Читать книгу Tage des Terrors. Tatsachenroman - Walter Laufenberg - Страница 18
14.
ОглавлениеSmogalarm! Radio, Fernsehen und Zeitungen voller Smog. Zwar nur Alarmstufe eins, aber immerhin Alarm. Noch ist kein Grund zur Beunruhigung, so unisono. Denn erst bei der Alarmstufe zwei gibt es Beschränkungen für den privaten Autofahrer. Die leichte Drohung, die nach Hoffnung auf eine Sensation klang. Bei Alarmstufe drei wird es aber hart: völlige Stillegung des privaten Kraftfahrzeugverkehrs. Die Berliner hörten und lasen es mit leichtem Schauder. Aber man hat den Endkampf überlebt, sagten sie sich, und die Blockade und den Mauerbau. Man wird auch das überleben. Wenigstens weiß man jetzt, was man alles schluckt und einatmet. Bezeichnungen, die schon für Auge und Ohr unverdaulich sind.
Und die Schuldigen hat man auch schon gefunden, hieß es. Die Brüder im Osten. Die Umweltschweine mit ihren Stinktrabis und mit ihren ungefilterten Industrieabgasen. Die nebeln uns ein. Daß auch die vielen altertümlichen Heizanlagen in den Armenvierteln von Westberlin dazu ihren Teil beitrugen, wurde nur am Rande vermerkt. Und von den eigenen Autofahrern und Betrieben kein Wort.
Die Meteorologen klärten die Luft auf ihre Art: Bloß eine Inversionswetterlage. Wobei unglücklicherweise wärmere Luftschichten in der Höhe den natürlichen Abzug der Abgase verhindern. Diese Situation, daß die normalerweise mit zunehmender Höhe abnehmende Temperatur der Luft an einer darüberliegenden Sperrschicht sprunghaft zunimmt, tritt glücklicherweise sehr selten auf. Also alles in Ordnung.
„Wir beide sind unschuldig“, legte Rainer Kleine Sextro die Frühstückszeitung beiseite. „Schön, unschuldig zu sein“, wobei er mit den Händen heftige Waschbewegungen in der Luft machte. „Wir haben kein Auto mehr. Und ich verstehe auch nicht, wozu man hier in Berlin ein Auto braucht, wo es Bus und U-Bahn und S-Bahn in Massen gibt und dazu alles herrlich fahrradflach ist. Und trotzdem muß man sich im Gespräch immer halbwegs dafür entschuldigen, daß man kein Auto hat. – Alles nur dieses dämliche Statusgehabe der Autofahrer.“
„Vielleicht müßte man es nur anders ausdrücken“, sagte Annemarie. „Im Bus hörte ich gestern, wie ein Mädchen mit einem Jungen über das Gedränge auf der Eisbahn sprach. Er hörte sich alles ruhig an, bis sie ihn etwas dazu fragte. Da sagte er ganz souverän: ,Ich bin Nicht-Schlittschuhfahrer.‘ Und das Mädchen sah ihn richtig bewundernd an und erzählte von was anderem.“
„Das ist gut. Also bezeichnen wir uns jetzt nur noch als Nicht-Autofahrer.“
„Ja, das klingt wie Nichtraucher und bedeutet Überlegenheit.“
„Meinst du das im Ernst?“ fragte er irritiert.
