Читать книгу Sindbad - Wolf-Heinrich Hucho - Страница 7
3 Carl-Hunnius-Internat in Wyk auf Föhr
ОглавлениеWie wir – mein Vater und ich – mit dem schweren Koffer zum Bahnhof gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Wohl zu Fuß, Taxi gab’s nicht. Der Weg vom Hörnhof zum Bahnhof Friedrichstadt, Trifft und Treenedeich, zog sich. Gerade, dass wir den Zug noch erwischten, der uns nach Nibüll bringen sollte. Der schnaufte dann durch flaches Land, von Gräben durchzogene Marsch, hier und da ein Windrad, vom ständigen Wind schräg gepustete Bäume. Über Husum, die „graue Stadt am Meer“, die im Sonnenschein lag, und über zahlreiche laut ausgerufene Käffer ging es nach Niebüll. Im Schatten riesiger Getreidesilos stiegen wir dort in die Kleinbahn um, Richtung Dagebüll, genauer Dagebüll Hafen, dem Anleger der Fähre nach Wyk. Nach einer halben Stunde Fahrt, auf der wir vier, fünfmal anhielten, erreichten wir unser Ziel, ein, zwei Häuser, sonst nichts, von einem Hafen keine Spur. Doch die Reise war noch nicht zu ende: Durch das Deichtor rumpelte die Bahn auf einen hölzernen Steg, den Anleger. Die Luft roch nach Salz, das Meer stahlgrau. Am Horizont ein schwacher Strich; das musste die Insel Föhr sein. Mir wurde leicht mulmig.
Das Internat, Haus „Nordmark“
Kein Dampfer zu sehen, wir gingen in das Gasthaus, das sich an den hohen Deich anlehnte. Auf dem Tresen eine Sparbüchse in Form eines Rettungsbootes, schwarz-weiß, ein eisernes Kreuz darauf, Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Vater trank einen Grog, ich bekam eine Limo. Schließlich kam ein Schiff in Sicht; langsam näherte es sich dem Anleger. Ein alter Kahn mit hoher Back und noch höherem Schornstein, „Uthlande“, ein merkwürdiger, fremd klingender Name – als Sachse hatte ich mit dem Plattdeutschen noch keine Freundschaft geschlossen. Über einen schwingenden Steg – erst viel später lernte ich, dass das eine “Gangway“ sei – gingen wir an Bord und machten es uns im Salon gemütlich. Nach dem „Leinenlos“ ging ich an Deck. Langsam nahmen wir Fahrt auf; eine frische Briese blies einem etwas Gischt ins Gesicht. Merkwürdig, der Kurs, den der Kapitän gewählt hatte, ging nicht direkt auf die Insel zu. Im großen Bogen steuerte er um eine für mich unsichtbare Untiefe herum. „Dat is de Preesterbank“, erklärte mir ein vierschrötiger Matrose.
Achteraus das Festland, je kleiner es wurde, desto mehr stieg ein flaues Gefühl in mir hoch. Nach einer knappen Stunde erreichten wir den Wyker Hafen. Zwei Reihen Fischkutter drängten sich in dem engen Becken; ein rostiger Rumpf lag auf einer Schräge am Land, auf einer Helling, und ein paar Boote im Schlick. Am Hafen boten Männer mit Handkarren ihre Dienste an. Vater engagierte einen, und wir machten uns auf den Weg zum Südstrand, zur Gmelinstraße, dem Standort des Internates. Dort angekommen ging alles ganz schnell. Vater meldete mich im Büro an; ein Schüler führte uns in den zweiten Stock zur Bude der Abteilung 46, in die ich aufgenommen wurde. Ein großer heller Raum, vollgestellt mit Doppelbetten, riesige Fenster, mit Blick aufs Meer. Ein Tisch in der Mitte, um den herum ein paar Jungs saßen, die gerade dabei waren, aus Pappe ein Schiff zu bauen. Es roch nach Uhu-Kleber. Das machte mir Mut. Mein Vater verabschiedete sich, musste er sich doch sputen, um den Dampfer zu erwischen, der ihn mit der gleichen Flut zurück zum Festland bringen sollte.
