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9.

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Strand. Feiner Sand. Und unterm Sonnenschirm auf dem ausgebreiteten Badetuch die Studentin Renate im Bikini.

„Was liest du denn da?“ Ein junger Mann in Badehose.

„Eine Novelle.“

„Von wem? Zeig doch mal her“, reißt er ihr das Buch aus der Hand.

„Oho, Stefan Andres: El Greco malt den Großinquisitor“, liest er laut und pfeift in Kleinejungenmanier durch die Zähne. „So schwierige Lektüre für den Spanienurlaub, das könnte mir nicht einfallen. Dann kann man ja gleich daheimbleiben.“

„Das hättest du dir früher überlegen sollen. Außer dem Eisverkäufer hätte dich hier keiner vermißt.“

„Na, veredelt wirst du durch deine anspruchsvolle Lektüre nicht gerade. – Soll ich uns ein Eis holen?“

„Erstick dran!“

„Giftspinne!“ Er läßt sie allein unterm Sonnenschirm sitzen und läuft ins Wasser.

„Ha, Frank, hast du dir wieder eine Abfuhr geholt?“ Anne, die mit Erwin um die Luftmatratze kämpft.

„Du hast gut lachen, aber ich...“

„Ich lache doch gar nicht. Aber du wirst doch wohl Manns genug sein, sie dir zu zähmen.“

„Von zähmen kann gar keine Rede sein. Und ich wüßte auch nicht wozu. Ich frage mich nur, warum ich mich auf so was eingelassen habe.“

„Ja, Pech. – Ist aber trotzdem sehr lieb von dir, daß du mitmachst, Frank. Sonst hätten wir doch niemals fahren dürfen.“

Da hingen wir zu dritt halb auf der Luftmatratze, halb im Wasser und steuerten mit heftigen Beinbewegungen vom Strand weg, erinnerte Annemarie Kleine Sextro sich. Klar, daß meine Eltern es niemals erlaubt hätten, daß ich allein mit Erwin in Urlaub fahre. Wenn ich auch schon 19 war und schon zwei Semester Jura studiert hatte und mir eigentlich sehr selbständig vorkam. Aber Erwin war vier Jahre älter als ich und schon viel zu erfahren, viel zu gefährlich nach den Vorstellungen einer gutbürgerlichen Familie.

Wir hatten uns an der Uni kennengelernt. Erwin studierte ebenfalls Jura. Er war ein ruhiger, schon sehr überlegen und reif wirkender Mann, als er sich meinen Eltern vorstellte. Daß er sehr witzig sein konnte, daß zeigte er dabei nicht. Eigentlich hatte er für unseren nach Neureich-Kritik schreienden Fabrikantenhaushalt nur Hohn und Spott übrig. „Würstchen in allen Größen“, war sein Spruch, wenn wir allein waren, „Würstchen im Glas, in der Dose, in der Hose und an beiden Händen.“ Aber in den Mietznerschen Fauteuils war er betont guterzogen. Um vergessen zu machen, daß er aus kleinen Verhältnissen kam. Mit dem Erfolg, daß er von meinen Eltern zwar nicht akzeptiert wurde – unter einem Ehemann für die einzige Tochter und Universalerbin, wie Vater zu sagen pflegte, stellten sie sich selbstverständlich ganz was anderes vor. Möglichst einen Spitzenpolitiker. Aber für das erste Herumspielen der flügge werdenden Tochter, wie sie das nannten, ließen sie mir Erwin.

Der hatte seinen Freund Frank bekniet mitzumachen, ich Renate. Zu viert wäre alles harmloser. Große gemeinsame Vorstellung dann bei den Eltern. Große Bedenken bei uns daheim, ein langes Lamento und nur sehr zögerliches Nachgeben. „Nolens volens“, sagte Vater. Dabei hatte er nie Latein gelernt. Bei Renates Eltern war die Sache etwas einfacher. Die Hobbes hatten wie alle kleinen Leute größten Respekt vor Leuten mit Geld und konnten sich deshalb leicht beruhigen bei dem Gedanken, daß die Mietznertochter ja mit von der Partie war. Nach der Devise: wer reich ist, ist was Besseres. Schließlich hatten sie ja alle erst vor gut zwanzig Jahren beim Punkt Null angefangen mit dem Wiedermenschwerden. Und das hieß erstmal sich einkleiden, dann sich einrichten. Erst die berühmte Kleidungswelle, dann die Möbelwelle. Und dann sich wieder satt essen. Und wie. Und was Gutes sollte es schon sein: die Freßwelle. Und keinen selbstgebrannten Fusel mehr trinken müssen. Knolly-Brandy wie sie den Zuckerrübenschnaps genannt hatten, damals in der Waschküche, wo die Knollen im großen Waschkessel kochten. Ja, alle hatten gleich angefangen. Das war ihnen bewußt, den Arbeitern und kleinen Angestellten und klitzekleinen Beamten, die nun auf die Reisewelle umstiegen. Und wer auf einmal im großen Mercedes mit Chauffeur an ihrem kleinen Opel vorbeifuhr, wie Vater, der mußte schon was Besonderes geleistet haben.