„Ja, das früher einmal so genannte gesunde Volksempfinden ist doch ständig im Wandel. Man muß nur dem Volk richtig lutherisch aufs Maul schauen.“
Rainer machte das Radio aus. „Doch nur störend. Immer nur ein kurzes Musikstück, und schon fällt dir wieder so ein blöder Moderator ins Wort.“
„Oder in den guten Gedanken.“
„Ja, was ich sagen wollte: Daß gerade du das sagst?“
„Das mit dem Lutherischen?“
„Nein, das mit dem Wandel. Wo du sonst immer stöhnst über die Soziologisierung des Rechts, wie du das nennst.“
„Ja, das ist dasselbe Phänomen. Die Leute akzeptieren nichts mehr als fest und vorgegeben. Sie sehen alles abhängig von der herrschenden Meinung. Und empfinden das als gut demokratisch. Für die Leute ist die Meinung der Mehrheit die herrschende und deshalb die richtige, egal wie sie ist.“
„Und egal auch, wie diese Meinung der Mehrheit eingetrichtert worden ist.“
„Genau. Aber das sehen die Leute schon gar nicht. Das ginge ja gegen ihr Selbstbewußtsein. Und deshalb macht es für die Leute keinen Unterschied, ob man sich darüber einig ist, daß im Straßenverkehr rechts vor links gilt, oder ob man einen Mord mit politischem Hintergrund als rechtmäßige Hinrichtung betrachtet. Sobald die Mehrheit dieser Meinung ist, ist das kein Mord mehr. So einfach ist das.“
Rainer goß sich Tee ein, den Rest, die ganze Tasse voll. Und stellte die leere Kanne zurück neben Annemaries leere Tasse. Annemarie sah überrascht auf, aber auch das bemerkte er nicht.
„Wir gehen schlimmen Zeiten entgegen“, sagte er.
„Und das ohne den Trost einer guten Tasse Tee.“
„Oh pardon“, verstand er und sprang gleich auf, „ich mache neuen.“
Annemarie ging ihm nach. Sie wollte jetzt nicht so alleingelassen dasitzen. Nicht mit diesen grundsätzlichen Gedanken. Ohnehin kein passendes Gesprächsthema fürs Frühstück, empfand sie.
„Bisher waren es nur immer die Gutachter, die unser Strafrecht umzufunktionieren versuchten. Die den Richter zurückdrängten, den Wahrheitsanspruch wirkungsvoll über den Rechtsanspruch stellten. Jetzt aber kommt die öffentliche Meinung als neue Norm daher und stellt unser gesamtes Rechtssystem in Frage. Das geht auf die scheinbar sanfte Weise und ganz unauffällig, nämlich über die Sprache. Hinrichtung und Volksgefängnis, heißt es plötzlich mit großer Selbstverständlichkeit für Mord und Menschenraub.“
„Aber so lese ich es doch auch in der Zeitung.“
„Ja, der Reiz des Sensationellen ist stärker als die Forderung nach seriöser Berichterstattung. Die Journalisten machen sich die Sprache der Umstürzler zueigen, weil das den Artikel interessanter macht, nicht etwa, weil man selbst den Umsturz will. Es geht nur um die sprachliche Würze. Aber damit ist man schon ihr Komplize, ist man Mittäter. Denn so macht man ihre Wunschinterpretationen zur akzeptierten Wahrheit. Denn was in der Zeitung steht, das gilt für die Leute. Das ging mit dem Nonsens Berufsverbote so, wie es heute mit Nonsensbegriffen wie Volksgefängnis, Hinrichtung und Isolationsfolter geht.“
„Zur akzeptierten Wahrheit machen sie das, sagst du. Ich bin zwar kein Philosoph, sondern nur ein Maler. Aber das kommt mir doch etwas komisch vor. Ist die Wahrheit denn davon abhängig, daß sie akzeptiert wird.“
„Neuerdings ja, neuerdings kann man auch über wahr und nichtwahr abstimmen. Denn heute ist die Wahrheit das, was die Mehrheit dafür hält. Das ist Demokratie auf dem Höhepunkt. – Aus dem Theater weißt du, was auf den Höhepunkt folgt.“
„Klar, die Katastrophe.“
„Eben.“
„Na, also, jetzt holst du aber zum Rundumschlag aus“, wollte er sie beruhigen.
