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Wieder wie gestern und vorgestern, wie morgen und übermorgen eingerahmt von dem scheußlichschlichten Mobiliar des Richterzimmers. Annemarie Kleine Sextro sah sich mit wehem Blick um. Nur das für die Arbeit Allernotwendigste, übriggeblieben aus den diversen Berliner Justizverwaltungen der letzten siebzig Jahre. Die schiere Demut, wenn das eine Klosterzelle wäre. Der erste Schritt zur Heiligkeit. Hier aber eher die schiere Ignoranz gegenüber allem am Menschen, was nicht unter den hehren Begriff Ratio fällt. Alt gewordene Sachen, doch dadurch weder würde- noch wertvoll geworden, nur abgegriffen, unansehnlich. Ein Ambiente zum Davonlaufen. Oder zum Insichgehen. Annemarie entschied sich für die zweite Variante. Dafür, sich wieder einmal in Erinnerung zu rufen, wie sie zu dem geworden ist, was jetzt an ihrer Tür steht, außen: Richterin am Kammergericht.

Die Schule, nun ja, die hat man absolviert, weil die Eltern es von einem erwarteten. Und dann dastehen mit dem Abiturzeugnis in der Hand, auf das man so lange hingelebt hatte. Und sich selbst sagen müssen: Ist ja wohl stark übertrieben, Zeugnis der Reife. Ich bin jung und nicht reif. Das hätten die wohl gern. Reif, überreif und bald schon nicht mehr konsumierbar. Ich war tatsächlich alles andere als reif damals. Mehr mit Büchern lebend als mit Menschen. Ich kannte doch nur Bücher, außer Renate und meinen Eltern. Typisches Einzelkind, das von den Eltern, die ihre Ruhe haben wollen, auf ein stilles Hobby abgeschoben wird. Bücher sind auch Gesprächspartner, ja, und bei denen kann man eine bessere Auswahl treffen, so hatte ich mich gegen den Hohn der Klassenkameradinnen verteidigt, die mehr von Jungen hielten als von Büchern. Aber für meine Verträumtheit, für dieses verschwommene Gefühl der Unsicherheit auch, dafür hatte ich damals keine Entschuldigung bei der Hand. Dieses Manko wollte ich mir mit der Juristerei wegkurieren. Das Jurastudium als Selbsttherapie. Das dürfte ich ja niemals aussprechen.

Sie legte die Strafakte Renate Hobbes auf augeschlagen vor sich auf den Tisch. Wir waren halt kleine Mädchen, so knospig noch, so rundum unerfahren, wie sie in Mädchenbüchern beschrieben sind. Was wir werden wollten, das wußten wir nicht. Doch was wir alles nicht werden wollten, das wußten wir genau. Nur ja nicht das Übliche. Nur nicht wie unsere Eltern werden. Aber einen Mann haben, ja, das wollten wir beide. Und natürlich nur einen ganz außergewöhnlichen Mann. Den tollsten Mann überhaupt. Diese Gedanken entwickelten sich schneller weiter als wir selbst. Einem besonderen Mann die besondere Frau sein. In einer modernen Partnerschaft lebend. Als die unerschütterlich verständnisvolle und nicht wegzudenkende Gefährtin eines der Großen der Zeit. Eine Art Simone de Beauvoir zumindest.

Habe ich vielleicht nur deshalb so schnell Karriere gemacht? Ich und eine Karrierefrau, so ein Witz. Alles nur, weil wir als Mädchen so herumgesponnen haben. Weil eine Richterin mir was Besonderes zu sein schien. Natürlich keine Ahnung davon, was es in Wirklichkeit heißt, Richterin zu sein. Und dann sogar Richterin am Landgericht und jetzt hier am Kammergericht. Abgeordnet an dieses nächsthöhere Gericht, um mich weiterzuqualifizieren. Das dritte Staatsexamen, wie der alte Kollege am Landgericht sagte. Robenau hieß er. Das kann ich jetzt eigentlich vergessen. Aber mit Anerkennung im Ausdruck gesagt. Und wohl auch mit einer guten Portion Neid. Denn wer kommt schon so weit, und das sogar in recht jungen Jahren.

