Читать книгу Tage des Terrors. Tatsachenroman - Walter Laufenberg - Страница 14
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Оглавление„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe, – sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe“, sprach Renate Hobbes den Gedichtanfang immer wieder vor sich hin. Während sie in der engen Zelle die paar Schritte hin und her machte, und wieder her und wieder hin. Sie kam weder damit noch damit weit. „Du hättest es doch auswendig lernen sollen. Ein Gedicht im Kopf, das ist ein Besitz, den kann dir keiner nehmen“, begann sie die tägliche Unterhaltung mit sich selbst. „So oft wie ich das mit dem Besitz von Anne gehört habe. Aber auch das Gedicht vom Vorübergehn. Anne war ja wie versessen auf Gedichte. Manchmal habe ich gedacht: Anne ernährt sich hauptsächlich von Gedichten. Und wurde davon rund und speckig. Und den Männern, diesen blöden Kerlen gefiel das auch noch. – Während ich nun immer dünner werde, immer schlaffer.“
Sie wußte noch: Rilke. Und sie nahm sich vor, als nächstes einmal einen Band Rilke-Gedichte aus der Gefängnisbibliothek auszuleihen. „Die knurren zwar schon und meinen, ich hätte bald mehr Bücher in meiner Zelle als sie noch im Depot stehen haben.“
Vor dem kleinen Bücherregal blieb sie stehen. Und wie sie es fest in den Blick nahm, von ganz nah, da wurde ihr klar, daß sie alles drumherum plötzlich ausgesperrt hatte. Außerhalb des Blickwinkels und damit nicht mehr da, all das, was ihr kleines Studierzimmer zur Gefängniszelle machte. „Wie ein Adventskalender, so ein Regal voller Bücher. Lauter Fenster und Türen, die ich nur aufzumachen brauche. – Ach ja, jetzt ist bald wieder Adventszeit.“
Doch so wie sie einzelne Buchrücken in den Blick nahm, einzelne Titel las, war der vorweihnachtliche Hochstimmungsanfall schon wieder verflogen. Analyse der... und Kritische Theorie, Bericht zur..., Erhebung über... „Und am Ende dann hier“, sagte sie. Und erschrak selbst vor ihrer Stimme. Mit diesem Grabeston. Sie trat einen Schritt zurück vom Bücherregal, und sofort stürzte sich das ganze Drumherum an Tristesse in ihren Blick, in ihr Bewußtsein.
Vielleicht hätte ich Gedichte lesen sollen statt Analysen. Da fällt mir ein, wir haben einmal richtig gestritten über dieses Thema. Damals, als wir noch gemeinsam an der FU studierten, als aber schon klar war, daß Anne mit ihren Eltern abhauen würde, als schon so was Trennendes zwischen uns getreten war. Auch schon räumlich bedingt. Die Juristen hatten ihre Vorlesungen und Seminare im Hauptgebäude draußen in Dahlem, wir Soziologen waren in der Innenstadt in angemieteten Räumen untergebracht. Wieso überhaupt diese Differenzierung? Aber dadurch haben wir uns immer seltener gesehen.
