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2 Hörnhof in Koldenbüttel

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In Friedrichstadt angekommen wurden wir von Frau Jacobs' Schwiegersohn abgeholt. Mit einem Ackerwagen, gezogen von zwei prächtigen Holsteinern. Er, Dr. Rybiczka, hatte angenommen, wir hätten unser Gepäck dabei; das kam aber erst ein paar Tage später. Auf der etwa drei Kilometer langen Fahrt vom Bahnhof zum Hörnhof wurden wir tüchtig durchgerüttelt, ging es doch über holprige Sandwege. Der Hof lag abseits der Kreisstraße — auch die nur ein Sandweg – mit der er durch einen langen Weg, die „Trift", verbunden war. Auch die anderen Gehöfte, die zum Kirchspiel Koldenbüttel gehörten, lagen nicht im Ort sondern mitten in ihren Feldern und Wiesen, „Fennen" genannt, weit verstreut in der brettebenen Landschaft. Die Felder durch Gräben getrennt. Ein urtümlich aussehendes Windrad pumpte das nötige Wasser herbei.

Hörnhof, Tusche, WHH, 1951

Der Hörnhof war ein ansehnliches Anwesen. Das große, langgestreckte reetgedeckte hellgelbe Haus lag etwas erhöht auf einer Warft, umgeben von riesigen Bäumen, in einem großen Geviert, das von einem breiten Graben eingefasst war, die „Graft". Die immer offene breite Einfahrt war von zwei weißen Flügeln eingefasst, und die beiden Pfosten rechts und links schmückte je eine Kanonenkugel. Aus der Schlacht bei Friedrichstadt, von der ich natürlich noch nie etwas gehört hatte: wer gegen wen und wann? Auf einer kreisförmigen Auffahrt ging es zum Eingang des Hauses, der unmittelbar in die Diele führte. Dort wurden wir von Frau Jacobs, der Herrin auf dem Hof, freundlich empfangen. Eine zierliche, ältere Damen, sehr zurückhaltend. Hinzu kam Frau Rybiczka, ihre Tochter, die uns besonders herzlich begrüßte. Über sie wird noch zu erzählen sein.

Rechts von der Diele die Wohnräume der Familie, links ihr Schlafzimmer; das wurde uns als Schlafraum zugewiesen. Ein Sofa, ein Bett; hinter einem Vorhang, der ursprünglich eine Badewanne verbarg, ein Stockbett aus rohem Holz mit Strohsäcken. Insgesamt vier Schlafplätze. Mein Vater hatte einen kleinen Raum im ersten Stock bezogen. Wenn ich in den Ferien auf den Hof kam, wurde da eine „Ziehharmonika" hineingezwängt, indem das Türchen zur Abseite geöffnet wurde.

Wohnteil und Stall waren durch die Lohdiele von einander getrennt, einem hallenartigen Raum mit Lehmfußboden, der durch ein großes Scheunentor für ein ganzes Gespann mit Wagen zugängig war. Seitlich davon der lange Kuhstall, und am hinteren Ende der Pferdestall. Neben diesem, hinter der Waschküche, war die ehemalige Futterküche. Sie diente uns als Wohnküche. Ein gemauerter Herd, eine Eckbank, ein Tisch und eine kleine Kommode für das Geschirr. Alles ganz einfach, eng und behelfsmäßig. Aber, der Hof war voll von Flüchtlingen. Außer uns noch vier Familien, insgesamt wohl 12 oder gar 14 Personen, „groote Lüt und de Lütten“.

Kirche in Koldenbüttel Anfang der 1960er

Vater war als Leiter des Hörnhofs eingestellt worden. Durch Zufall war er an diese Stelle gekommen. Als er sich auf dem Arbeitsamt in Tönning — damals noch Kreisstadt für Eiderstedt — als arbeitssuchend meldete, war dort diese Stelle als offengemeldet. Der Inhaber, Herr Jacobs, war bei einem Arbeitsunfall zu Tode gekommen. So traurig das an sich war, eigentlich eine ideale Konstellation. Vater war ja Landwirt, hatte in der wilden Zeit nach dem Krieg ein ganzes Gut verwaltet; da sollte er mit einem Bauernhof wohl zurechtkommen.

