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Internat

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Nicht nur die Schule, auch das Internat durchlebte eine chaotische Anfangsphase [5]. Wer da eigentlich das Sagen hatte, war zumindest für uns kleine Schüler nicht erkennbar. Die Autorität der Erzieher war auf die jeweilige Abteilung beschränkt, für die sie zuständig waren. Als Gruppe nahm man die Erzieher nicht wahr, und der schon erwähnte Herr Gleuwitz ließ keine Führungsabsichten erkennen. Die klaffende Lücke versuchten einige ehemalige Misdroyer auszufüllen, allen voran Claus v.d. Lancken, der über eine natürliche Autorität – und ein markiges Organ – verfügte. Die Einteilung in Abteilungen und die Organisation des Tagesablaufs mit einer Reihe von Appellen, das, so wurde uns gesagt, sei original Misdroy – für uns so etwas wie der heilige Gral. Dass das reichlich militärisch war, hat uns damals nicht gestört. Eher schon das Gehabe der Mitglieder des sogenannten Kapitels, einer Art Unteroffiziers-Chor, zumeist „Primaner“, die uns kommandierten und mit Vorliebe zünftig schliffen. Der harmloseste Befehl lautete: „einmal um die Baracke“. Ganz Clevere nahmen dabei eine Abkürzung, indem sie gleich hinter der Ecke durch ein Fenster kletterten, über den Flur rannten und drüben durch ein Fenster wieder ausstiegen. Nachhaltiger war der „große Maskenball“. Einer wurde mit unserer Abteilung wegen eines angeblichen Kameradendiebstahls zelebriert. Wir wurden durch das Gelände gescheucht, laufen, hüpfen, robben, mussten uns so oft umziehen –Turnhose, Sonntangsanzug, etc. – bis alle Klamotten in heillosem Durcheinander herumlagen. Immer wieder rauf auf die Bude, runter auf den Hof, antreten, Kniebeugen, Liegestütze, wohl zwei Stunden lang, bis die ersten umfielen. Zum Schluss Spindappell, alle Kleidungsstücke auf Ecke und zwei Kanten. Niemand meldete sich als Täter – vielleicht beruhte das Ganze auf einem Irrtum; die Mängel in der Ernährung ließen solche Strapazen als unangebracht erscheinen.

Und in der Tat: der größte Schwachpunkt des Internates in der Startphase war die Verpflegung oder genauer gesagt, das nahezu vollständige Fehlen einer solchen. Wir litten echt Hunger; „Kohldampf schieben“ nannte man das. Morgens gab es eine Art Milchsuppe, eher weiß gefärbtes Wasser, in dem vereinzelte Haferflocken trudelten. Mittags eine Gemüsemahlzeit, leicht koloriertes Wasser in dem entweder einige Kohlblätter oder die eine oder andere Saubohne schwammen. Manchmal Pellkartoffeln, zum Teil schon angefault. Und Rote Beete; damit kann man mich noch heute jagen. Ausnahme: Labskaus! Abends Muscheln; auch deren Geruch verfolgt mich noch heute. Oft gab es Fisch, meist geräucherte Schollen. Andere Fische ließen sich offenbar mit der „Brill“, einem aus Schweden gecharterten Fischkutter, nicht fangen. Einzig die Pausebrote, die es als Zwischenmahlzeit gab, waren ganz ordentlich. Sie wurden von unsichtbaren fleißigen Händen im Keller des Hauses Nordmark geschmiert. Lange Zeit aus Maismehl gebacken. Das neigte zum Krümeln, zwang aber dazu, die Scheiben dicker zu schneiden – wogegen wir nichts einzuwenden hatten. In der Not bildeten wir sogenannte Fressgemeinschaften, FGs: der eine hatte Lebensmittelmarken, der andere etwas Geld. Damit ging es in die „Rote Heide“, das Lokal auf der anderen Straßenseite. Da bekam man dann einen Teller Suppe, meist aus geriebenen rohen Kartoffeln. Sie schmeckte erbärmlich und hielt nicht lange vor. Wer Glück hatte, bekam auch mal ein Fresspaket – ich so gut wie nie. Natürlich musste dann abgegeben werden; bis alle etwas bekommen hatten, war der Karton leer. Dennoch kam es immer wieder vor, dass jemand Lebensmittel eines Päckchens vergammeln ließ, Kühlschränke waren unbekannt. Das galt als schweres Vergehen und wurde mit Budenverschiss bestraft.

Ruhender Pol im Internat war Schwester Edith v. Roth, kurz „Schwedith“ gerufen. Eine eindrucksvolle Frau! Hager und behände, schlohweißes Haar, nie ruhend, immer guter Laune, immer in Tracht, mit Häubchen. Und sie sprach ein herrliches Baltisch, das ich noch heute im Ohr habe: „neeein hööör …“. In ihrer Ambulanz trafen sich nach dem Abendbrot die zahlreichen Invaliden zur Behandlung. Wunden heilten damals nur zögerlich, wohl wegen der schlechten Ernährung, auch Furunkel hielten sich hartnäckig. Mich erwischte die Krätze. Mein Vater, der neben seiner Tätigkeit als Landarbeiter Vertreter einer Firma für Tiermedikamente war, besorgte eine große Dose nach Schwefel riechender gelblicher Salbe. Mit der rieb mich Schwedith mehrmals von oben bis und unten ein. Es brannte fürchterlich, aber es half, und eines Tages war ich die Krätze los. Schwester Edith hatte eine schöne Stimme, Mezzosopran, und sie sang gerne und laut, meist ohne Text: „no no no ...“, so wie das schwedische a mit dem Kringel drüber, während sie im Haus unterwegs war. So war sie immer leicht zu orten.

