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Der schwarze Schnee der Großstadt, er ließ keine vorweihnachtliche Stimmung aufkommen. Dieses scheußliche schwarze Streugut, das die Stadt neuerdings einsetzte, mit Schnee vermischt war es einfach überall. Auf den Straßen als plattgefahrener Schneedreck. Auch auf den Bürgersteigen, mit Hundekot angereichert. Und sogar die Wege durch die Vorgärtchen waren schwärzlich von Streugut. Mitgeschleppt von den Profilsohlen der zwei Millionen Menschen, die aufregenden Feiertagen entgegengingen.

Es liegt was in der Luft – nicht nur auf den Straßen. So wurden die Leute von Beschriftungen gewarnt, die in den letzten Nächten an immer mehr Mauern und Bauzäunen erschienen waren.

Anfang Dezember des Jahres 1979. Früher Wintereinbruch. Und Berlin wurde – je mehr Schnee fiel – immer düsterer. Die Zeitungen versuchten abzulenken. Sie erklärten in ausführlichen Darstellungen, wieviel besser die neue Methode sei, gegen die Schneemassen und gegen Glatteis anzukämpfen. Sie verurteilten das bisher verwendete Salz als Umweltfeind Nummer eins. Sie appellierten an das Mitgefühl der Hunde- und Katzenfreunde und trafen damit Hunderttausende mitten ins Herz. Ja, es ging um die schmerzenden Pfoten und das unwillkürliche Ablekken des Salzes, um unmenschliche Tierquälerei also, mit der nun endlich Schluß gemacht werde. Die Alleebäume mußten ebenfalls herhalten. Das viele Grün, der Stolz der Berliner, sei in höchster Gefahr, erfuhr man jetzt täglich aus der Morgenzeitung. Winter für Winter habe das Salz sie an den Wurzeln gepackt. Es gehe nicht an, daß man länger die Augen davor verschließe, daß man das vielgerühmte Grün der Stadt ermorde, diese lebenswichtige grüne Lunge Berlins verkommen lasse. Wenn die vielbesungene Berliner Luft bleiben solle, was sie war, dann dürften die baumbestandenen Straßen nicht zu Pökelalleen verkommen und so weiter.

Als Annemarie Kleine Sextro an dem Morgen aus dem Haus getreten war, hatte sie an der Wand neben ihrer Tür gelesen: Es liegt was in der Luft – nicht nur auf den Straßen. Mit dicken Pinselstrichen flüchtig hingeschmiert, rot. Und wo der Pinsel neu angesetzt worden war, mit frischer Farbe aus dem Eimer, da war es runtergelaufen von den Buchstaben, in dicken roten Tropfen, die wie Blut angetrocknet waren. Nasen, hatte sie gedacht, Nasen würde Rainer das nennen. Der Täter könne nicht einmal eine glatte Wand anstreichen, würde er schimpfen. So ein Stümper und so fort. Sie fuhr sich mit der Hand ins Gesicht und bemerkte die verlegene Handbewegung erst, als sie die Kälte spürte. Als ob der Tod persönlich einen anfaßt, durchfuhr es sie. So kalte Hände, das kenne ich sonst an mir nicht. Sie nahm sich vor, nächstens die Handschuhe schon vor dem Hinausgehen anzuziehen, nicht erst auf dem Weg zum Bus.

Der Dreck, der vieltonnenweise über alle Straßen und Bürgersteige verteilt worden war, wurde zum Stadtgespräch. Das Granulat, wie das neue Streumittel offiziell hieß. Aber der schöne Name nützte auch nichts. In den Leserbriefspalten der Tageszeitungen gifteten Autofahrer die Umweltschützer an. Sie rechneten heile Katzenpfoten und gerettete Bäume gegen die Blechschäden auf, gegen blutende Köpfe und ausgefallene Arbeitszeit, wenn der Wagen auf dem Eis wegrutscht, unaufhaltsam, weder auf die Bremse noch auf die Steuerung reagierend, weil das Salz fehlt. Und dieses Granulat verlängere nur noch den Bremsweg, wetterten sie gegen die Neuerer los.

Der erste, der Annemarie Kleine Sextro an diesem Morgen im Berliner Kammergericht begegnet war, abgesehen von den schwerbewaffneten Polizisten und dem Pförtner, die unten im Eingang eine furchterregende Schleuse aus Barrieren, grimmigen Mienen, Fragen und Kontrollblicken aufgebaut hatten, – der erste Kollege war Manfred Schallenberg. Ausgerechnet dieser Schallenberg, hatte sie gedacht. Würde mich nicht wundern, wenn der von der bedrohlichen Schrift neben unserer Tür wüßte.

„Guten Morgen, Frau Kleine Sextro“, rief er schon aus etlichen Metern Entfernung.