Aber der Schwiegersohn von Frau Jacobs, Herr Rybiczka, promovierter Jurist, machte meinem Vater die Funktion der Chefs streitig. Der ein Österreicher wie im Bilderbuch, mit Schnurrbart und starkem Wiener Akzent. Bei Kriegsende hatte er sich aus Wien verdrückt. Verdrücken müssen,hieß es; er sei ein strammer Nazi gewesen. Auch er also ein Flüchtling, und als Jurist hatte er von der Landwirtschaft keinen Schimmer. Aber, er war halt der Schwiegersohn der Hofherrin, und diese machte keine Anstalten, sich ihm gegenüber durchzusetzen. Rybiczka, oder „Bitzki", wie wir ihn nannten, machte meinem Vater das Leben zur Hölle. Es verging kein Tag, an dem er Vater nicht beschimpfte. Er ging sogar so weit, sich zu der Anrede „Sie als angeblicher Akademiker" zu versteigen.

Ausgleichend wirkte seine Frau. Nicht, dass sie in diesen Streit eingriff, sondern vielmehr durch ihr freundliches Wesen und ihre umwerfende Fröhlichkeit. Von ihr lernte ich die ersten plattdeutschen Ausdrücke. Gern gab sie ihrem Erstaunen mit einem lauten „oh-hauer-hauer-ha" Ausdruck. Sie, eine echte friesische Schönheit, blond und gut gebaut, war eine (heimliche) Künstlerin. Sie fertigte von uns Kindern Scherenschnitte an; dazu saßen wir auf der Fensterbank in ihrem Wohnzimmer Modell.

Hafen von Tönning, Öl, Alfons Lütkoff

Anfangs wurden wir auf dem Hof eher wie Gäste behandelt. Wir aßen mit der Familie und „all‘ de Lüt" am großen Tisch, der in der Diele stand.

Mittags und abends gab es zunächst „Melksupp", verdünnte, gewärmte Milch, in der einige Haferflocken umherschwammen. Die wurde schweigend gelöffelt. Ein Gericht, das ich besonders gern aß, war der „Mehlbüdel", eine spezielle Art von Serviettenklos. Besonders gut schmeckte der, wenn der Teig mit „Biestmelk“ angerührt worden war, der Milch, die eine Kuh unmittelbar nach dem Kalben gibt. Weniger angetan war ich vom roten Mehlbüdel, der mit dem Blut eines soeben geschlachteten Schweines gefärbt wurde. Zu Sylvester waren die Eltern in die gute Stube eingeladen. Die Feier muss entsetzlich langweilig gewesen sein. Auf ihrem „Höhepunkt" wurde über den „Buschemann" gesprochen, einem unheimlichen Geist, der Haus und Hof bedrohte, und vor dem man sich allen Ernstes fürchtete.

Auf dem Hörnhof habe ich mich nie richtig zuhause gefühlt, war ich dort doch nur in den Ferien, nur „zu Gast". Die Zeit, die mir nach unserer Ankunft auf dem Hof bis zur Abreise nach Wyk blieb, war nur kurz; erst nach mehreren Ferienaufenthalten wurde ich mit dem neuen Umfeld ein wenig vertraut. Der Reiz des flachen Landes erschloss sich mir nur ganz allmählich. Mit Ellens Fahrrad erkundete ich die Umgebung: Koldenbüttel, „unser“ Dorf, Friedrichstadt, ganz im holländischen Stil und Tönning mit einem malerischen Hafen.

Markt in Friedrichstadt

Kam ich in den Ferien, so erwarteten mich auf dem Hof, außer der Familie natürlich, drei etwa gleichaltrige Jungen: Claus Rybiczka, Peter Nickel und Manfred Weber. Claus war ein lieber Kerl, zum großen Kummer seines Vaters aber nicht sehr helle. Um das Abi zu bewältigen, wurde später, nach „meiner Zeit", sein Wechsel nach St. Peter erforderlich; für Hermann Tast in Husum hatte es nicht gereicht. Peter war ein ehrgeiziger Bursche, verschlagen, man wusste nie genau, woran man mit ihm war. Er hat es wohl bis zum Oberstudiendirektor gebracht. Sein Vater, ein promovierter Chemiker, kam bald wieder auf die Beine, und die Nickels waren die ersten Flüchtlinge, die den Hörnhof verließen. Schließlich Manfred, er war ein ruhiger Typ, wenig konturiert; mehr fällt mir zu ihm nicht ein. Er wohnte mit seiner Mutter in der Veranda.

