Читать книгу Tage des Terrors. Tatsachenroman - Walter Laufenberg - Страница 19
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ОглавлениеAls sie das Schildchen an ihrer Zimmertür sah, kam Annemarie Kleine Sextro sich wieder selbst mit der Frage in den Weg: Wie bin ich nur dazu gekommen? Ausgerechnet Richterin? Und dann noch Strafrichterin? – Dafür gibt es wohl nur eine Erklärung: meine Versponnenheit, meine Unsicherheit als Mädchen, das Gefühl, daß mir was fehle. Aber was, das war mir nicht klar. Ernsthaftigkeit, nein, das war es nicht. Ich hatte es nur das Handfeste nennen können. Was ich damit gemeint hatte, das war mehr Rationalität, weniger Gefühligkeit. Daß ich mir das verordnet habe, das war schon gut. Aber da bin ich auch nicht aus mir selbst heraus drauf gekommen.
Da war der Anwalt, der Vater beriet, dieser Dr. Spiller. Ein alter Jurist, wie alt, das konnte man nicht feststellen. Ein Mann wie eine ausgewaschene Felsküste. Auch so eine romantische Vorstellung, die ich überwinden mußte. Aber so hatte er auf mich gewirkt. Vater hielt nicht viel von ihm, aber es war ihm nicht so wichtig, wie gut sein Hausjurist war. „Der Steuerberater muß exzellent sein“, war sein Ausspruch. „Denn der Steuerberater ist wie die Köchin: wenn die gut ist, dann braucht man den Arzt nicht – im Betrieb den Anwalt.“
Dieser Dr. Spiller war vermutlich nicht nur ein ganz ausgezeichneter Jurist – schade, zu spät, aber jetzt könnte ich das beurteilen, nur jetzt lebt der Mann nicht mehr –, sondern auch ein so abgeklärter Mensch, wie ich nie mehr einen erlebt habe. Vaters anzügliche Bemerkungen ignorierte er immer großzügig. Klar, er brauchte den Klienten. Er konnte es sich nicht leisten, sich ernsthaft zu wehren und Vater damit zu vergraulen. Sein Büro war alles andere als so eine schnieke Leder- und Edelstahl-Praxis von heute. Sicher kein geschickter Fallvergrößerer, Prozeßverlängerer, Gebührensammler, dieser Dr. Spiller. Seine Art, sich gegen Vater zur Wehr zu setzen, war nicht eigentlich ernsthaft, eher rüpelhaft. So wirkte das immer, wie ein geheimes Einverständnis unter Männern. Wie ein Den-Anderen-Einbeziehen in die eigene Überlegenheit. Einfach, indem er diese Überlegenheit so drastisch brachte, wie sie unmöglich jemand in abhängiger Situation Vater gegenüber vorgebracht hätte.
Fing Vater nur an zu sprechen – und immer wieder verfiel er auf den Ausdruck „Ich würde sagen“ als Ouvertüre – brachte Dr. Spiller ihm schon die Noten durcheinander mit seinem: „Dann sagen Sie es doch!“ Und das immer wieder. Und war Vater einmal vorsichtig genug, etwas anders anzufangen, dann kam dieses „Ich glaube, daß...“, und schon nuschelte sein Anwalt ihm dazwischen: „Glaube, Hoffnung, Liebe, – die Liebe ist die Größte.“ Dann lachten sie beide. Oder wenigstens glaubte Vater, sein Anwalt lache auch. In Wahrheit verzog der nur sein Gesicht zu einer schrecklichen Quasimodo-Maske, die überhaupt nicht lachen konnte. Die eher wie ein stummer Aufschrei wirkte. Aber dieses Gesichtverziehen genügte Vater als Ausdruck des Einverständnisses. Vermutlich hat er sich nie einen Gedanken gemacht über das entstellte Gesicht seines Rechtsanwalts. Oder er war es zufrieden, daß es seine Widersacher erschreckte. Es diente ihm vielleicht als die Maske, die er selbst gegenüber denen aufsetzte, die ihn in seinen Geschäften störten. So wichtig ihm die glatte, feine, makellose Haut war bei seinen Würstchen, daß Dr. Spiller sein zernarbtes Gesicht als einzige Kriegsauszeichnung mit nachhause gebracht hatte, das war ihm egal. Pech nannte er so was, und damit war das abgetan. Dr. Spiller zahlte es ihm heim, als Vater sein gutes Recht, wie er es nannte, gegenüber einem Lieferanten durchsetzen wollte, der ihn reingelegt hatte. Zufall, daß ich bei dem Gespräch gerade dabei war. Vater sagte seinem Anwalt, er solle mit der Würde des Menschen, mit Artikel 1 Grundgesetz argumentieren.