„Analyse unserer Wirklichkeit ist das, was wir brauchen“, hatte ich aufgetrumpft, „und keine Schöngeisterei. Denn damit wird nichts besser.“ Was mir selbst übertrieben vorkam in dieser Absolutheit. Ich hatte ja selbst bis dahin Romane und Erzählungen gelesen, soviel ich nur konnte. Bücher, das waren für mich Erfahrungen, die man sich anfressen kann – und die nicht mal dick machen. Ich fand den Ausdruck schön. Aber Anne hatte viel zu grundsätzlich Gegenposition bezogen, hatte sich auf den Standpunkt gestellt, nur die reine Dichtung habe Geltung. „Ein Gedicht, das ist die Analyse der Wirklichkeit überhaupt.“ Oder so ähnlich klang das. „Von deinen Sach- und Fach-Analysen unterscheidet die dichterische Analyse sich nur dadurch, daß sie sorgfältiger erarbeitet, tiefer erforscht und besser dargestellt ist – falls das Gedicht gut ist.“
Warum hatte mich das nur so geärgert? Ich wußte doch, das war typisch Anne. Wenn einer etwas zu einseitig darstellte, dann hielt sie sofort mit gewaltigen Gegengewichten dagegen. Dann stellte sie die andere Seite genauso übertrieben dar, obwohl sie in Wahrheit die Sache überhaupt nicht so einseitig sah. Eigentlich versuchte sie immer, beiden Seiten gerecht zu werden. Das war so ein angeborenes Harmoniebedürfnis. Im täglichen Umgang ja ganz angenehm. Aber das mit der besseren Analyse, das war damals, als ob wieder einer ankäme und mir die Füße wegträte. Wie früher, im Winter auf dem vereisten Schulhof. Daß es einen plötzlich hinwirft. Wo man ohnehin kaum richtig gehen und stehen konnte. Das war die Spezialität von diesem dicken Rothaarigen, dem jüngeren Bruder von Klaus. Ein Widerling, wie er dann dastand und sich schüttelte vor Lachen. Seinen Namen weiß ich nicht mehr. Geschieht ihm ganz recht. Der Knabe hat mich auch nie interessiert. Das Abitur hat er nicht geschafft, habe ich noch irgendwann gehört, sonst nichts mehr.
Und Anne? Was kann aus der geworden sein? Die sitzt wohl als Juristin bei einer Versicherung und liest am Abend Rilke. Zum Ausgleich, wie sie sagen wird. Wenn sie sich nicht mit drei Bälgern herumschlagen muß, ihnen aus dem Struwwelpeter vorlesen und ihrem Mann, dem Juniorpartner in der väterlichen Klitsche, die Socken stopfen.
Der Arm wurde ihr schwer vom endlosen Haareum-den-Finger-Drehen. Sie nahm die Hand herunter und sah den schmalen Ring mit dem Totenkopf. „Lamin, wo bist du jetzt““, hörte sie wieder ihre erschreckend dumpfe Stimme. „Du bist längst heim, bist wieder in deinem Gambia, und machst Karriere.“ Wenn ich ihn gehalten hätte, wäre alles ganz anders gelaufen. Das war ein Kopf. Das mußte selbst Anne zugeben. Und sie hätte ihn auch gern gehabt. Aber sie hat keinen Versuch gemacht, ihn mir wegzunehmen, das muß man ihr lassen. Obwohl er ihr genauso gefiel wie mir. Einer der kommenden Männer von Gambia, darüber waren wir uns einig. Aber ich, ich hatte ihn kennengelernt, im Seminar. Und wir verstanden uns auf Anhieb.
Dieser Aufstand zuhause, als ich Lamin meinen Eltern vorstellte. Hinterher natürlich erst, so feige waren sie. Ihm erst freundlich die Hand geben und Kaffee einschenken und hat mich gefreut und so. Und dann nachher: „Ein Neger, Kind, was fällt dir denn ein? Als ob es nicht genug ordentliche deutsche Männer gäbe. Aber du, du mußt einen aus dem Busch ranschleppen. Willst dich wohl zur Negermutti machen lassen, wie? Der hat dann noch fünf andere Negermammis neben dir in seinem Kral. Mit so einem kommst du uns nicht noch einmal ins Haus, verstanden. Du bist die Tochter eines deutschen Staatsbeamten. Und dazu, – was sollen denn die Nachbarn denken.“