Da stand ich nun. Meine neuen Kameraden zeigten mir meinen Spind und mein Bett – untere Etage – und ließen mich wissen, dass ich in der ersten Nacht zünftig gekippt würde. Ich sah meine schöne weiße Bettwäsche im grauen Schmutz des Fußbodens liegen; mein Herz sackte in die Hosentasche. „Ein Neuer, ein Neuer“ tönte es durch das Haus; viele kamen, um mich zu besichtigen. Einer half mir, meinen Spind einzuräumen, die Wäsche auf Ecke und zwei Kanten, das Bett zu beziehen und zeigte mir mein Fach im Waschraum, winzig, mit Haken für Waschlappen und Handtuch. Und während ich danach etwas verloren herumstand, kam unsere Erzieherin, Fräulein Siegrid von Focht, die Föchtin genannt, um mich zu begrüßen. Eine kleine etwas rundliche Dame, die in einem merkwürdigen Tonfall sprach, „baltisch“, der mich in den nächsten Jahren ständig begleiten sollte, sehr freundlich, aber, wie man mir zuflüsterte, sie könne auch streng sein und sogar richtig giftig werden – den Ausdruck „zickig“ gebrauchte man damals noch nicht.
Olhörn, „Ecke“ zum Südstrand
Kaum dass mein Vater sich verabschiedet hatte, überfiel mich das große Heimweh. Ich kam mir völlig verlassen vor, und ich fing an zu heulen. Und nach Erinnerung einiger „Alter und „Altinnen“, die ich zum 50. Jubiläum unserer Konfirmation in der Boldixumer Kirche traf, habe ich damit erst zu Beginn der Sommerferien wieder aufgehört. Ganz so schlimm kann es kaum gewesen sein. Aber, tatsächlich rollten bei jeder Kleinigkeit dicke Tränen. Ich benötigte das ganze erste Semester, bis zu den großen Ferien, um mich von dieser Schwäche zu befreien.
Plötzlich ertönte eine Glocke, aus allen Buden rannten die Jungs wie wild nach unten auf den Hof. Eine kräftige Stimme ertönte: „dummes Volk, trabt an, trabt an“; Claus von der Lancken, der Primus, ein kerniger Typ, Gutsherrensohn aus Pommern. Abendappell, abteilungsweise antreten, der Größe nach, ich als Kleinster ganz hinten. Vor uns, vor einer hohen Brandmauer, ein paar Stufen höher, stand ein älterer Schüler, der „Große Dienst“, nahm Meldungen entgegen, machte einige Ansagen und ließ uns in geschlossener Formation zum Abendessen abrücken. Das fand, wie alle Mahlzeiten, in Räumen des Nordseesanatoriums statt, einem wuchtigen, verwinkelten Gebäude etwa 200 m vom Internatsgelände entfernt. Unseren Esssaal erreichten wir durch einen Hintereingang, vorbei an einer riesigen Küche, in der es entsetzlich roch, nach Abspülen, nicht nach Essen.
Kleiner Bauernhof in Hedehusum
Im Saal Tisch an Tisch, jeweils für sechs Leute, am Kopf ein Erzieher oder irgendwer vom Personal. Einer hatte Tischdienst und fasste Essen. Da niemand Kellner gelernt hatte immer nur zwei Teller, dann wieder anstellen, das dauerte. Gegessen wurde erst, wenn alle versorgt waren. Das erste Mal gab’s eine wässrige Suppe, in der eine paar große, braune Bohnen – Saubohnen, heute eine Delikatesse – herumirrten; einige Kohlblätter dazu. Einmal nachfassen war erlaubt, aber erst, wenn es angesagt wurde.
An einem Ende des Saals der Tisch der Prominenten: Direktor Hunnius, der Namenspatron der Schule, in würdigem Alter aber wohl kaum noch aktiv, zusammen mit seiner Frau; der kommissarische Internatsleiter, ein Herr Gleuwitz, der schrecklich hinkte und von den Zöglingen gnadenlos Hans Hukebein genannt wurde. Der richtige Internatsleiter, so hieß es, solle bald kommen: Pastor Hans Lohmann, Papst genannt, der schon das Internat in Misdroy geleitet hatte. Er befand sich noch in norwegischer Kriegsgefangenschaft, sollte aber bald entlassen werden. Dann würden wir alle auf Vordermann gebracht. – Mir reichte es so schon.