„Scheiße“, zischte Dr. Spiller, „dreigestrichene Scheiße! In französischer Gefangenschaft wurden wir einzeln in enge Erdlöcher gesteckt, und die Wächter machten Schießübungen flach über den Boden. Tag für Tag. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wer es nicht mehr aushielt und rauskam mit der Nase aus seiner eigenen Scheiße, der hatte seine Würde weg, peng!“
Dabei stand der Mann mit dem Schreckgesicht da wie ein Denkmal. Wie der steinerne Gast. Er stand nur immer neben dem Schreibtisch. Vater hätte sicher gern gehabt, er hätte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch gesetzt, ihm gegenüber, tief und erbärmlich dasitzend, mit dem Sperriegel von Notizblock und Kugelschreiberständer und Stempel und Telefon und Löschpapierroller und Büroklammerspender und Ascher und Blumenvase und Uhr, all diesem Chefkrimskram vor seinem Gesicht. Aber dieser Dr. Spiller tat ihm den Gefallen nicht. Immer stand er neben dem Schreibtisch, hinter dem Vater sich im breiten Sessel aufpumpte wie ein Maikäfer vor dem Abflug. Er stand an der ungeschützten Flanke des wuchtigen Möbels und hatte sich nur den Aschenbecher herangezogen. Und darin rührte er beim Sprechen mit seinem Zigarillo, zerstampfte er die abgelegte Asche, ließ er sie nicht zur Ruhe kommen mit seinem Stummel, der meist aus war. Vater hatte mehrfach versucht, ihm diesen enervierenden Mörser abzuhandeln, hatte ihm ein Kästchen mit teuren Zigarren vor die Brust gedrückt. Alles umsonst.
„Nicht meine Sorte“, hieß es da nur. Aber welche Sorte er rauchte, das war nicht rauszukriegen. Er kam nur immer mit einem angebrannten Zigarillo ins Haus, selbstverständlich ohne Bauchbinde. Und nie war eine Packung zu sehen.
Ich glaube, was mich an dem Mann besonders beeindruckt hatte, das war dieses Philosophische. Daß ihn nichts mehr wunderte, daß er alles Gemeine, alles Abgründige als altbekannt abhakte. Wenn er einmal was über seine Arbeit von sich gab, dann mit einem Sarkasmus, daß man erschauerte vor dem Leben, das dieser Mann kennengelernt haben mußte. Aber dann tat er einmal diesen Auspruch von der Rechtswissenschaft als den spanischen Stiefeln des Geistes. „Die Beine, die das ausgehalten haben, auf denen steht man sein Leben durch“, hatte er gesagt. Das war es wohl. Das muß mein Schlüsselerlebnis gewesen sein, überlegte die Richterin an ihrem Schreibtisch, die Akte Renate Hobbes immer noch geschlossen vor sich.
Ich hatte in Vaters großem Lexikon nachgeschlagen: Stiefel, spanische. Hatte dieses Folterwerkzeug abgebildet gesehen und physisch zu spüren geglaubt. Ich hatte sogar die Schülerszene im Faust nachgelesen und war überzeugt, daß diese spanischen Stiefel genau das wären, was ich brauchte. Und nicht nur Renate war entsetzt über meinen Entschluß, Jura zu studieren. Auch zuhause hatten sie das nicht von mir erwartet. Fanden sie Wirtschaftswissenschaften doch viel sinnvoller. Oder wenigstens Literaturwissenschaft. „Kind, du liest doch so gern.“ Aber gerade deshalb, hatte ich mir gesagt, gerade deshalb muß es die Rechtswissenschaft sein. – Und ich glaube, das war überhaupt mein erster Schritt mit härterem Auftreten. – Ach Gott, jetzt hätte Dr. Spiller mich angeschrien: „Glaube, Hoffnung, Liebe...!“
Aber es stimmt, das war der erste und wichtigste Schritt. Das andere dann alles, auch diese krampfhaften Argumentationsversuche, daß man mit diesem Studium die Wahl unter so vielen verschiedenen Berufen habe wie mit keinem anderen Studium, das war doch nur nachgeschobene Verbrämung, nachgeschobene Rationalität. – Also doch wieder typisch. Emotional hatte ich mich entschieden, nicht rational? Damals ja, damals noch. Sie sollten mir ja auch erst angeschnallt werden, die spanischen Stiefel des Geistes.