In dieser Zeit hielt uns die Hoffnung aufrecht, dass Pastor Lohmann bald kommen und die Leitung des Internates übernehmen würde. Eine Stimmung wie in „Warten auf Godot“. Als ich sehr viel später das Stück von Samuel Becket auf der Bühne sah, drängte sich mir diese Assoziation auf. Aber, im Gegensatz zu Godot erschien Pastor Hans Lohmann tatsächlich. Im August 1946 war es so weit; eines Tages stand er vor uns: Ein Hühne von Kerl, fast zwei Meter groß, in der abgewetzten Uniform eines Luftwaffenoffiziers, mit Brötchenhaarschnitt. Kein Zweifel, von da an wusste jeder, „wo es lang ging“. Eine seiner ersten Amtshandlungen: er setzte Koch Stingl ab. Ich sehe noch, wie der dicke kleine Mann hinter dem Tresen puterrot anlief, als Pastor Lohmann seine Ablösung bekannt gab und mitteilte, dass ab sofort Mutti Agthe die Küche übernommen habe. Von dem Tag an gab es ein zwar einfaches, aber gut gekochtes und reichliches Essen. Das Wort „Kohldampf“ konnte aus dem Wortschatz gestrichen werden. Auch Mutti Agthe, die Mutter unseres Kameraden Franz, war eine reizende Frau: winzig klein und zierlich, schlohweißes Haar, immer liebenswürdig, silberhelle Stimme, reinstes Baltisch. Man konnte sich schwer vorstellen, wie sie mit den voluminösen Töpfen der Großküche hantieren würde. Aber, sie packte es. Und sie brachte es fertig, sich schon in der „wilden Zeit“ ein Häuschen zu bauen, in Wyk, am Südstrand, das sie mit Sohn Franz bewohnte und wohl auch als Ferienwohnung vermietete.

Pastor Lohmann, der auch schon das Internat in Misdroy geleitet hatte, war ein ganz ungewöhnlicher Mann: hochmusikalisch, spielte phantastisch Geige und Klavier, er war ein großartiger Erzähler, nicht nur als Pfarrer, und er war ein guter Sportler. Lohmann, kurz der „Papst“ genannt – unter dem Einfluss der „Amerikaner“ auch „Boss“ – verfügte über eine uneingeschränkte Autorität, die leider mitunter in übertriebener Strenge ausartete. Die Tracht Prügel „mit dem Kleiderbügel“ war gefürchtet – und sie hat ihm später schwer geschadet.

Unser Nachbar: das Schöneberger Krankenhaus

Unter Lohmanns Leitung lief der Internatsbetrieb zunächst weiter, wie gehabt: „Misdroy“ eben. Aber nach und nach zog der Papst die Zügel an. Der Strafpunkt wurde eingeführt. Für alle möglichen „Vergehen“ bekam man – von den Erziehern und den Mitgliedern des Kapitels – einen Strafpunkt, den man beim mittäglichen Appell zu melden hatte. Er wurde in das Dienstbuch eingetragen. Fing man innerhalb einer Woche zwei davon ein, so wurde man auf dem Konvent – Sonnabends nach dem Mittagessen – „öffentlich genannt“. Passierte einem das zweimal innerhalb eines Semesters, so musste man in den Ferien einen Tag länger da bleiben und Arbeitsdienst verrichten nach dem Motto: „vormittags Acker, nachmittags Feld“. Das Internat bereederte ja nicht nur einen Fischkutter, sondern betrieb auch eine Landwirtschaft: Kartoffeln und rote Beete!

Immer wieder ließen sich Mitgliedern des Kapitels dazu verleiten, ihre Macht zu missbrauchen. Ich erinnere mit an einen offen ausgetragenen Konflikt, bei dem wir Handgreiflichkeiten nahe waren. Es ging aber auch ohne. An einen unserer Peiniger, der es besonders toll trieb und der uns mit gern zynischem Grinsen schikanierte, wollten wir uns rächen – und das ging leider gründlich schief. Der gute Mann, sein Name ist mir entfallen, hatte Abenddienst. Wir konstruierten einen Mechanismus, der aus einer braun emaillierten Schüssel bestand, wie sie in der Nachkriegszeit in großen Stückzahlen aus Stahlhelmen gepresst wurden. Mit einer Ring- und einer Henkelschnur wurde diese, gut gefüllt mit kaltem Wasser, über der Tür zu unserem Zimmer aufgehängt und mittels einer Schnur mit der Tür verbunden. Als der Typ den Flur entlang kam, hängten wir die Schnur ein. Und dann geschah das Unfassbare: Kurz vor ihm trat der Papst aus seinem am gleichen Flur gelegenen Zimmer und ging auf unsere Bude zu. Wir erstarrten; keiner war noch in der Lage, die Schnur auszuhängen. Der Papst öffnete die Tür, und die Schüssel tat, wofür sie konstruiert war: Sie drehte sich um, ergoss das Wasser über den Papst, löste sich aus der Ringschnur, fiel auf seinen Kopf, wo sie wie ein Stahlhelm zur Ruhe kam. „Wer war das?“, so der Papst, als er wieder zu Luft kam. „Wir alle“ unsere Antwort. Mit einem „ihr werdet sehn“ drehte er sich um und zog ab. Und der ungeliebte Abenddienst hat sich wohl noch nie in seinem Leben so hämisch über sein Glück gefreut; wenigstens diesmal ließ er uns in Ruhe. Nachts wurden wir von Mitgliedern des Kapitels geweckt; die kamen in der Absicht, uns zu verprügeln. Wir wehrten uns, erfolgreich wohl deshalb, weil sich diese Kerle sich das Lachen kaum verkneifen konnten. Das Ereignis ging als des Papstes „Schüssel“-Erlebnis in die Internatschronik ein.

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