„Die Tochter von so einem Herrn ist die beste Freundin unserer Tochter, mußt du bedenken“, sagt Frau Hobbes zu ihrem Mann. „Und sie bittet uns, daß wir Renate mitfahren lassen nach Spanien. Na, was sagst du dazu?“

„Hm.“

„Na, da kann man doch nur sagen: aber ja doch.“

„Na, wenn du meinst. Das Kind muß ja auch was von der Welt sehen.“

„Sag ich doch. Und Spanien, das ist doch wunderbar. Wir konnten lange genug nicht raus. Das Kind soll es einmal besser haben als wir, haben wir doch immer gesagt.“

„Eben.“

Es war Flut. Und wir konnten noch so heftig mit den Beinen strampeln, es warf uns zurück ans Ufer. Ich bin zu Renate gelaufen, weil ich das Gefühl hatte, ich müßte mich um meine Freundin kümmern. Wohl damit sie nicht total sauer wird und nachher noch den Urlaub abbricht. Dann hätten wir alle vier heimfahren müssen.

„Komm doch ins Wasser, Renate. So erfrischend ist das.“ Dabei schüttelt Anne sich, daß die Freundin das Buch vor den Wasserspritzern verstecken muß.

„Jetzt nicht. Ist gerade so spannend. Und mir ist auch noch gar nicht wieder richtig heiß.“

Dabei hat sie nur den Kopf im Schatten. Die langen, schlanken Beine in den Sand gestreckt, das eine leicht angewinkelt, streicht sie sich prüfend mit der freien Hand über den glatten, braunen Bauch.

Ob sie lag oder stand oder saß, Renate sah immer aus, wie für eine Schönheitskonkurrenz präsentiert. Jede Bewegung eine geschickt inszenierte Pose. Als ob sie einem Modejournal entsprungen wäre. In dem sie sich wahrhaftig hätte sehen lassen können. Das lange dunkle Haar mal offen wehend und mal glatt zurückgekämmt zu einem neckischen Pferdeschwanz, auch mal zu einer raffinierten Abendfrisur aufgesteckt und dann wieder in einem betont bescheidenen Nackenknoten versteckt. Ein hübsches Weib. Und immer wieder ein völlig veränderter Typ. Und wie Renate ihren Plisseerock bewegte, wie sie die Blusenzipfel über der knappen Badehose zusammenknotete. Ich kam mir manchmal neben ihr wie ein Kind vom Lande vor. Ja, ich stand, wie ich gerade stand, und achtete auch nicht darauf, wie meine etwas zu kräftigen Beine am wirkungsvollsten zu arrangieren wären. Ich war kleiner als Renate und molliger und konnte nicht verstehen, warum sie, die mit ihrer Idealfigur so die Blicke auf sich zog, derart abweisend gegenüber Erwin und Frank war. Gerade auch gegenüber Frank, der sich Hoffnung gemacht hatte, er könne mit diesen vierzehn Tagen Strandurlaub sein Glück machen, und der sich auch liebevoll um Renate bemühte.

Der arme Kerl. Er hatte sich das Geld für die Reise von seinem älteren Bruder geliehen. Er mußte anschließend noch vier Wochen jobben, um es ihm wieder zurückzahlen zu können. Da war nicht dran zu rütteln, der Bruder sah auf Ordnung.

„Knochenhart ist der.“ Frank am Mittagstisch im Strandrestaurant. „Für den ist Vereinbarung Vereinbarung, und wenn die Welt untergeht. Und ich kann noch zufrieden damit sein, daß er mir in brüderlich selbstloser Zuneigung keine Zinsen berechnet.“

„Dann laß dir den Nachtisch um so mehr schmekken“, versucht Anne zu trösten.

„Oh ja, rote Grütze mit heißer Vanillesoße. Wißt ihr, wie mein Bruder das nennen würde. Diese Köstlichkeit heißt bei ihm: ein Täßchen Blutpudding mit warmem Eiter.“ Verlegenes Gelächter.

Das war am Tag zuvor gewesen. Frank hatte damit nicht an Attraktivität gewonnen bei Renate. Obwohl sie mitgelacht hatte. Sie war viel zu intensiv mit ihrem Buch beschäftigt, um Gefallen an solchem Geschwätz zu finden. Und zu dem Buch wußte Frank leider nichts zu sagen. Renate verriet ihm auch nichts von dem Inhalt. Sie war absolut verschlossen. Ganz anders natürlich gegenüber mir, als ich bei ihr am Liegestuhl stand und sie naßgespritzt hatte. Ich hatte das Buch ja als erste gelesen.

„Wo bist du denn jetzt?“ Anne tippt ihr auf den Finger, der noch immer im zugeschlagenen Buch steckt.

