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17.

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Was hat Rainer heute früh gesagt? Er habe von unserer Schottlandtour geträumt? Kaum noch vorstellbar, schüttelte Annemarie Kleine Sextro den Kopf: Rainer als Reiseleiter. Sie saß wieder in ihrem preußisch-kargen Richterzimmerchen, in das die Vergangenheit sich eingeschlichen hatte. Diese janusköpfige Dimension, die wärmt und frieren läßt – ohne Ansehen der Person und des Standes. Die Akte Renate Hobbes lag vor ihr. Gerade erst energisch zugeschlagen. Wenn schon Vergangenheit, dann wenigstens die angenehme, bestärkte sie sich in ihrer Pflichtvergessenheit. Traurig genug, daß ich das nötig habe. Und wandte sich schnell wieder der schönen Seite der Vergangenheit zu. Das ist ja die Überlegenheit der Erinnerung, daß sie vor einem aufgebaut ist wie ein reichhaltiges Buffet. Warum also hartes Schwarzbrot nehmen – Wasser und Brot, ach Unsinn, Wasser und Brot – wenn ich zum Spargelröllchen greifen kann.

Die Richterin sah sich erschrocken um. Aber da war niemand, der sie bei ihren abirrenden Assoziationen ertappt haben könnte. „Ein Reiseleiter ausgerechnet, so ein abgegriffener Gigolo“, schimpfte sie vor sich hin. „Glaubte der doch tatsächlich, mich einfach so verköstigen zu können. Da wird man sich doch wohl noch aufregen dürfen. Bei so einer Unverschämtheit.“ Und beruhigte sich dann schnell wieder bei der Vorstellung von Rainer, wie er in dem Moment daheim an der Staffelei steht. Mit diesem Ernst, der mich immer wieder erstaunt. Wie er um die richtige Farbmischung bemüht ist, um die Komposition, die Lichtführung.

Nein, er hat nicht versucht, mich hinters Licht zu führen. Er hat mir sofort gestanden, daß er verheiratet und soviel älter sei als ich. Und er war tatsächlich alles andere als ein Gigolo. Aber halt doch ein Reiseleiter. Und deshalb mußte ich ihn einfach ablehnen, – so schwer es mir auch fiel. Klar hatte er mir auf Anhieb gefallen. Aber ich habe ihm das Leben schwergemacht auf dieser Reise. Wahrhaftig. Distelchen hatte er mich deshalb genannt. Und nachher hat er einmal gesagt, typisch Rainer, daß nur Esel sich nichts daraus machten, Disteln zu fressen. Genau so war er ja über mich hergefallen. als ob ich, die Jüngste der Gruppe, ganz selbstverständlich sein Reiseproviant sein müßte. Da konnte ich ihn doch nur auf Granit beißen lassen. Ja, ich habe, ohne es selbst zu durchschauen, genau das getan, was die sicherste Methode ist, einen Mann an sich zu binden: ihn ablehnen. Gott sei Dank, das kann ein Mann nicht vertragen.

Unmöglich, mich geistig wieder an die Akte heranzurobben. Dabei muß ich weiter darin lesen. Muß lesen, lesen, lesen. Um das Loch zu finden, durch das ich Renate entschlüpfen lassen kann. – Aber ich fürchte, daß ich dieses Loch nicht entdecken werde. Weil es keins gibt. Die Maschen des Gesetzes sind zu eng für Renate, zu eng für die Terroristen, so gut gemeint deren Aktionen ursprünglich waren. Wohl gerade deshalb. Der Staat reagiert auf sie empfindlicher als jedes andere Opfer eines Verbrechens reagieren würde. Weil der Staat immer die Rechtfertigung für seine Unnachgiebigkeit hat: Ich vertrete kein Eigeninteresse, das man auch einmal hintanstellen kann, wenn es einem opportun erscheint. Ich, der Staat, ich vertrete das Interesse aller. Und deshalb muß ich so streng sein. Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Doch daß der Staat ganz genau verstanden hat, um was es bei den terroristischen Aktionen in Wahrheit geht, nämlich um ihn selbst – abgelehnt, infragegestellt –, und daß er deswegen so unnachgiebig ist, das ist kein Thema. Das ist Falschheit, – und das ist die Falschheit, der ich diene. Eigentlich müßte ich ihn hassen, den Staat. Ja, wenn ich ganz redlich wäre. Aber darf ich ihn hassen, meinen Staat? Ich? Eine Richterin? Nein, hassen darf ich ihn nicht, das ist das Mindeste an Neutralität, das ich aufbringen muß. – Pah, Neutralität.