Renate setzte sich auf die Liege mit der großkarierten Wolldecke und überlegte: Was habe ich da gerade in ihre Mikrofone gesprochen? Mein Gott, für die Lauscher wird es damit nur noch schwieriger. Jetzt müssen sie ihre Ermittlungen bis nach Afrika ausweiten. Müssen meinen geheimen Kontakten zu irgendeinem Kral im Busch nachgehen. Das dürfte nicht ganz einfach sein. Schließlich habe ich schon fünf, nein sicher sechs Jahre nichts mehr von Lamin gehört. „Gambia“, sagte sie laut und deutlich, um die Lauscher zu ärgern, „Westafrika, südliche Hemisphäre, Erde, Milchstraße links die zweite Hütte.“
Dabei drehte sie an dem Totenkopfring, als wäre er ein Wunschring. Als könnte er den herbeizaubern, der ihn ihr geschenkt hatte. Der kommende Mann von Gambia, der erst der gefürchtete Revoluzzer wird und dann der erste Staatspräsident eines wirklich freien Gambia. „Lamin“, hauchte sie den Namen noch einmal vor sich hin. Leider habe ich in der Zeitung nie was über ihn gelesen. Ist wohl doch nicht politisch aktiv geworden. War also nicht so schlimm, daß das damals in die Brüche ging. – „Ja, das sagt man so. Hinterher ist man immer klüger.“
Als Lamin mir den Ring geschenkt hat, war Anne schon fortgezogen. Nach Westdeutschland. Ausgerechnet nach Bonn. Die juristische Fakultät dort sei viel angesehener als die der FU, hatte sie mir damals noch geschrieben. Dabei wollte sie nur nicht auf die Bequemlichkeit verzichten, bei ihren Eltern zu wohnen. Obwohl die ihr einen noch viel dolleren Tanz gemacht hätten, wenn sie mit einem Farbigen angekommen wäre. Das hat sie selbst zugegeben. Aber daheim im warmen Nest sitzen zu können, sich schön bekochen zu lassen und mit Vati und Mutti einkaufen zu gehen, wenn sie was Neues brauchte, das war ihr mehr wert als ihre Unabhängigkeit. In dem Moment hatte sie schon alles falsch gemacht. „Anne kannst du vergessen.“
Aus was für Verhältnissen die aber auch kam. Der alte Mietzner wollte bauen, wollte endlich was nach seinem Format haben, wie es bei ihm hieß. Nicht mehr in einem gekauften Haus leben müssen, das für andere Leute maßgeschneidert war. Und in Berlin zu bauen, das war überhaupt kein Gedanke. „Wo die Russen rundrum sitzen, wie die Wölfe ums Winterlager.“ Ach, jetzt gehen die Ermittlungen auch noch bis nach Rußland. „Nein, nein, das wollte ich nicht. Das war der olle Mietzner, der das gesagt hat. Nicht ich!“
Sitzen da auf der Terrasse ihres Berliner Hauses. Die beiden Mietzners mit ihrer Tochter. Deren Freundin Renate dabei. Bei Kaffee und Kuchen.
„Bad Godesberg ist goldrichtig“, so Herr Mietzner. „Mildes Klima und Nähe zu den Kreisen, die entscheiden – und Entscheidungen beeinflussen.“ Dabei zwinkert er seiner Frau zu wie ein drittklassiger Provinzschauspieler. „Und die Leute, die da wohnen, diese Westdeutschen, nun ja, mit denen haben wir ohnehin nichts zu tun“, ergänzt seine Frau.
„Natürlich nicht. Das Anwesen, unser Anwesen, das wird so groß bemessen sein, daß die Leute rundum für uns keine Rolle spielen.“
„Und der Betrieb“, wirft der Gast ein, „wird der Betrieb hier einfach zugemacht? So daß die Leute ihre Arbeitsplätze verlieren?“
„Der Betrieb bleibt natürlich in Berlin. Hier produziert es sich viel besser als in Westdeutschland. Hier sitzen doch genug Kümmeltürken herum. Offiziell bleibt sogar die Firmenspitze hier in Berlin. Wegen der Berlin-Präferenzen. In Bad Godesberg wird nur ein Verkaufsbüro eingerichtet. Und dann habe ich vor, dort in der Mittelstandsvereinigung eine Funktion zu übernehmen. Man muß eben da, wo es sich lohnt, initiativ zu werden, entschlossen die Ärmel aufkrempeln und zupacken.“
Eigentlich gar nicht so schlecht, daß ich diesen engen Kontakt zu Anne hatte. Dadurch hatte ich immer eine plastische Vorstellung, wenn von Ausbeutern, Kapitalisten und Bonzen die Rede war. Irgendwie stand immer sofort der alte Mietzner vor mir. Mit seinen Wurstkonserven. Frankfurter Würstchen, wie er das Zeugs frechweg nannte, obwohl es mit Frankfurt nun wirklich nichts zu tun hatte.
