viel Würstchen essen dürften, wie wir wollten, und das natürlich ohne Bezahlung. Ich glaube, ich habe seitdem nie mehr Frankfurter Würstchen gegessen, überlegte Annemarie Kleine Sextro. Das sind so Nebenfolgen. Aber damals haben wir uns gegenseitig darin bestärkt, daß solche Einblicke in die Welt einfacher Berufsarbeit gerade für uns als Studentinnen, die wir einmal Führungspositionen einnehmen würden, sehr wichtig sind. Zudem zahlte Vater ja auch sehr großzügig.
Am frühen Morgen durch die Messehallen unterm Funkturm zu streifen, das war das besondere Erlebnis. In der Stunde vor dem großen Ansturm des Publikums. Das ging zwar immer nur einzeln, weil eine von uns am Stand bleiben mußte. Aber das bot noch Möglichkeiten für Entdeckungen. Für uns Mädchen war doch noch alles aufregend.
„Warst du schon in der großen Blumenhalle?“
„Nein, da war ich noch nicht.“
„Mußt du dir ansehen. Was die da an Blumen wegwerfen“, empört Renate sich, „alles in schönster Blüte. Die reißen einfach alles raus und setzen jeden Tag neue Blumen ein, habe ich mir sagen lassen.“
„Eine unmögliche Verschwendung, so was. Das muß ich mir morgen früh mal ansehen. Aber warst du schon bei den kulinarischen Besonderheiten?“
„Na klar.“
„Und hast du mal die Froschschenkel probiert?“
„Hör nur auf damit“, entsetzt Renate sich, „da war ich. Aber das Zeugs könnte ich nicht essen. Die Dinger sehen ja aus wie Männerbeine en miniature.“
„Na eben, so richtig zum Anbeißen.“
Der Messedienst brachte uns nicht nur tüchtig ans Schwitzen. Er schweißte uns auch noch stärker zusammen. So austauschbar wie wir waren in den gleichen schicken Kostümen in den Farben von Vaters Würstchenfabrik. Wir hatten den ganzen Tag das gleiche Lächeln drauf. Und auch die gleichen Redensarten. Und waren am Abend gleich kaputt. Und neue Bekanntschaften machten wir, die uns beiden zugleich gehörten. Nämlich die Leute von den Ständen links und rechts neben uns, mit denen wir uns in jeder freien Viertelstunde zusammensetzten. Und dann das ältere Ehepaar, das den Stand gegenüber betreute. Die Leutchen waren uns besonders zugetan. Sie arbeiteten in einer eigenen Welt, die sie als unsichtbare Wolke einschloß. Eine Duftwolke, die uns fast betäubte. Gewürze aus aller Welt. Viel mehr als die Handvoll Gewürze, die bei uns daheim in der Küche verwendet wurde. Viel mehr Möglichkeiten zum Würzen als wir beide uns jemals hätten träumen lassen. Und das alte Ehepaar paßte so gut zu seiner Ware, fanden wir. Weil sie beide so ausgeprägt alte Gesichtszüge hatten. Wie geschnitzt. Gesichter, die wie antike Möbelstücke wirkten, so anheimelnd vertraut und gleichzeitig so, daß man sie immer ansehen möchte.
Stehen da an ihrem Stand und warten auf den Besucheransturm. Die beiden Würstchenhostessen. Schauen zu dem Gewürzstand hinüber und tuscheln: „Ich habe mal irgendwo gelesen, ein schöner junger Mensch sei einfach nur eine Laune der Natur. Aber ein schöner alter Mensch, das sei eine Leistung.“ So Renate.
Und Anne darauf: „Dann bist du also eine Laune der Natur.“ Ohne jeden Anflug von Neid oder Ironie in der Stimme.
„Und du“, erwidert Renate, „du mußt erst mal was leisten, ehe du so über deine Mitmenschen urteilen kannst.“ Dabei macht sie die Stimme und die Gesten ihres Vaters so täuschend echt nach, daß Anne sofort kuscht: „Jawollja, Herr Wachtmeister.“
Das bunte Treiben auf der ,Grünen Woche‘ hat uns begeistert. Wenn wir auch abends todmüde waren und meinten, daß uns am nächsten Tag kein Schuh mehr passen würde. Jedenfals haben wir vollen Einsatz gezeigt in Sachen Frankfurter Würstchen. Und wir waren uns einig, daß wir diesen duften Job – über diesen so passenden Ausdruck haben wir uns halbwegs kaputtgelacht – daß wir diesen duften Job bei jeder weiteren ,Grünen Woche‘ wieder machen wollten. So lange, bis wir uns auf die Examensvorbereitung konzentrieren müßten. Und dann blieb es doch nur bei diesem einen Mal Messedienst. Weil Vater seine Firma nach Bonn verlegte und seine Familie mit ihm davonziehen mußte. Was Renate und mir blieb, das waren die Erinnerungen. Und die Hostessenkostüme in den Farben der Firma Mietzner. Und je ein kleines Gewürzregal voller Gewürze. Ein Abschiedsgeschenk von den beiden Alten gegenüber. Dieses Gewürzregal, das jetzt daheim in der Küche hängt. Die meisten Gewürze habe ich weggeworfen, als sie zu alt waren. Längst ist es mit neuen, gängigeren Gewürzen bestückt. Aber es erinnert mich immer noch so penetrant an den Unterschied von Leistung und Laune der Natur.