Читать книгу Sindbad - Wolf-Heinrich Hucho - Страница 12
Sport
ОглавлениеEin wesentliches Element des Internatslebens bildete der Sport. König Fußball brauchte einige Zeit, um sich durchzusetzen, blieb dann aber unangefochten der Liebling aller – nein, das wäre zu viel gesagt, besser: der meisten. Die anderen Sportarten kamen wie Wellen, wie Tsunamis, über das Internat, rollten an, steilten sich auf, überschlugen sich und klangen dann schnell wieder ab. Die erste Welle bildete das Tischtennis; es breitete sich wie eine Epidemie aus. Erstaunliche Talente kamen zum Vorschein. Erinnern kann ich mich an die Zwillinge von zur Mühlen; Bengt war der Superstar. Er stand weit hinter der Platte und schaufelte die Bälle stark angeschnitten empor. Höhepunkte bildeten die Turniere gegen die Doktoren der benachbarten Klinik „Schöneberg“, auch bei denen große Könner.
Das alles überragende Problem der Tischtennis-Ära stellten jedoch die Bälle dar. Ein einziger dieser Kunststoffwinzlinge war zeitweilig ein ganzes Brot wert! Und die Bälle hielten nicht lange; immer wieder bildeten sich Risse. Deren Behandlung, das Flicken, entwickelte sich zu einer hohen Kunst. Absoluter Spitzenkönner war Harro Wittlich, Sohn unseres Lehrers. In seinem Zimmer im Haus Karl roch es immer nach Aceton, und das zum Flicken benötigte Material gewann Harro, in dem er Ballfragmente mit einer Nagelfeile zu feinkörnigem Pulver granulierte. Die in seiner Klinik geheilten Bälle waren zwar nicht mehr turniertauglich, aber für einfache Spieler wie mich mussten sie genügen. Sie eierten, und immer wieder kam es vor, dass ein geflickter Ball, die Stoßgesetze scheinbar ignorierend, in einer Richtung davonsprang, die vom Spieler nicht vorgesehen war.
Mit Henning Stormer
Parallel dazu rollte die Handballwelle. Handball auf dem großen Feld, das kostete Puste. Hier waren natürlich die großen Im Vorteil, die Primaner. Deren Lieblingsgegner war die Mannschaft Wyk II; trotz großem Einsatz konnte sie nicht geschlagen werden. Wir kleinen versuchten mitzuhalten. Ich war immer linker Läufer, ein langweiliger Posten. Selten bekam ich den Ball; Tore habe ich nie geschossen. Unser Star war Matzel; als Torwart zeigte er wundervolle Paraden, und manchmal erwischte er tatsächlich einen schwierigen Ball. Seine Tagesform hing davon ab, ob genügend Mädchen am Spielfeldrand waren – und vor allem die „richtigen“ oder die „richtige“ – nur, welche war das gerade? Nach den gleichen Regeln des Handballs spielten wir auch Korbball, auf unserem kleinen Platz. Die Primaner hatten Körbe errichtet, aus meiner Perspektive unendlich weit oben. Meist wurde ich als Korbwart eingeteilt; wie ich die mir nie beschriebene Aufgabe, den Korb zu warten, erfüllen sollte, blieb mir unklar. Körbe wurden ohnehin selten erzielt; meist prallte der Ball, ein Handball, donnernd von der Platte ab. Dirk Nowitzki war noch nicht geboren.
Und dann ging es mit dem Fußball los. Zuerst barfuß, mit einem Tennisball. So manch angeknackter großer Zeh musste von Schwedith bandagiert werden. Dann 1948, nach der Währungsreform, gab es endlich Bälle, später auch Fußballschuhe. Wiederum die Primaner bauten auf unserem kleinen Platz Tore auf. Einen Pfosten gab der „Mast“ vom Korb her; der andere und die Latte wurden aus Schellholz gezimmert. Erstaunlich, wie lange diese Hilfskonstruktion überdauerte. Von da an wurde in jeder freien Stunde gekickt. Die Mannschaften wurden durch Wählen gebildet; jeder, der gerade da war, konnte mitmachen. Gekämpft wurde mit großem Einsatz. Und war gerade einmal keiner von der „Stars“ dabei, vor allem Matzel und Käse – auch Men genannt – dann kam auch ich endlich zum Zug, als Stürmer oder im Tor. Waren sie da, dann mussten immer diese Asse angespielt werden. Vor allem Käse forderte seinen Tribut. Hatte er den Ball, dann wuchtete er ihn ins gegnerische Tor und trabte mit zur Schau getragener Befriedigung zur Mittellinie zurück. Mit Fußball hatte das alles nicht viel zu tun. Daran konnten auch einige echte Talente in unseren Reihen nicht viel ändern: Michel Voigt – Michael Ballack, der langjährige Kapitän der Deutschen Fußball-Nationalelf, erinnerte mich an ihn, wegen seiner Locken und wegen des raumgreifenden Spiels – und Henning Stormer, „Stormi“, sie hätten es einem Verein sicher zu etwas gebracht.