Aber sie ließ sich nicht beruhigen: „Durchaus nicht. Rundumschlag, das ist nicht meine Sache. Allenfalls der Versuch zum Rundumblick, also zum Panoramablick. Und dann kommt man zwangsläufig von der Soziologisierung des Rechts auf den Sprachmißbrauch und von dort auf unser zu plattes Demokratieverständnis. Und das kann man dann weiterführen, hin zur vierten Gewalt im Staat, den Medien, die zwar nicht als Gewalt vorgesehen waren und auch nicht entsprechenden Kontrollen unterliegen oder von Gegengewichten getragen werden, dafür aber um so wirksamer sind und sich jetzt schon zur ersten Gewalt im Staate mausern und...“
„Annemarie, nun reicht‘s mir aber, ehrlich“, unterbrach er sie. „Du solltest mir nicht die ganze wohlgeordnete Welt zerstören, die für meine Arbeit so wichtig ist.“
„Nein, nein, das will ich nun wirklich nicht. Entschuldige, Schatz. Aber mir reicht es auch. Doch da fragt kein Mensch nach, ob es mir reicht oder nicht. Ich muß es aushalten, muß durchhalten, aber – ist schon gut, entschuldige bitte, ich wollte dir nicht wehtun, ich will dir nichts, dir doch nicht, Rainer – ich hab doch nur dich.“
Er nahm sie in den Arm, was sie gern geschehen ließ. Viel lieber hätte er sie in dem Moment angesehen. Um besser verstehen zu können, was sie bedrückte. Aber er spürte, daß es ihr recht war so. Daß sie jetzt lieber über seine Schulter sah. Wie ich über sie wegschaue. Und er verstand: Das ist kein Sich-Näher-Kommen, so eine Umarmung. Das ist in Wahrheit ein Sich-Verstecken vor dem anderen. – Das müßte man doch malen können. Dieses Innige einer Umarmung, das in Wahrheit in gegensätzliche Richtungen zerfließt. Das muß ich darstellen. Und murmelte fast mechanisch: „Ich weiß ja, ich weiß ja. Dich bedrückt das doch.“
„Nein, nichts“, riß Annemarie sich los, „es ist nichts.“
„Aber das braucht doch nur ausgesprochen zu werden“, sagte er in sanft-vorsichtigem Ton. „Dann bist du den Fall los – und anders geht es nicht.“
Annemarie Kleine Sextro hatte sich schon wieder voll unter Kontrolle. Sie nahm ihr Tasse und die wieder gefüllte Teekanne und ging zum Wohnzimmer hinüber. „Wirklich kein Grund, hier in der Küche herumzustehen. Komm, ich habe noch etwas Zeit, wir machen es uns ein bißchen gemütlich.“ Und nahm sofort den Faden wieder auf, den sie vorher fallengelassen hatte, ruhig jetzt, sehr ruhig und geradezu seminarmäßig sachlich: „Was dahintersteckt, hinter der ganzen Fehlentwicklung, das ist im Grunde genommen ein völliges Versagen der heutigen Philosophie.“
„Ach Annemarie, ich hab dir doch gesagt, daß ich kein Philosoph bin.“
„Philosoph ist jeder denkende Mensch, soweit er nicht gerade nur an die Wurst im Kühlschrank denkt. – Und wir Juristen sind ausübende Philosophen. Denn hinter unseren Rechtsnormen stehen ethische Forderungen. Wenigstens war das bisher so. Außer bei Hochverrat und solchen Sonderdelikten oder bei der Regelung rechts vor links im Straßenverkehr. Weil aber die Philosophen es nicht mehr fertigbringen, sich verständlich zu machen, weil sie heute nur noch auf der Kellertreppe des Geistes sitzen und vor sich hin onanieren, deshalb gibt es auf einmal keine allgemeinverbindlichen Postulate mehr. Deshalb konnte die Soziologie den Platz der Philosophie usurpieren und vom bloßen Leute-Begucken zur Normgebung durch die Leute übergeben.“
„Zum Beispiel?“
„Zum Beispiel, zum Beispiel. Ja, zum Beispiel Brandstiftung als Hilfe zur Bewußtseinserweiterung zu verklären, Bankraub als Umverteilung, Menschenraub als Gefangennahme und Mord als Hinrichtung.“
Rainer fand die Juristerei und ihre ganze verzwickte Problematik abscheulich, hütete sich aber, seine Frau merken zu lassen, wie zuwider ihm dieses Gezänk war. Und dann noch ein in Formeln standardisiertes Gezänk. Er schätzte es aber sehr, wenn Annemarie sich für seine Malerei begeisterte und bemühte sich deshalb, wenn schon nicht Begeisterung, so doch wenigstens Interesse an ihrer Berufsarbeit zu zeigen. Aber immer kam er dann viel zu schnell an den Punkt, wo er nur noch schweigend zuhören konnte.