Die Schnittmenge, die uns drei Jungs zusammenbrachte, bestand darin, Segelboote auf den Gräben schwimmen zu lassen, welche die Fennen voneinander trennten. Wir hatten herausgefunden, dass sich die Boote — ganz rudimentäre Modelle von großen Rahseglern — in den schmalen Gräben gut auf Kurs halten ließen, wenn wir sie mit einem langen schmalen Kiel aus Dosenblech versahen, an dem unten etwas Ballast befestigt war und wenn die Segel richtig gebrasst wurden. Je nach Windrichtung, meist West, suchten wir einen geeigneten, möglichst frisch gekleiten Graben aus. Die Boote waren nicht sehr schnell, jeder konnte mal gewinnen — wobei Peter eigentlich immer gewonnen hatte.

Und dann gab es da noch die „Lütten". Zu denen gehörte auch mein Bruder Ferdinand; mit dabei waren die „Bübis", die drei Kinder von Frau Konrad, die mit Pferd und Wagen von Ostpreußen bis nach Koldenbüttel getreckt war. Originell war „Peppi", Sohn des dem Hof treu verbundenen Landarbeiters, Herrn Schweim. Peppi hatte immer dumme Flausen im Kopf; bewundert wurden seine Wortschöpfungen. „Ick bün achter de Lellerbarg", meldete er sich beim Versteckspielen; gemeint war damit eine Leiter. Die Lütten lebten wie in einer Traumwelt; sie stromerten auf dem großen Hof herum, kein Mensch kümmerte sich um sie. Ferdinand meinte später einmal, die Zeit auf dem Hörnhof sei die glücklichste seiner Kindheit gewesen.

Wenn abends die Gespanne auf den Hof kamen, halfen wir gern beim Abschirren der Pferde. Dafür durften wir sie am Weidezaum, auf die Fenne führen. Dann und wann durften wir auch mal reiten. Nicht ganz einfach, ohne Sattel auf so einem wuchtigen Holsteiner. Einmal habe ich es mit einer schnelleren Gangart versucht; der Gaul fing an zu gallopieren, direkt auf ein Heck zu. Ich konnte mich nicht mehr halten und fiel vom Pferd. Dabei muss ich wohl einen Hufschlag abbekommen haben. Zunächst war ich KO. Als ich wieder zu mir kam, konnte ich nichts sehen. Claus und Peter führten mich zum Hof. So langsam kam das Sehen wieder, dann bemerkte ich, dass ich eine klaffende Wunde an der Stirn hatte, und dass ein Schneidezahn schräg abgebrochen war. Große Aufregung. Vater telefonierte nach dem Arzt Dr. Gert in Friedrichstadt. Der kam mit einem uralten, klapprigen Opel, reinigte und nähte meine Wunde, stellte eine Gehirnerschütterung fest und verordnete eine Woche strikte Bettruhe. Von da an war das Reiten verboten.

„Roter Haubarg“ in Eiderstedt

Aber, das Land hatte noch mehr zu bieten. Das Areal des Hörnhof, ein langes, vergleichsweise schmales Rechteck von ca. 60 Demat — das müssen 120 Morgen gewesen sein — grenzte direkt an den toten Arm der Treene, der seinerzeit, bei der Gründung der Stadt, entstanden war, als ihr Zufluss zur Eider durch Friedrichstadt geleitet wurde und dort ein System von Graften bildete. Ein holländisches Städtchen in Nordfriesland. In der Treene konnte man gut baden. Noch schöner war es jedoch an der Schleuse, mit welcher der Zufluss eines größeren Grabens zur Eider reguliert wurde. Dort gab sich am späten Nachmittag die Jugend von Koldenbüttel ein Stelldichein. Von einem Steg vor der Schleuse konnte man „Köpper" üben, schwimmen und tauchen nach Belieben. Im Bild habe ich noch Carsten und Lotte Paulsen vom Mühlenhof in Koldenbüttel. Die beiden waren ein Geschwisterpaar wie im Bilderbuch: beide pechschwarzes Haar, Carsten mit einem athletischen Körper wie ein griechischer Ringer, Lotte sehr hübsch, mit der traumhaften Figur einer Schwimmerin — der Bikini war in Koldenbüttel leider noch unbekannt. Lotte ist nicht alt geworden, wie ich auf ihrem Grabstein entdeckte, und der schöne Mühlenhof, ein klassischer Haubarg, ist im Mai 1962 abgebrannt.