Höhepunkt im Fußball war das wöchentliche Sonntagsspiel, gleich nach dem Sing-Sang. Wir, die 46er, waren unangefochten Meister, schlugen alle Abteilungen über und unter uns. Aber einmal hat es auch uns erwischt: da haben uns die kleinen Jungs von der 47 mit 6:1 vom Platz gefegt. Ein Phänomen, das sich selbst im Profifußball immer wieder mal ereignet und diese Sportart so spannend macht. Eine Supermannschaft, die fast jedes Spiel gewinnt, „zerfällt“ und bekommt eine ordentliche Packung. Uns hat die gut getan. Unseren größten Erfolg erzielten wir auf dem großen Feld gegen die 45er; wir gewannen gegen die doch reichlich viel größeren mit 2:0. Ganz wesentlichen Anteil an diesem Sieg hatte unser größter, Hans Adolf Deußen, „Düse“ genannt, auch „Leuchtturm“, ein Hühne von Kerl. Er war ein phänomenaler Linksaußen, gab von der Eckfahne Bilderbuchflanken herein; wer sie schließlich ins Netz beförderte, weiß ich nicht mehr.
Das schöne Spiel gegen die 45er machte unserem Trainer, Gebhardt Skowronski, kurz „Geffi“, Mut, es mit dem HSV zu versuchen. Dessen Schülermannschaft hatte gerade eine Reihe von Meistertiteln errungen, das war im Sommer 1949. Und er erhielt eine Zusage! Von da an haben wir wie die Wilden trainiert. Laufen, Dribbeln, Umspielen, Ball annehmen, Abspielen. An Alles hatte Geffi gedacht, nur die Taktik, die hatte er vergessen – sie kam auf unserem kleinen Bolzplatz ohnehin nicht vor – und an diesem Versäumnis sind wir schließlich gescheitert. Das HSV-Spiel wurde so terminiert, dass wir die Reise nach Hamburg mit der in die großen Ferien verbinden konnten. An die lange Bahnfahrt – sonst konnte ich ja schon in Friedrichstadt aussteigen – kann ich mich noch gut erinnern.
2 : 0 gegen die Abteilung 45, Trainer „Geffi“ Skowronski
Schleswig Holstein zeigte sich von seiner besten Seite: blauer Himmel, weiße Wolken. Und die Koppeln voller Pferde, echte Holsteiner, stämmige Kaltblüter, braunes Fell, blonde Mähne. Als wir in Hamburg ankamen, war ich schon ziemlich müde. Auf einer Hochbahnstation trafen wir Michel; der hatte bei seinen Hamburger Freunden Fußballschuhe eingesammelt – wir spielten damals noch in „zivilen“ Stiefeln – die er an uns verteilte. Die „meinen“ waren mir mindestens eine Nummer zu groß. Als Trikots dienten uns blaue Westover, auf die wir das Internatswappen, mit schwarzer Tusche auf weißen Stoff gezeichnet, genäht hatten. Turnhose schwarz? Von der Station Ochsenzoll gingen wir zum Trainingszentrum des HSV: sechs große Plätze mit gepflegtem Rasen. Und einige Betreuer, die das Spiel verfolgten und den Spielern Anweisungen zuriefen.
Dann kamen die Hamburger. Als kleinster Mann auf dem Platz Uwe Seeler, dem schon damals ein großer Ruf vorausging. Das Spiel selbst ließ sich ganz gut an; bis zur Halbzeit hatten wir nur zwei Tore kassiert, selbst aber keines erzielt. Dann aber brach es über uns herein, Uwe Seeler war nicht zu halten. Ich selbst kam mir ganz hilflos vor. Ich war es gewöhnt, den Ball immer so schnell wie möglich abzuspielen. Leider war aber selten einer von uns frei. Und anstatt nun mit dem Ball nach vorn zu stürmen, das freie Feld zu nutzen, spielte ich ihn in das Getümmel in der Mitte, wo ihn meist ein HSVler erlief und an Uwe weitergab.