Nach einer Weile ertönte Getrappel: die Mädchen rückten ein. Um ihren Saal zu erreichen, mussten sie den unsrigen queren. Das taten sie ganz locker, keineswegs auf Vordermann. Am Schluss eine freundlich dreinschauende, zierliche Dame, Fräulein Annemarie Heyden, die Leiterin des Mädcheninternates, mit dem wir in irgendeiner Form verbandelt waren.
Abteilung 46 mit Schwester Edith v. Roth und Pastor Lohmann
Das Essen wurde gemeinsam beendet, später, unter dem „Papst“, abends mit einem Lied, einem Kanon: „Herr bleibe bei uns , denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget“. Zurück zum Internat, jeder für sich. Ich sah mich auf dem Gelände um. Das große Haus, in dem ich wohnte, war als „Norseepädagogium“ in einem merkwürdigen Stil erbaut; kaum ein rechter Winkel. Jugendstil nannte man das. Nie gehört. Hinter dem Haus zwei große Baracken, Typ Luftwaffe. In der einen wohnten die älteren Schüler und eine Lehrerfamilie namens Flach, der Vater „Hoyer“ genannt – oder auch „Heuer“; ganz hinten ein paar Klassenräume. Und die andere Baracke beherbergte die Schule. Breiter knarrender Flur, vorn links das Lehrerzimmer, rechts und links die Klassenzimmer. Keine Klos; die waren in einem separaten Toilettenhäuschen untergebracht – Klozellen ohne Türen – in dem es erbärmlich stank.
Die drei Gebäude in einem großen, verwilderten Park mit hohen Bäumen, der sich bis an den Strandweg erstreckte. Über einen kleinen Abhang war die Strandmauer zu erreichen; ein wunderschöner weißer Sandstrand, alle 100 m eine Buhne. Am Horizont eine Insel, die Hallig „Langeness“, lang gestreckt, mit einigen Warften.
Haus Nordmark
Um 8 Uhr noch mal Appell, abteilungsweise in zwei Reihen auf dem engen Flur antreten, abzählen. Im Lauf der Zeit lernten wir, durch „Verschiebung“ der hinteren gegen die vordere Reihe ein oder zwei Mann, die fehlten, herauszuschinden, ohne dass der Abenddienst das merkte. Nach dem Waschen Kontrollgang. Wehe, wenn ein Spind nicht vorschriftsmäßig aufgeräumt, das „Päckchen“ mit den Klamotten nicht rechtwinklig gebaut war. Dann gab es Strafen. Anfangs eher „militärische“: Der Spind wurde vornüber gekippt, bis der Inhalt herausflog, und der wurde dann mit einem Fußtritt verteilt. Später ging es ziviler zu, bürokratischer, es gab Strafpunkte. Der Abenddienst verließ das Zimmer mit dem Kommando Lichtaus. Und jetzt, so allein mit mir selbst, beschlich mich das Heimweh, wurde übermächtig. Ich bemühte mich, nur leise zu schluchzen, aber einige hatten es doch gehört, und ich wurde aufgezogen – wodurch das Heimweh weiter angefacht wurde.
Nach der Zahl der Betten in unserer Bude muss die Abteilung 46 – die Nummer wies auf das Jahr unseres Eintritts in die Oberschule hin – damals 12 oder 14 Mann stark gewesen sein. Nach mir kamen dann aber noch einige dazu, so dass wir wohl auf 20 kamen. Wer wann gekommen ist, das weiß ich nicht mehr. Einige der „Männer der ersten Stunde“ kommen mir in den Sinn, andere erst bei späteren Ereignissen. Zu vorderst Eckart v. Schwerin, unser Leitstier. Er stammte von einem Gut in Pommern, das den Namen „Iven“ trug – weshalb er und seine beiden größeren Brüder die „Ivans“ genannt wurden. Eckart war der ruhende Pol unserer virulenten Truppe. Wenn er von etwas überrascht wurde, pflegte er „oh John“ zu sagen, und damit war ihm sein Spitznahme sicher. An ihn lehnte ich mich an. Für ihn, der zwei große Brüder hatte, war ich so etwas wie der kleine Bruder; von ihm erhielt ich so manchen Tipp. Dann Michael Radmann, der den Spitznamen „Matzel“ einfing; auch er von einem Gut in Pommern. Er erzählte viel von seinen Erlebnissen unmittelbar nach dem Krieg. Sein Vater hatte sich nicht zum Trecken entschließen können. Das Gut wurde von den Russen eingenommen und später von marodierenden Polen besetzt. Die haben seinen Vater krankenhausreif geschlagen und verschleppt; erst nach Jahren entließen sie ihn, als ein menschliches Wrack. Matzel war ein echter Sportscrack. Um, wie er selbst zugab, den Mädchen zu imponieren, trotzte er sich beachtliche Leistungen ab; auf der 1000 m-Strecke war er nicht zu schlagen. Und dann seine Rolle als Torwart, erst im Handball, später im Fußball. Seine Paraden waren traumhaft schön. Auch wenn sie nicht immer erfolgreich waren, die Mädchen waren hingerissen. Weniger gut lief es für ihn in der Schule. Sein Großvater, der in Hamburg mit Südfrüchten handelte, nahm ihn schon vor der mittleren Reife in die Lehre. Später habe ich ihn einmal in seinem Hamburger Büro besucht; für mich eine ganz fremde Welt. Danach haben wir uns aus den Augen verloren.
