Читать книгу Tage des Terrors. Tatsachenroman - Walter Laufenberg - Страница 9
5.
ОглавлениеDas war in den letzten großen Ferien vor dem Abitur. Bei zwei Familien auf der Nordseeinsel Juist konnte man uns brauchen. Mehr wußten wir nicht. Doch – daß wir kein Geld verdienen würden, lediglich ein kleines Taschengeld für unsere Arbeit erhalten sollten, daneben aber freie Unterkunft und Verpflegung. Und natürlich geregelte Freizeit. Und das war es, was uns besonders gereizt hatte: das ganz andere Ferienerlebnis. Kein Problem, das Geld für die Bahnfahrt von den Eltern zu erbetteln. Es ging ja ums Initiativwerden, um Hilfsbereitschaft und Idealismus. Das gab den nötigen Rückenwind. Und der Begriff Au-Pair-Mädchen klang ja recht gut. Wenn die auch normalerweise im Ausland arbeiten, um die Fremdsprache zu lernen. Unseren Eltern war das Angebot auf Juist viel lieber als ein Auslandsaufenthalt. Bleibe im Lande und nähre dich redlich. Ich habe es noch im Ohr.
Da sind die beiden Mädchen auf der Fähre, mit der sie von Norddeich übersetzen zu ihrer Trauminsel Juist. Deutlich zu sehen, daß sie sich fühlen – im Lande geblieben oder nicht – wie auf großer Fahrt. Und dann dieser kuriose Trip mit der nostalgisch schnaufenden Inselbahn von der Mole zum Bahnhof. Das Erlebnis hat begonnen. Wie sie mit dem Gepäck in der Hand aus dem kleinen Bahnhofsgebäude kommen, die paar Straßen hinunter gehen, in ein neues Leben hinein, das sich ihnen mit einem quirlig vollen Platz und bunten Blumenrabatten vorstellt. Da steht plötzlich der Fotograf vor ihnen und hat sie schon im Kasten. Wie er das ausdrückt. „Übermorgen abzuholen, meine Damen. Adresse steht hier auf dem Kärtchen. Wünsche Ihnen schöne Ferien!“
Da waren wir auf einmal Damen. Und Feriengäste. Das Foto muß ich noch irgendwo haben, überlegte Annemarie. Schade, daß ich damals nicht ein ganzes Album angelegt habe, mit Fotos, Fahrscheinen, Eintrittskarten und getrocknetem Dünengras. – Was war daran noch zu trocknen? Aber damals kamen ja noch nicht diese Unmengen von Bildern zusammen bei jeder Reise. Und wir waren ja auch keine Damen auf Urlaubsreise. Daß wir uns am nächsten Abend um acht im Bahnhof treffen wollten, um unsere ersten Erlebnisse zu besprechen, das hatten wir schon im Zug fest vereinbart. Auf was sonst sollte man sich festlegen, wenn man überhaupt keine Vorstellung von dieser Insel hat. Nach diesem ersten Treffen, nach dem ersten Tag als Au-Pair-Mädchen würden wir einen besseren Treffpunkt kennen.
Anne findet ihre Familie gleich am Hauptplatz, wo eine kleine Gartenanlage und ein Musikpavillon Kurort mimen. Ein imposantes Haus, das Wohnung und Praxis der Familie Dr. Silbrig enthält. Genaugenommen sogar zwei Praxen, denn Herr Dr. Silbrig und auch Frau Dr. Silbrig arbeiten als praktische Ärzte. Doch mit den zwei Behandlungszimmern und den beiden Wartezimmern – eins ist der Extraraum für Privatpatienten, damit die wartenden Kassenpatienten nicht sehen, wie diese zwischendurch ins Ordinationszimmer geholt werden –, mit Röntgenraum und Umkleidekammer und den Labors habe Anne nichts zu tun, erklärt die Ärztin. Nur mit den beiden Söhnen der Dr. Silbrigs, die drei und fünf Jahre alt und ein sehr freies Leben gewohnt seien.
„Das ist unsere stolze Zukunft. Wir werden unseren Söhnen später eine exzellente Ausbildung zuteil werden lassen“, sagt Dr. Silbrig. „Wenn sie nur erst mal groß wären“, ergänzt seine Frau. Und er darauf: „Sorgen Sie derweil dafür, daß sie in der Zwischenzeit nicht allzuviel Unheil anrichten.“
Das so gesagt, wie man zwei Koffer bei der Gepäckaufbewahrung abgibt. Damit hat er sie aus den Händen. Und die Sache ist für ihn erledigt. Für Anne aber ist das schon mehr wie ein doppeltes Klicken von Handschellen rechts und links an ihren schmalen Jungmädchenhandgelenken. Womit zwei Delinquenten an sie gefesselt sind. Transportsicherung. Bis sie endlich groß sein würden. Annes Handgelenke sind natürlich nicht die ersten und würden auch nicht die letzten sein, die dafür herhalten müssen. Ein billiges Verfahren nennt Frau Dr. Silbrig das. Sie selbst sei nun mal von ihrer hochqualifizierten Ausbildung her zu teuer, um den ganzen Tag auf die Kinder aufpassen zu können. Und die Mädchen, die herkämen und ihr diese Belastung abnähmen, die hätten dafür die Möglichkeit, sich schon im Umgang mit Kindern zu üben und sich so auf ihre zukünftige Rolle als Mutter vorzubereiten.