„Cazalla, der Arzt, den El Greco an das Krankenbett des Großinquisitors geholt hat, will den Kardinal gar nicht heilen, sondern umbringen. Um so seinen Bruder zu rächen, der vor Jahren von der Inquisition hingerichtet worden ist.“

„Und – was glaubst du, tötet er ihn?“

„Ich glaube nicht, daß er das tut. El Greco will ihn ja auch davon abhalten. Der will ja unbedingt sein Bild fertigkriegen. Weiter bin ich aber noch nicht. Ich bin gerade hier“, deutet Renate auf die Stelle im Buch, „wo El Greco sagt: Wißt, es ist umsonst, die Inquisitoren zu töten. Was wir können, ist – das Antlitz dieser Ächter Christi festzuhalten.“

Weiter kommt sie nicht. Erwin ruft nach Anne.

„Ich muß jetzt weiterlesen“, sagt Renate kühl.

„Und ich muß wieder ins Wasser. Mir ist es zu heiß hier.“

Ich bin ins Wasser gelaufen. Aber Erwin hat Renate noch was zugerufen. Sie solle seinen Apparat nehmen und ein Foto von uns dreien auf der Luftmatratze machen. Und Renate legte ihr Buch aufgeschlagen weg und nahm den Fotoapparat von Erwin und ging ein bißchen näher ans Wasser heran. „Alles schon eingestellt“, rief Erwin, „du brauchst nur abzudrücken. Aber noch nicht. Warte. Erst, wenn ich den Arm hebe, dann.“

Das Wasser war unruhiger geworden. Gar nicht so einfach, bei den schnell aufeinander folgenden Wellen auf der Luftmatratze Halt zu finden. Und wir drei nebeneinander. Wild wie ein Fisch auf dem Trockenen gebärdete sich das prall gefüllte Gummifloß. Ein Gerangel und Gelächter und Zupacken und Abgleiten und Prusten. Wir kamen einfach nicht zusammen rauf. Und Erwin sah Renate dastehen mit seiner Kamera. Und jedesmal, wenn er den Arm hochwarf, um endlich auf das widerspenstige, heißumkämpfte Eiland zu kommen, sah er, wie Renate den Transportknopf weiterdrehte. Und wie sie wieder abdrückte und wieder und wieder.

Da war der Tag gelaufen. Erwin war stocksauer, weil Renate fast den ganzen Film verknipst hatte. „Einen teuren Farbfilm,“ schimpfte er, „die dumme Kuh!“ Und war nicht zu beruhigen.

„Soll sie doch gleich nach Hollywood gehen. Da haben sie genug Filmmaterial für sie. Aber nicht mit mir, ich heiße nicht Metro, nicht Goldwyn oder Mayer.“ Aber brüllen konnte er wie der Vorspannlöwe.

Das mit der dummen Kuh hat Renate ihm sehr übel genommen. „Ich hätte ihn umbringen mögen“, hatte sie mir hinterher gesagt, als wir beide auf unserem Zimmer waren. „Wenn ich nur gewußt hätte wie. Zu dumm, daß Männer immer stärker sind als Frauen.“

Nur mit viel Mühe ist es mir damals gelungen, die Wogen wieder zu glätten. Ich wußte ja, aber das habe ich Renate nicht gesagt, daß Erwins Wutausbruch nicht nur dem teuren Farbfilm galt. Das war nur der Anlaß, nicht eigentlich der Grund. Der lag ganz woanders. Aber darüber konnte ich mit Renate nicht sprechen. Übrigens das erste Mal, daß ich etwas nicht mit Renate besprechen konnte. Damit fing sie also an, die allmähliche Entfremdung. Damals ging es im Grunde genommen darum, daß die beiden Doppelzimmer, eins für Renate und mich, eins für Erwin und Frank, ein Problem darstellten. Weil Renate einfach nicht auf die Idee kam, mich mal einen Mittag allein im Zimmer zu lassen, damit Erwin und ich wenigstens stundenweise mal ein gemeinsames Zimmer hätten. Sie brauchte sich ja gar nicht mit Frank zusammenzutun, nur sich mal selbständig auf die Sokken zu machen, das hätte ihr schon einfallen können.

Erwin sagte immer, er brauche mich als sein Kugellager. Und ich fand den Ausdruck irgendwie nett. Doch er blieb die ganzen vierzehn Tage schlecht gelagert und wurde immer verdrießlicher. Ein Reinfall.

Fahr mit, ja, so hieß das Unternehmen, bei dem wir diese Reise gebucht hatten. Unsere einzige gemeinsame Reise. Wir hatten den Namen verlängert zu: Fahr mit, schlaf bei, treib ab. Worüber wir uns köstlich amüsiert haben. Doch Renate kapierte nicht. Schon damals zeigte sich also, daß ein Strandurlaub nicht zu ihr paßt. Kein Wunder, daß er ihr später zum Verhängnis wurde, zog die Richterin – plötzlich ernüchtert – einen Schlußstrich unter ihre Träumereien beim Aktenstudium.

Tage des Terrors. Tatsachenroman

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