Im Winter liefen wir Schlittschuh. Ich hatte ein paar alte Eisen, die man unter die Stiefel schrauben musste; wahre Hackenreißer. Gern liefen wir auf der Graft, möglichst bald nach dem ersten Frost. Da musste man schnell sein; oft war das Eis noch so dünn, dass es hinter einem knackte und krachte. Schlittschuhlaufen auf dünnem Eis, im übertragenen Sinn musste ich das später immer wieder praktizieren. Richtigen Auslauf hatten wir auf den Speethings, überschwemmten Wiesen. Nur den Rändern musste man sich fernhalten, dort wo das Gras ins Schilf überging, Da ging das dickere Eis in „Buffeis" über. Das war brüchig und voller Blasen; geriet man hinein, war eine harte Landung unvermeidlich.

So oft das möglich war, ging ich mit Vater aufs Feld. Flachs raufen, bei der Getreideernte Garben zu Hocken aufstellen, auf- und abladen, beim Dreschen helfen. Ein Tag auf dem Feld ist lang; das hatte ich schon in Kipsdorf erfahren, als wir dem Bauer Hickmann im Heu oder bei der Kartoffelernte halfen. Einmal bekam ich von Frau Jacobs sogar Geld für meinen Einsatz; sie missbilligte, dass meine Altersgenossen da nicht mittaten, auch ihr Enkel Claus nicht. Im Winter ging es in den Kuhstall. Etwa 30 Stück Rind, dazu Jungvieh und Kälber. Bis auf das Melken versorgte Vater den Stall ganz allein. Die Tiere standen damals noch auf Stroh. Das Ausmisten war Schwerarbeit. Ich warf Heu vom Boden herunter und verteilte es. Wenn alle Viecher etwas zu fressen hatten, kehrte im Stall eine wohlige Ruhe ein, ab und zu ein behagliches Muh.

Kirche in Koldenbüttel, etwa 2005

Zu Anfang hatten wir ein kleines Stück Garten auf dem Gelände des Hofs. Vater war in seinem Element; die Pflanzen gediehen prächtig, vor allem Gurken, Tomaten und Salat. Noch heute habe ich meine Probleme mit derartigem Gemüse. Später wurden uns unsere Beete entzogen; der Garten des Hofes wurde eingezäunt und für die Flüchtlinge gesperrt. Vater pachtete ein Stück Land nahe am Eiderdeich, ziemlich weit vom Hof entfernt, 3 oder 4 km. Eine Fenne, die wir erst urbar machen mussten. Dort wurde alles das angebaut, was der Speiseplan verlangte: Kartoffeln, Kohl, alle möglichen Arten von Gemüse — und Tabak, leichter Virginia. Vater rauchte gern ein Pfeifchen. Die Tabakpflanzen mussten gezählt werden, und es war eine Steuer darauf zu entrichten. Mehrmals gelang es, die Jahresernte einzubringen und zu trocknen; aber einmal wurden sämtliche Blätter, die wir auf dem Hof zum Trocknen aufgehängt hatten, gestohlen. Anfangs fermentierte Vater den Tabak selbst, eine duftreiche Tätigkeit, die Mutter gar nicht liebte. Später lieferte Vater die Blätter ab, wo, weiß ich nicht mehr, und bekam dafür fertigen Tabak, abgepackt, Marke „Siedlerstolz".

Der sich zuspitzende Streit zwischen Vater und Bitzki machte den anfangs freundschaftlichen Umgang miteinander unmöglich. Wir zogen uns in unsere Räume zurück, wohnten und aßen in unserer kleinen Küche neben dem Pferdestall. Meinem Vater blieb nichts anderes übrig, als ein einfacher Landarbeiter zu arbeiten – und sich nach einer anderen Tätigkeit umzusehen.

Als erstes übernahm er die Vertretung einer kleinen Firma, die Arzneimittel für Tiere herstellte. Hamburger Bekannte hatten ihm das vermittelt. Dafür nahm er sich einen Tag in der Woche frei. Vater kaufte sich ein kleines Motorrad, eine NSU Quick, 4 PS, die noch mit Pedalen zum Anfahren und Mittreten ausgerüstet war. Sein umsatzstärkster Artikel war Schafbad. Einmal habe ich ihn auf einer Reise begleitet, nach Garding, der Geburtsstadt von Theodor Mommsen, dem berühmten Historiker, Herman-Tast-Schüler und Nobelpreisträger. Wir besuchten den Tierarzt, und der bestellte eine größere Menge. Zum „Baden" sollten die Schafe in den Dorfteich getrieben werden — leider konnte ich das nicht miterleben – nachdem dieser mit Schafbad versetzt war. Bedenken bezüglich der Umwelt kannte man damals noch nicht.