„Guten Morgen, Herr Schallenberg.“ Wohldosiert, nicht zu freundlich, nicht zu distanziert.

„Sie sehen ja aus wie halberfroren“, blieb er bei ihr stehen. „Mußten Sie so lange auf den Bus warten?“

„Er weiß also Bescheid, überlegte sie. Er weiß, was mich erschreckt hat. Ist doch klar. Als ihr Wahlverteidiger steckt er mit ihr und ihren Kumpanen unter einer Decke. Bemüht leger sagte sie: „Ich kann das Durchleuchten im Eingang nicht vertragen. Wohl so eine Art Filzallergie, was ich da habe.“

„Daß Sie das sagen? Wo Sie doch auf der anderen Seite stehen“, tat er verwundert. „Bei mir ist das ja was anderes. Ich träume nachts schon von Kontrollen, so zuwider ist ...“

„Als Richterin stehe ich weder auf der einen noch auf der anderen Seite, Herr Schallenberg. Die vielen Durchleuchtungen scheinen Ihre Erinnerung an die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu verdunkeln.“

„Ja, sehr richtig, Rechts-Staatlichkeit, daran darf nicht gerüttelt werden“, lachte er. Und wiederholte „Rechts-Staatlichkeit“, indem er den Begriff dehnte und zur Nahkampfwaffe verbog.

„Nur gut, daß Sie mir das nicht im Ernst nachsagen können, Herr Schallenberg. Oder?“

„Erbetteln Sie sich nicht von mir Ihre Absolution. Ich bin nicht Ihr Seelsorger, ich bin Anwalt, – guten Morgen, Frau Richterin.“

„Guten Morgen auch Ihnen, Herr Rechts-Anwalt“, dehnte sie das Wort, wie er es gemacht hatte. Er eilte laut lachend weiter. Lachen kann der Mann, einfach toll. Er hätte Vertreter werden sollen statt Anwalt. Eigentlich hätte ich ihn ja Herr Links-Anwalt nennen müssen, überlegte sie im Weitergehen. Aber das wäre eine Beleidigung. – Obwohl, eigentlich könnte Schallenberg das nicht als Beleidigung empfinden. Er nicht.

Sie betrat ihr Zimmer gleichzeitig mit dem Büroboten. Woitolla, wie immer im grauen Anzug und mit Schlips und Kragen, die grauen Haare akkurat gescheitelt und gewellt. Böse Zungen tuschelten, daß er sich jeden Morgen mit der Brennschere den Kopf in Ordnung bringen müsse. Ach, Unsinn, ich sollte meinen Kopf in Ordnung bringen. Annemarie Kleine Sextro mochte den Alten. Und der spürte das. Er schätzte ihre Freundlichkeit gegenüber den unteren Rängen, wie er zu sagen pflegte. Und ihre Gewohnheit, manchmal ein paar Worte mit ihm zu plaudern, nutzte er manches Mal ganz schön aus.

„Das mit den Kontrollen unten im Eingang ist ja schrecklich“, seufzte er. „Nun bin ich doch schon elf Jahre hier tätig, und jetzt tun die, als ob ich ein gefährlicher Verbrecher wäre. Immer wieder mich ausweisen müssen und mich abtasten lassen. Können wir nicht mal wieder was anderes machen als diese Terroristenprozesse, Frau Richterin?“

Klar, er wollte sich wieder ein Plauderpäuschen verschaffen. Warum auch nicht. Das mit dem Wir fand Annemarie köstlich. Trotzdem warf sie nur ein „Ja, sehr unangenehm“ hin und hantierte hastig mit den Akten und Büchern auf ihrem Schreibtisch. Und der Bote verstand und ging. Ist mir unverständlich, warum manche Kollegen den Mann so grob behandeln. Woitolla versteht es doch meisterhaft, sich diskret zurückzuziehen. Spürbar, daß er einmal bessere Zeiten gesehen hat, wie er selbst es nennt. Selbständiger Schneidermeister. Den Konkurrenzkampf nicht durchgehalten, wie er sagt. Dann Chefverkäufer in einem der führenden Modehäuser. Und jetzt auf Nummer Sicher im öffentlichen Dienst. Ein Versager halt, hat er die Schultern hochgezogen, als er mir das erzählt hat. Beim ersten wie beim zweiten und dritten Mal. Und ich, ich habe Verständnis gezeigt. Ich bin ja ebenfalls im öffentlichen Dienst. Also habe auch ich versagt? Schon dachte sie wieder an Schallenberg und seinen Hohn: Rechts-Staatlichkeit. – Nein, das soll man mir nicht nachsagen können. Und auch nicht, daß ich versagt hätte. Da muß ich durch!

Tage des Terrors. Tatsachenroman

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