Nur einmal gelang uns ein Befreiungsschlag: Henning Voigt, der jüngere Bruder von Michel, spielte den Ball nach vorn auf Henning Stormer. Der umspielte zwei verdutzte Gegner, nutzte den Raum, den die weit aufgerückten Jungs ihm ließen und schoss ein schönes Tor: 7:1 das Ergebnis. Unserem Torwart Matzel ist zu danken, dass es dabei blieb. Sagten doch die HSVler später zu ihrem Torwart: „Von dem kannst du dir eine Scheibe abschneiden“. Wir waren froh, dass wir nur einstellig verloren hatten; bedripst verließen wir den Platz und verkrümelten uns.
Wir Nichthamburger waren bei Wykern untergebracht, die in der Hansestadt zuhause waren. Ich logierte bei Jovi Sturm, dessen Familiensitz, eine schöne Villa, in Flottbeck lag. Seine Mutter – war sie Single, Kriegerwitwe ? – war sehr liebenswürdig und sehr um mich besorgt. Haus, Garten und Nachbarschaft, ein Ambiente – wie man heute sagen würde – wie im Frieden. Für einen, der als Flüchtling auf dem Hörnhof in der ehemaligen Futterküche neben dem Pferdestall wohnte, wie ein Traum. Am anderen Tag kam mein Vater mit seinem Käfer, VW 1200 Standard, flak-grau, um mich abzuholen. Er war inzwischen zum Vertreter einer alteingesessenen Hamburger Firma avanciert, Schülke & Mayr, ihr Sagrotan gibt es heute noch. Wir verbrachten einen schönen Tag in der damals noch stark vom Bombardement gezeichneten Stadt. Mittag aßen wir auf den Landungsbrücken in St. Pauli, und mein Vater kaufte mir eine Lederhose. Abends ging es ab nach Norden, zum Hörnhof, in dichtem Nebel.
Auch als wir nach den Ferien wieder in Wyk zusammenkamen, gab es keine Manöverkritik; vielmehr wurde das Spiel als freudiges Erlebnis gefeiert – was es ja denn auch war. Aber danach war der Fußball über den Berg. Es folgte eine Periode Hockey. Oskar Behrens, kurz „Otz“, einer der Hamburger „Pfeffersäcke“, hatte dieses Spiel mitgebracht und versorgte uns mit Schlägern und mit den Regeln; er spielte wohl in dem vornehmen Hamburger Club Harvestehude. Das Spiel machte uns viel Spaß, hielt sich aber nur für eine Saison. Einige wandten sich dem Tennis zu, das mir aber zu elitär war. Und mit meiner kleinen Größe hätte ich da ohnehin keine Chance gehabt.
WHH, nach dem Gedächtnis, Tusche
Apropos Größe: Die Unsitte, sich beim Antreten zu den zahlreichen Appellen der Größe nach aufzustellen, war mehr als nur formaler Natur. Sie brachte zugleich die Rangordnung zum Ausdruck, die in der jeweiligen Abteilung herrschte. Wer nicht der Größte war, hatte wenig Chance, den Leitstier zu spielen. Als ich kam, war das bei uns 46ern der schon erwähnte Eckart v. Schwerin. Er besaß eine natürliche Autorität; niemand, der ihm seine Stellung streitig gemacht hätte. Mit seinem frühen Abgang im Gefolge der Währungsreform hinterließ er ein Vakuum. Ein neuer Stier wurde gewählt. Wenn er nicht einschlug, gab es so etwas wie eine kleine, interne Revolte, und er wurde durch „konstruktives Misstrauens-Votum“ verdrängt. Am längsten hielt sich Mietens, auch „Käse“ genannt, im Sattel. „Käse“ deshalb, weil er als Neuer unentwegt zu dem Lied anhob: „Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt“. Die übrigen Strophen hatte er wohl vergessen. Ich als der kleinste hatte da keinerlei Chance. Meine Machtlosigkeit versuchte ich durch lautes Tönen auszugleichen; der Papst verlieh mir den Titel „Trompete“. Nicht nur dem Pantsching ging ich damit mächtig auf die Nerven, allen anderen auch. Der „Titel“ verdrängte auch meinen Spitznamen Hujo nicht, der mir ganz und gar nicht gefiel. Ich wurde auch nicht stiller, als mich Jochen v. Stackelberg, „Staki“ genannt, als Schlusslicht ablöste; er war einen Zentimeter kleiner als ich. Wir sahen uns viele Jahre später wieder, als er mich in einer HNO-Klinik in Erlangen besuchte. Er war Pfarrer geworden.