Als nächstes nahm mein Vater die Vertretung eines Betriebes hinzu, der Kaugummi, Salmiakpastillen und Lakritz herstellte. Damit reiste er von Budchen zu Budchen und lieferte die Ware sogleich aus. Nach der Währungsreform gelang es ihm, die Vertretung einer sehr honorigen Firma zu bekommen: Schülke & Mayer in Hamburg. Diese Firma hatte sich einen Namen damit gemacht, dass sie mit ihren Desinfektionsmitteln dazu beigetragen hat, die Cholera in Hamburg zu bekämpfen: „Sagrotan", das gibt es heute noch, und fürs Gröbere „Lysol", das waren die Renner. Diesen Job hatte ihm Admiral Rogge vermittelt, der als Kommandant eines Hilfskreuzers erfolgreich gekämpft hatte und im Norden sehr populär war. Wie Vater an den Admiral gekommen ist, habe ich nie mitbekommen. Nur so viel, dass dessen Frau eine Husumerin war. Vater war halt ein Kontaktmensch, kannte Gott und die Welt. Ihm wurde ganz Schleswig-Holstein als Bezirk zugewiesen. Er machte den Führerschein und bekam ein Auto, einen VW-Standard („Käfer" sagte man damals noch nicht). Damit konnte Vater seine Arbeit auf dem Hörnhof aufgeben, und es kam Geld ein, so dass er darangehen konnte, den Bau eines Hauses zu planen.

Mein Freund aus Wyker Zeiten Wolfgang Schröter mit seiner Mutter, 1950

Wann und wo immer möglich bemühte sich Vater, von seiner alten Behörde, dem Arbeitsamt, wieder aufgenommen zu werden. Was er im einzelnen dafür alles unternommen hat, habe ich aus der Distanz nicht mitbekommen. Nur so viel: Ein Hindernis war, dass seine ehemalige Position im Reich angesiedelt war. Die Arbeitsverwaltung kam aber, wie die meisten anderen Verwaltungen, zuerst auf Länderebene wieder in Gang. Und da war kein Platz für ihn. Kam hinzu, dass Schleswig-Holstein damals links war; als ehemaliger PG hatte er da kaum eine Chance. Als sich dann in Bonn eine Regierung für die Bundesrepublik etablierte, entschloss sich Vater, sein Glück dort zu versuchen und seine Wiedereinstellung vor Ort zu forcieren. Im Sommer 1950 reisten wir gemeinsam auf seinem kleinen Motorrad nach Bonn. Dazu wurde auf dem Gepäckträger ein Sattel für mich als Sozius montiert. Ich war zwar nur ein Leichtgewicht, dennoch, unser Schwerpunkt lag ziemlich hoch.

Das Reisen war damals nicht so einfach. Hotelreservierung im Voraus, das gab es nicht. Wir fuhren, soweit wir an einem Tag kamen und suchten uns dann ein Quartier. Erste Station war Bremen, das wir bei strömendem Regen erreichten. Wir übernachteten im „Hospiz", das in einem Luftschutzbunker untergebracht war. Das kam uns bekannt vor. Andern Morgen besuchten wir Schröters, meinen Wyker Klassenkameraden Wolfgang und seine Mutter. Sie wohnten bei ihrem Vater in einer großen Villa in Schwachhausen, einem vornehmen Viertel der Stadt Bremen. Wir waren zum Frühstück eingeladen, ein sehr schönes kleines Fest, „wie im Frieden". Danach sahen wir uns Bremen an. Rathaus, Roland und Dom, sehr eindrucksvoll. Vater schoss eifrig Fotos, „mit dem kleinen Apparat", einer Agfa mit einklappbarem Faltbalg. Klein nannte er den, weil er vor dem Krieg mit der zweiäugigen Rollei fotografiert hatte, die wohl mehr als doppelt so groß war. Unsere nächste Station waren die Bodelschwingschen Anstalten in Bethel. Ellen hatte sich dort vor Aufnahme ihres Studiums — Germanistik und Theologie — für ein halbes Jahr als Praktikantin verpflichtet. In dem Haus, in dem sie arbeitete, war der Bruder meiner Wyker Klassenkameradin Erika (Eka) v. Winterfeld untergebracht. Er litt an Epilepsie, war ganz aufgeregt, hielt mich für einen persönlichen Besuch für sich — und bekam, während wir plauderten, prompt einen heftigen Anfall. Ich war ganz hilflos; zum Glück eilte eine Schwester herbei und nahm sich des Jungen an. Was wohl aus ihm geworden ist?