Daß ich selbst später auch einmal zu hochqualifiziert sein könnte für diese Rolle, das habe ich nicht erwidert, wohl auch gar nicht gedacht, überlegte Annemarie. Die Ärztin war ja auch noch nicht fertig mit ihrem Einführungsvortrag.
„Und diese Chance haben Sie in einem kultivierten Haushalt in einem Kurort, müssen Sie bedenken, und das bei freier Unterkunft und Verpflegung. Und ein Taschengeld bekommen Sie noch obendrein. Gar nicht zu sprechen von der unbezahlbar guten Luft, die Sie hier atmen. Etwas ganz anderes als verpestete Großstadtluft.“
„Aber das ist die berühmte Berliner Luft, die wir zuhause haben“, muß das Mädchen da doch widersprechen. Bemüht, das als eine witzige Bemerkung erscheinen zu lassen. Ein Vortrag über Autoabgase und über Juist als Insel ohne Autos und über das einmalige Reizklima der Nordsee ist die Folge, über den Salz- und Jodgehalt der Luft und so weiter, mit noch dreimal „unbezahlbar“. Da kann das Au-Pair-Mädchen nur noch heftig zustimmend nicken. Genau wie bei der Zuweisung des Zimmers. Ein Verschlag im Keller, neben dem Heizungsraum.
„Mit separatem Eingang“, sagt Frau Dr. Silbrig und zeigt auf die Waschküchentreppe an der Rückseite des Hauses. „Das alles gehört zu Ihrem Reich“, macht sie eine weite Armbewegung. „Natürlich nur die persönliche Wäsche der Familie. Mit der Praxiswäsche haben Sie nichts zu tun, die wird rausgegeben. Und sogar ein Teil der Haushaltswäsche wird auswärts gewaschen. Die geht über die Geschäftsbücher, weil das absetzbare Betriebskosten sind. Aber was die Leibwäsche betrifft, die ist Ihre Angelegenheit.“ Und zeigt ihr, wie die Waschmaschine zu bedienen ist und wo sie das Bügelbrett auflegen und das Bügeleisen einstecken kann.
„Mit dem Kochen haben Sie nichts zu tun. Einkaufen und Essenmachen, dafür haben wir am Vormittag eine Haushaltshilfe. Bloß der Abwasch ist Ihre Angelegenheit. Abends gibt es bei uns immer kalte Küche. Das ist gesund. Da können Sie sich allerdings ein bißchen bei nützlich machen. Und natürlich morgens das Frühstück. Das ist sehr wichtig. Auch für die Gesundheit. Das muß pünktlich um halb acht auf dem Tisch stehen, weil um neun Uhr die Praxis beginnt und ab halb neun schon Privatpatienten behandelt werden. Mein Mann trinkt koffeinfreien Kaffee mit Milch, ich trinke starken Tee, schwarzen Tee natürlich, mit Zitrone. Die Eier in kochendem Wasser drei Minuten. Die Brötchen bekommen Sie ab sieben beim Bäcker zwei Straßen weiter zum Strand runter. Sie selbst frühstücken schon vorher zusammen mit den Kindern in der Küche. Die Kinder sind, während wir frühstücken, im Kinderzimmer. Am Abend müssen die Kinder um halb acht im Bett sein, vor Beginn der Tagesschau muß im Kinderzimmer das Licht aus sein und absolute Ruhe herrschen. Was Sie dann machen, ist Ihre Sache. Wie gesagt, separater Eingang, wir sind da sehr tolerant. Aber dafür wollen wir von Ihrem Privatleben auch nichts wissen und überhaupt nichts mitkriegen. Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine.“
An diesem ersten Abend wartet Anne vergebens im Bahnhof auf ihre Freundin. Eine gute halbe Stunde lang studiert sie Fahrpläne und Prospekte und Karten, bis sie nicht länger warten kann, weil ein paar junge Burschen auf sie aufmerksam werden. Also schleicht sie heim in ihren Keller und hofft auf den nächsten Abend.