Und wie um einen dicken Strich durch diese abwegigen Überlegungen zu ziehen, griff sie nach dem roten Filzschreiber, der vor ihr in der häßlichen Plastikschale lag. Die stört mich schon so lange, und immer noch nicht habe ich mich dazu aufgerafft, sie gegen eine schönere auszutauschen. Wir hatten Federmäppchen damals, fiel ihr ein. Aus hellem Leder. Und auf dem von Renate, meiner Banknachbarin, jahrelang hatte es in meinem Blickfeld gelegen, da stand mit Kugelschreiber geschrieben: It is my life and I do what I will.

Sie stand auf, öffnete das Fenster und atmete einige Male tief durch. Dabei bemerkte sie nicht, wie Woitolla ins Zimmer trat. Als er sie ansprach, schrak sie zusammen.

„Oh, entschuldigen Sie bitte, Frau Kleine Sextro, ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte er, selbst erschrocken. „War Ihnen zu warm?“

„Schon gut, schon gut“, sagte Annemarie, „nur hin und wieder mal etwas Luft hereinlassen. Ist ja eine Wohltat nach den schrecklichen Tagen mit dem Smog.“

„Das waren die von drüben. Die wollen uns einfach vergiften.“

„Na, sich selbst vergiften sie dabei aber auch.“

„Nein, nein, in Ostberlin hat es noch keinen Smogalarm gegeben diesen Winter, habe ich gehört, obwohl die das auch haben mit eins, zwei und drei.“

„Das liegt nur daran, daß sie drüben die Grenzwerte viel höher ansetzen, von wo ab sie Alarm schlagen. Die Luftverschmutzung ist da nicht geringer als hier.“

„Aber die Gesundheitsgefährdung müßte dann ja auch dieselbe sein.“

„Ist sie auch. Aber man braucht ja nicht jedem auf die Nase zu binden, wie es mit einem steht, sagen die sich.“

„Aha ja“, meinte Woitolla nur und zog schnell weiter mit seinem Aktenwägelchen.

Husch, husch weg. Als ob er das als einen Nasenstüber empfunden hätte. Tut mir leid, guter Woitolla, das wollte ich nicht. Ich will ja nur mal wieder durchatmen können. Luft, frische Luft. Erst wenn man sie nicht hat, merkt man, was sie wert ist. Das offene Fenster, die frische Winterluft, schön – dieselbe Luft, die Renate atmet. Nicht am offenen Fenster zwar, nur indirekt, aber doch dieselbe Luft. Vielleicht ist gerade die Portion Luft, die ich jetzt tief einatme, durch ihre Lungen gegangen. Einige Kilometer von hier weg nur, also vor einigen Minuten erst. Es ist windig, und der Wind kommt von dort drüben, und da etwa liegt Moabit, liegt die Frauenhaftanstalt.

Das macht man sich viel zu selten klar, wie innig man mit dem anderen verbunden ist. Das Wichtigste, die Luft, hat man mit allen gemeinsam. Mehr nicht? – Sie wird auch das Wort Smogalarm im Kopf gehabt haben. Sie darf sich ja Zeitungen halten und wird es sicher tun. Sie wird auch das neue Wort Inversionswetterlage vor sich hin gesagt haben. Dieselben Begriffe im ihrem Kopf wie in meinem. Vielleicht sogar auf den Lippen. Aber zu wem sollte sie das gesagt haben? In der Isolationshaft. Das kann sie vor sich hingesagt haben, wie ich manchmal vor mich hin spreche, wenn ich hier im Zimmer allein bin. Isolation auch das, ja freiwillige Isolationshaft. Das Alleinsein als Folter zu bezeichnen, das käme mir niemals in den Sinn. – Oder doch? Ja, wenn ich nicht mehr freiwillig allein sein dürfte. Das ist wohl vergleichbar mit der Luft, wenn sie mir aufgezwungen würde. In einer Überdruckkammer, wie bei diesen entsetzlichen Experimenten mit KZ-Häftlingen. Angeblich im Dienst der Wissenschaft. Als ob das etwas daran änderte, daß es ein ungeheures Verbrechen war. Als ob die Motivation so einfach unmenschliches Handeln zu menschlichem machen könnte.