Annemarie Kleine Sextro konnte sich nicht dazu überwinden, noch einmal die Akte durchzulesen, noch genauer. Zum dritten Mal. Gestern, als ich Rainer beim Überpinseln des Spruchs überrascht habe, hätte ich ihm da sagen sollen, warum ich das nicht wollte? Warum ich es lieber hätte, daß er in seinem Atelier arbeitet statt draußen? Nein, das kann ich ihm nicht sagen. Das würde sofort einen grandiosen Vortrag über Freilichtmalerei und ihre Überlegenheit über die Ateliermalerei auslösen. Pleinairmalerei, Pleinairmalerei und ihre ganz unvergleichliche Atmosphäre. Dabei, darum ging es ja nun wirklich nicht. Aber das dürfte ich ihm nicht sagen. Ich darf ihm nicht sagen, wovor ich Angst habe. Das würde ihm ein ruhiges Weiterarbeiten unmöglich machen. Aber wenn Rainer was passieren würde, das wäre entsetzlich. Das ja, das wäre der Hebel, mit dem sie mich fertigmachen könnten. Und Rainer ist so arglos. Er kennt nur seine Arbeit. Also mußte ich ihn machen lassen. Nun steht neben unserer Haustür ein neuer Spruch, von Rainer in kunstvoller Schrift gestaltet, auf der frischen Übermalung: Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein! – Die Aufforderung „tritt ein“, wenigstens die hätte er sich besser gespart.

In der untersten Schublade ihres Schreibtisches im Kammergericht am Lietzensee lag die Notiz des Ermittlungsrichters über das Gespräch der Untersuchungsgefangenen Renate Hobbes mit ihrem Wahlverteidiger Manfred Schallenberg. Der stumme Zeuge hatte schriftlich festgehalten: „... berichtete der Anwalt dem Häftling Hobbes von einem Gespräch, das er an diesem Morgen mit der Richterin Kleine Sextro hatte und in dem sie ihm erzählt hatte, daß in der Nacht zuvor eine Wand ihres Hauses mit der Aufschrift beschmiert worden war: Es liegt was in der Luft – nicht nur auf der Straße.“

Das will er von mir gehört haben? Nein, das weiß er nicht von mir, sondern von seinen Kumpanen. Da hat er sich selbst verraten. So was Dummes. Auch der gerissenste Anwalt macht also mal einen Fehler. Aber das bleibt hier unter Verschluß. Damit mir nicht wieder Personenschutz aufgedrängt wird. Die mit ihrem peinlichen Getue und ihrem ständigen Schutzgerede. Hat mir gerade gereicht beim letzten Prozeß. Als die Nachbarn sich damals beschwert haben, daß sich immer Polizei in unserem Viertel herumtreibe. Ja, herumtreiben, so haben sie das genannt. Man könne es ja nicht mehr riskieren, nachhause zu fahren, wenn man bloß ein einziges Glas Bier getrunken hat. Und Freunde und Bekannte lehnten Einladungen ab, weil die Beamten in ihrer Langeweile sogar das Reifenprofil der dort geparkten fremden Wagen überprüften. Und der Nachbar, der spät am Abend heimgekommen war und gleich rot sah, weil er in seinem Fernsehsessel einen Nebenbuhler überrascht zu haben glaubte. Beinahe wäre er zum Polizistenmörder geworden. Hätte der Fremde ihn nicht sofort mit entsicherter Dienstpistole in Schach gehalten. Dem armen Kerl war einfach nur kalt geworden, und die Frau hatte ihn gern hereingelassen, weil er ihr ein Gefühl von Sicherheit gab, wie sie nachher erklärte. Und klar, daß er seine Jacke und die Dienstmütze abgelegt hatte im gut geheizten Wohnzimmer. Nein, nur nicht noch einmal diesen Schutzterror. Kühlen Kopf bewahren, Annemarie. Und diesmal jegliches Aufsehen vermeiden.