Renate ist nicht früh genug weggekommen aus der kleinen Pension, in die es sie verschlagen hatte. Beinahe neun ist es schon, als sie zum Bahnhof kommt. Da kann sie dann auch nur herumstehen und warten und schließlich ebenfalls vor den abenteuernden Blicken davonlaufen. Dabei hat sie so viel zu berichten. Von dem winzigen Kämmerchen, das ihr Zimmer ist. Und von seiner traumhaften Lage: im Keller. Gleich neben der Küche und der gefährlich steilen Treppe nach oben. Und von diesen Leuten und und und.
Als die beiden Mädchen sich am dritten Tag auf ihrer Trauminsel endlich am Bahnhof treffen, fallen sie sich in die Arme, als hätten sie eine lange Seereise machen müssen, um sich wiederzusehen. Sie legen gleichzeitig los mit ihren Berichten, und die klingen bei beiden gleich trist.
„Zwei kleine Jungen ohne jede Erziehung. Dazu gehörten ein paar starke Männer mit Zwangsjacken. Und wenn ich mich durchsetzen will, dann beschweren sie sich prompt bei ihrer Mutter. Und die macht mir dann doch tatsächlich noch Vorhaltungen, und das vor den Kindern. Einfach unmöglich.“
„Den ganzen Tag soll ich Serviererin machen. Das nennen die Au-Pair-Mädchen. Weil die Serviererin ein Kind kriegt. Nur immer schwervolle Tabletts schleppen, aus dem Keller, wo die Küche ist, über eine irre steile Treppe in die erste Etage, in den Speiseraum und morgens auch noch in alle Zimmer. Einfach verrückt.“
„Dieser rechtlose Status eines Au-Pair-Mädchens ist unerträglich. Und die Kinder wissen ganz genau, daß man nichts zu sagen hat. Ich soll für die doch nur ein Spielzeug sein, an dem sie sich nicht weh tun können.“
„Das ist glatte Ausbeutung. Denn eine Serviererin kriegt richtigen Lohn und nicht nur dieses kleine Taschengeld, das ich kriege. Und dafür den Muskelkater in den Beinen und in den Armen, die Schmerzen in den Schultern. Ich glaub, ich spinne, daß ich so was für andere Leute mache.“
Sie haben nicht die Ruhe, sich in eine Eisdiele zu setzen. Sie sind so aufgeregt, daß sie spüren: wir passen da nicht hin. Sie passen tatsächlich nicht zu diesen Leuten, die herumssitzen und sich ihre Urlaubswochen genießerisch als ein Eis nach dem anderen auf der Zunge zergehen lassen. Jede mit einem Eishörnchen in der Hand, gehen sie im Eilschritt an den Strand.
„Es endlich mal sehen, das Meer.“
„Ja, guck es dir genau an, denn gleich ist die geregelte Freizeit schon wieder vorbei. Dann müssen wir ins Bett, um morgen früh fit zu sein.“
„Das sag ich dir, das mach ich nicht lange mit.“
„Ich auch nicht, da kannst du Gift drauf nehmen.“
„Aber laß uns erst mal sehen, wie sich die Sache entwickelt. Aller Anfang ist schwer, heißt es ja.“
„Na, wenn du meinst. Vielleicht wird es tatsächlich nachher besser.“
Als Anne und Renate sich zwei Tage später wieder treffen, vor der Eisdiele diesmal, da sieht die eine der anderen auf den ersten Blick an, was sie denkt. Nämlich dasselbe wie sie selbst: Nicht nur der Anfang ist schwer, das Ganze ist nichts.
„Ich packe morgen früh meine Sachen und sage der Pensionswirtin, daß sie selbst das Frühstück auf die Zimmer bringen kann. Lieber fahre ich nachhause und laß mich von meinen Eltern auslachen, als mich hier so ausnutzen zu lassen. Und dieser Entschluß steht felsenfest.“
„Gut, auch ich mach morgen früh Schluß. Nach dem Frühstück für die Kinder und mich werde ich den Eltern sagen, daß ich das weitere Gedeihen ihrer mißratenen Söhne ihrer liebevollen Fürsorge überlasse – genau wie ihre schmutzige Wäsche.“
„Die Leute hier, ich weiß nicht, die sind so was von grapschig, das gibt‘s doch gar nicht.“
„Und entschuldigen alles damit, daß sie nur so eine kurze Saison haben.“
„Früher sollen die sich von Strandräuberei ernährt haben.“
„Davon habe ich auch schon gehört. Falsche Lichter haben sie aufgestellt, damit vorbeifahrende Schiffe vom Kurs abkommen und stranden. Und die dann ausplündern, das war ihr Geschäft.“
Damit hatten wir uns so weit freigestrampelt aus unserer persönlichen Malaise, daß wir uns in die Eisdiele setzen konnten wie Touristinnen. Und uns zwei große Eis mit Früchten leisten. Sollte das doch die letzte Gelegenheit sein, ein bißchen Juist zu genießen. Und das mit dem Vorgeschmack der schon bald wiedererlangten Freiheit.