Rainer würde mir jetzt heftig widersprechen. Menschen handeln niemals unmenschlich, würde er sagen. Daß sie so rücksichtslos grausam sein können, das ist dabei noch nicht einmal das eigentlich Menschliche an den Menschen. Das können Tiere auch. Aber daß sie solche Taten ohne Not tun und sie noch mit edlen Motiven zu tarnen versuchen, mit hehren Absichten, gutem Willen oder dem überragenden Interesse der Gesellschaft – und oft glauben sie wohl auch selbst daran –, das ist das eigentlich Menschliche an den Menschen. Und das ist abzulehnen. Der Mensch, die einzige falsche Kreatur. Die angebliche Krone der Schöpfung in Wahrheit ihre Fehlentwicklung. Und das ist es, was er malen möchte, aber nicht in den Griff kriegt, wie er letztens noch ganz verzweifelt zugegeben hat. Die Szene im Paradies, die er immer wieder darzustellen versucht. Der Augenblick unter dem Apfelbaum, unmittelbar nach dem Genuß der verbotenen Frucht. Als sie erkannten, daß sie nackt waren. „Nackt, nackt, nackt“, hatte er geschrien, „das kann jeder malen, und das malen sie alle gern, meine lieben Kollegen. Aber das ist das falsche Bild. Es taugt nicht als Verständnisbrücke. Weil es nur von dem Eigentlichen ablenkt. Weil es doch nicht darum geht, schöne Nackedeis zu zeigen, weil es nicht darum geht, aus Feigenblättern Kleidung entstehen zu lassen.“

Fast wäre es da zum Streit gekommen, erinnerte Annemarie Kleine Sextro sich an diesen Abend. Nur weil ich in den Feigenblättern den Ursprung der Mode vermutet hatte. Immer davon ausgehend, genau wie Rainer, daß es sich bei der Paradiesstory natürlich nur um eine Umschreibung handelt.

„Das hat mit Mode nichts zu tun, nicht einmal mit Bekleidung. Nackt war dieses erste Pärchen doch nur im übertragenen Sinne“, hatte er mich ein bißchen zu energisch abgetan. Wie eine Schülerin, die nicht versteht, um was es geht. Aber als er dann so unglücklich war, weil er nicht wußte, wie er das malen sollte, was ihm so klar war, da hat er mir doch wieder leid getan.

„Wie das malen? Wie das malen?“ hatte er um einen Rat gebettelt. Doch wie sollte ich ihm den Rat geben können? Dabei schien mir seine Deutung der Paradiesszene auf Anhieb plausibel: „Als die ersten Menschen den Ungehorsam gewagt hatten, die Tat aller Taten, da stellten sie fest, daß sie ein Ich hatten. Das war das große Erschrecken. Und als er ihr vorwarf, sie habe sich zu etwas Üblem hinreißen lassen, und sie ihm vorhielt, er habe ja mitgemacht, und er sie beschimpfte, weil sie ihn dazu verleitet habe, und sie sich auf die Schlange hinauszureden versuchte, die sie verführt habe, da erkannten sie plötzlich, daß sie zwei Ichs hatten, er seins und sie ihrs, und daß diese Ichs gleich waren und daß sie sich deshalb in die Quere kommen mußten. Damit“, versuchte Rainer mir klarzumachen, „genau damit begann es, das ewige Versteckspiel des Ichs, die Kultivierung der schönen Ausreden und guten Gründe für alles Üble. – Aber mal das mal.“

Tage des Terrors. Tatsachenroman

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