Woitolla kam herein. Sie schrak zusammen wie ertappt. Er merkte, daß er störte, legte die Akten wortlos auf den Aktenbock, stellte fest, daß nichts als Ausgang dalag, und verschwand fast unhörbar. Eine schreckliche Unsitte eigentlich, dachte sie, daß Boten einfach alle Türen aufmachen dürfen. Ohne anzuklopfen. Was mich allerdings bisher nicht erschreckt hat. Woitolla hat mich nur ein einziges Mal erschrecken können. Als er das erste Mal zu mir hereinkam und ich dachte, ich muß ihm zur Begrüßung ein paar freundliche Worte sagen. Wie er mir da gleich gesagt hat, er freue sich, einmal eine Vierzigerin als Richterin hier zu sehen. Und ich habe mich gewehrt, dumm drauf reingefallen, nein, ich sei noch lange keine vierzig, erst gerade fünfunddreißig. Und er entschuldigte sich, das habe er nicht gemeint. So was spreche er doch niemals an bei Damen. Nein, meine Konfektionsgröße sei vierzig. Unten zumindest. Ich hätte beim Kleiderkauf immer das Problem, daß ich zwei verschiedene Größen kombinieren müßte, unten vierzig und oben zweiundvierzig. Aber das sei ja heute möglich. Er zumindest, er hätte mir das immer ermöglicht. Wenn er jetzt noch die Möglichkeit dazu hätte. Und stellte sich als gelernter Schneider und ehemaliger Chefverkäufer vor. DOB und HOB, sagte er und übersetzte dann freundlicherweise gleich: Damen- und Herren-Oberbekleidung. Ja, ein freundlicher Mensch, dieser Woitolla. Und offenbar eine Kapazität. Denn wie er mich taxiert hatte, das stimmte haargenau. Aber mit seiner langen spitzen Nase, so bedrohlich, und dieser Art, einen gleich auszuziehen – das macht er bei jedem sofort bei der ersten Begegnung, bestätigten mir die Kollegen, und manch einer reagiert sauer –, das ist auch wirklich unangenehm, fast schon unheimlich. Aber andererseits – einmal so ausgezogen, hat man auch keine Scheu mehr vor ihm, wenn er einfach so zu einem ins Zimmer tritt. Wie der Hausarzt ans Bett.

Und kam endlich zurück zu der Notiz des Ermittlungsrichters und zu ihrem Entschluß, sie wegzuschließen. Und war schon wieder bei Woitolla, der sich als Versager bezeichnet hatte. Muß ich jetzt immer daran denken, wenn ich ihn sehe? Und mich fragen, ob ich ebenfalls versage? Ja, müßte ich jetzt nicht Schallenberg auffliegen lassen? Ich habe ihn in der Hand, ganz klar. Er hat sich als konspirativ tätig verraten. So einem Anwalt muß das Handwerk gelegt werden. Ja, aber er ist der beste Anwalt, den Renate finden konnte. Ein Meister seines Fachs und ein Naturtalent in der Kunst, alles zu verdrehen. Ihr diesen Anwalt nehmen? Nein.

Die Richterin ließ den Protokollzettel in der untersten Schublade verschwinden. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, Meldung zu machen, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. So hatte sie nun zu ihren Zweifeln, ob sie eine Versagerin sei, auch noch mit der Frage fertigzuwerden, ob sie überhaupt noch neutral sei. Als Richterin stehe ich weder auf der einen noch auf der anderen Seite, habe ich gegenüber Schallenberg aufgetrumpft. Jetzt muß ich mir einreden, daß ich mich gerade mit der Unkorrektheit, die vorgeschriebene Meldung zu unterlassen, als neutral erweise. Gerade damit. Weil es nicht an mir liegen soll, daß Renate Hobbes gut wegkommt, sondern an ihrem guten Anwalt. Und dieser Schallenberg ist der einzige Anwalt weit und breit, der es schaffen könnte, sie herauszuhauen aus dem Schlamassel, in den sie sich gebracht hat. Mit offenen Augen und in voller Absicht. Mein Gott, ja: dolus directus. Und ich kann nicht einmal sagen: unnötigerweise. Weiß ich doch, warum sie getan hat, was man ihr jetzt vorwirft. Unsere Kleine-Mädchen-Träumereien. Damit bin ich praktisch mitschuldig geworden. Denn was beinahe wie eine Wette war, eine Lebenswette – die den tolleren Mann kriegt, ist die Siegerin –, das hat sie dahin gebracht, wo sie jetzt ist. Und mich dahin, wo ich jetzt bin. Und genau das bringt uns beide demnächst im großen Saal des Kammergerichts von Berlin zusammen. Ja, – aber daß unsere Lebenswege so wieder zusammenfinden könnten, wer konnte das ahnen.

Sie bekam die Akte Renate Hobbes nicht mehr vom Tisch. Sie las darin und suchte und suchte, als ob es um ihr eigenes Leben ginge. Und irgendwie tat es das ja auch. Beihilfe zur Entführung und Ermordung des Unternehmers Alex Heuchemer, so nannte die Staatsanwaltschaft das, was in den Flugblättern der Clique hieß: Gefangennahme und Hinrichtung eines Volkschädlings. Das auf einen Nenner zu bringen, das wird die Aufgabe von Manfred Schallenberg sein. Die Beklagte hat sich nicht zu den Tatvorwürfen geäußert. Typisch. Sie wird sich auch während des Prozesses mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht dazu äußern. Das entspricht ihrer sturkonsequenten Art.

Tage des Terrors. Tatsachenroman

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