Und Anne erzählte mir noch viel mehr als der Alte selbst. Der ja schon Himmelschreiendes genug von sich gab, wenn wir bei ihm saßen und er anfing, der Jugend mal die Augen zu öffnen, wie er das nannte. Nach dem soundsovielten Cognac.
Anne und Renate in Mietzners Haus. „Meine Eltern sind nicht da. Komm, ich zeig dir mal was. So was hast du noch nicht gesehen.“ Und schiebt hebt den Perser an und rollt ihn halb auf und zeigt auf eine Stelle im Parkett.
„Hier, genau hier haben sie die Brettchen vorsichtig gelockert und herausgenommen. Dann haben sie ein versiegeltes Papier mit vielen Unterschriften in das Loch gelegt und die Brettchen wieder eingeklebt. Das war eine Vereinbarung aller deutschen Wurstkonservenhersteller, die in einer langen Nachtsitzung hier im Wohnzimmer zustande gekommen ist. Mein Vater ist da sehr stolz drauf.“
„Und um was ging es dabei?“
„Geheime Preisabsprache“, flüstert Anne. „Und wie geheim. Wenn das Kartellamt dahinterkommen will, dann muß es uns schon das Haus auseinandernehmen.“
„Überhöhte Preise?“
„Na klar.“
„Das heißt, der kleine Mann muß mehr zahlen für sein heißes Würstchen als das Ding wert ist.“
„Ja, ja.“
„Aber das ist doch eine ganz große Schweinerei“, entrüstet Renate sich.
„Klar ist es das. – Aber sie sind doch meine Eltern“, sagt Anne und rollt den Perser wieder ordentlich aus, schiebt den Fernsehsessel wieder an seinen Platz.
Typisches Frühstückskartell, so nannte Frieder das, als ich ihm davon erzählt habe. Einfach fantastisch, wie er immer alles sofort auf den richtigen Begriff bringen konnte. Mir ideologisch haushoch überlegen. Und dabei absolut zuverlässig. Nie hat er Gebrauch gemacht von seinem Wissen um das Versteck unterm Parkett. Mir zuliebe. Ich hatte ihn darum gebeten, weil Anne mich darum gebeten hatte, keinem Menschen etwas davon zu sagen. Weil sie sich zum Schweigen verpflichtet hatte gegenüber ihrem Vater.
Also habe ich ihr zuliebe Frieder zum Schweigen gebracht. Und letztlich Annes Eltern zuliebe. – Liebe, Liebe, Liebe. Und alles nur Betrug. Die kleinen Leute waren die Betrogenen. Sie mußten für diese scheiß Würstchen einen Aufschlag zahlen, der noch über den Mehrwert im Marxschen Sinne hinausging.
Frieder hat das sofort so auf die Formel gebracht. Frieder, – er sitzt jetzt in Stammheim. Und ich sitze hier. Und ich denke an ihn, wie er jetzt an mich denken wird. Ganz sicher denkt er an mich. – Aber vorhin habe ich mehr an Anne gedacht als an ihn. Und davor an Lamin. Von dem Frieder noch gar nichts weiß. Renate sah schuldbewußt auf den Ring mit dem Totenkopf an ihrer Hand. Als er mich gefragt hat, woher ich diesen Ring habe, da habe ich ihn belogen. Von meinen Eltern, habe ich gesagt.
„Lug und Trug, Lug und Trug überall. Einfach zum Kotzen“, stöhnte sie auf. Und dann, weil es nun einmal gesagt war, trotzig hinterher auch noch: „Wer sitzt und wer nicht, das richtet sich nicht nach der Schuld, sondern nur nach dem Geschick. Aber nicht nach dem, was man Schicksal nennt, nein, nach der Geschicklichkeit. – Scheiße alles!“