Kolorierte Zeichnung, Franz Agthe
Zu den Stillen im Lande gehörte Franz Agthe, von seiner Mutter – ihr Loblied wird noch zu singen sein – liebevoll „Tschuppi“ oder „Pantsching“ genannt, von uns dagegen „Drodal“, weil er mitunter etwas verschlief. In unserer rauhen, ja ruppigen Gesellschaft hat er sich nicht leicht getan; Sport war nicht sein Fall und Fußball schon gar nicht. Dafür war Franz ein begnadeter Zeichner. Eine Reihe von Jahren saßen wir nebeneinander in einer Schulbank, und ich habe viel von seinem Können profitiert. Mit unserem ständigen Kritzeln haben wir die Lehrer zur Verzweiflung gebracht. Franz hat Architektur studiert, in Braunschweig, aber wir sind uns in der TH nie begegnet. Er arbeitete dann dort im städtischen Bauamt und hat mit dazu beigetragen, dass diese vom Krieg verwüstete Stadt wieder so schön geworden ist. Zu den Stillen gehörte auch Martin Gaebel. Auch er Flüchtling, aus Posen, mit einem innigen Zorn auf die Polen, über die er ein fetziges Gedicht verfasst hatte: „Der Polack“. Leider bekomme ich den Text nicht mehr zusammen. Sicher besser so; er würde nicht mehr in die heutige Zeit passen. Schon damals galt Martins Interesse der Technik. Mangels Hardware spielte sich diese in der Theorie ab, oft auch in seiner Fantasie. Immer wieder äußerte er Ideen, die wir nicht kapierten und verständnislos mit Kopfschütteln quittierten. Als ich ihn nach Jahren wiedertraf, war er Chefpilot der Lufthansa. Bald darauf wurde er sogar in den Vorstand dieses noblen Unternehmens berufen, was ihn nicht daran hinderte, weiterzufliegen. So hat er nach Ablauf seines Vorstandsmandates bis zur Altersgrenze als Pilot Dienst getan. Leider hatte ich bei all meiner Vielfliegerei nie das Vergnügen, von ihm geflogen zu werden.
Mit mehreren Hammerschlägen auf eine alte Boje, die auf dem Hof an einem knorrigen Baum aufgehängt war, wurden wir geweckt. Und schon stand der Abteilungsleiter, eine älterer Schüler, mit der Trillerpfeife in der Tür und scheuchte uns aus den Kojen. Laken glatt ziehen und antreten zum Morgenlauf, Turnhose, freier Oberkörper, Turnschuhe – so vorhanden, sonst barfuß. Im schnellen Trab ging es durch den Park zum Strandweg, dann am Strand entlang, durch einen engen Gang zwischen zwei Grundstücken – wegen seiner Düfte „Miefgang“ genannt – bis zur Gmelinstraße und von dort im Endspurt zurück zum Internat, etwa 800 m, später mehr, so 1000 m. Und ab zum Waschen. Zum Frühstück wieder großer Appell auf dem Hof, Abmarsch zum Esssaal, wie gehabt. Das Frühstück, eine undefinierbare Suppe. Um 8 Uhr begann die Schule.