Meine große Schwester Ellen als Praktikantin in Bethel, 1950

Von Bethel ging es quer durch Westfalen nach Bonn. Ob wir die Strecke in einem Rutsch schafften, kann ich nicht sagen. Auf der Autobahn kamen wir jedenfalls gut voran. In Köln machten wir Rast, in einem Kaffee am Fuß des Doms. Der Rhein, die große Brücke, der riesige Dom und der „brausende" Verkehr, das alles war für mich unheimlich eindrucksvoll.

Weiter ging es nach Bonn. Dort die heile Welt, keine Trümmer. Wir wohnten privat, bei Frau Kriegesmann — den ungewöhnlichen Namen habe ich mir gemerkt – einer älteren sehr freundlichen Dame. Tagsüber führte Vater Gespräche, vorwiegend wohl mit seinen ehemaligen Kollegen, die wieder „reingekommen" waren. Ich ging ins Schwimmbad und bummelte durch die Stadt. In einer Unterführung der Bahn spielte nachmittags eine Band; die Musiker trugen abgewetzte Militärklamotten und machten eine fetzige Musik.

Bei schönem Wetter unternahmen wir einen Ausflug auf den Drachenfels, fuhren mit der Bahn hinauf. Ich staunte über die Lokomotive, die der großen Steigung der Trasse so angepasst war, dass ihr Kessel horizontal zu liegen kam. Oben auf dem Berg, im Restaurant, war es lustig. Einige Leute sangen vaterländische Lieder. „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein...". Vater genehmigte sich ein Glas Wein; ich durfte mal daran nippen. Am Hang sah ich das erste Mal Weinstöcke; völlig ahnungslos hatte ich sie für Bohnen gehalten.

Mit Vater in Bonn, 1950

Bei einem Gespräch, das Vater mit einem Herrn Schelp führte, war ich zugegen. Lang und breit wurden die ehemaligen Kollegen „durchgenommen"; die meisten waren wieder zu Amt und Würden gekommen. Ich konnte dem nicht so genau folgen. Aber, die letzten Worte von Schelp, die sind bei mir hängen geblieben: „Hucho, wechseln sie das Gesangbuch, dann werden Sie sich hier leichter tun". Vater quittierte das mit Kopfschütteln und verabschiedete sich. Alles hätte man ihm, dem sächsischen Protestanten, raten können, aber doch das nicht.

Von der Heimreise sind mir drei Episoden im Gedächtnis geblieben. In Wetzlar besichtigten wir das Lotte-Haus; von den Leiden des jungen Werthers hatte ich noch nie etwas gehört, war wohl noch zu klein dafür. Die Fahrt durch Oberhessen war für Vater äußerst anstrengend. Die steilen Berge auf der Autobahn waren mit dem kleine Töff nur durch Mittreten zu nehmen.

Letzte Station machten wir in Witzenhausen bei Niethammers, eine Familie aus Mutters Umfeld. Die Niethammers betrieben die dortige Papiermühle; ihre eigene, Kriebstein, lag in der DDR und war enteignet worden. Später, nach der Wiedervereinigung, las ich in der FAZ, dass die Familie ihren Betrieb zurückbekommen habe.

Auf dem Drachenfels

Unsanftes Finale: unser Sturz. Er ereignete sich auf der Hochbrücke, die bei Albersdorf über den Nord-Ostsee-Kanal führt. Sie diente damals gleichermaßen Straße und Schiene. Das mit der Folge, dass Vater mit dem Vorderrad in die Rinne der Schiene geriet. Der schmale Reifen klemmte sich fest, Vater gab Gas, die Mühle machte einen Satz, und wir lagen auf der Seite. Vater hat sich dabei empfindlich am Knie verletzt; das musste später behandelt werden. Ich hatte nichts abbekommen, die Mühle auch nicht. Wir konnten weiterfahren und erreichten am späten Nachmittag den Hörnhof.

Lottehaus in Wetzlar, 1950

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