Читать книгу Sindbad - Wolf-Heinrich Hucho - Страница 8
Schule
ОглавлениеEinziges Relikt: Das Tor zum Internat
Der Klassenraum gerammelt voll, Jungs und Mädchen, Interne und Externe, ein Mordslärm. Es war schwierig, einen Sitzplatz zu ergattern. Sehr bald wurde die Sexta geteilt, Jungs und Mädchen getrennt. Da gab es Platz. Erste Stunde Englisch bei Fräulein v. Focht. Sie begrüßte mich nochmals als den Neuen, und sie erzählte der Klasse, dass ich bis jetzt Russisch gelernt hätte – staunendes Gemurmel. Und sie begann sogleich, mich in Russisch zu examinieren. Sie schrieb Worte in kyrillischer Schrift an die Tafel – als baltische Baroness machte ihr das keine Mühe – und ich musste sie vorlesen und übersetzen. Dann folgte eine kurze Unterhaltung in Russisch. Zu meinem Erstaunen bin ich ihr keine Antwort schuldig geblieben; ich muss wohl auf der Schule in Kipsdorf doch etwas mitbekommen haben. Leider habe ich Russisch, das ich gern gelernt habe, total vergessen, auch die kyrillische Schrift, wie ich bei meinem ersten Besuch in der Sowjetunion feststellen musste. Das war während meiner Seefahrtzeit.
Dann ging es englisch weiter; die Föchtin liebte die Lautschrift. Ich hatte zwar, noch in Kipsdorf, von meiner großen Schwester Ellen ein paar Stunden Unterricht in Englisch bekommen; aber von Lautschrift hatte sie mir nichts erzählt. Diese merkwürdige Schrift wurde uns zum Albtraum. Wir bekamen Worte diktiert und mussten diese in Lautschrift schreiben. Oder die Texte waren in Lautschrift abgefasst, und wir mussten sie lesen. Das erschien uns absolut blödsinnig; kein Buch der Welt war in Lautschrift geschrieben. Aber, das muss man der Föchtin lassen; ihre Hartnäckigkeit war erfolgreich: wir bekamen auf diese Weise eine ordentliche Aussprache. Alle Übungen ohne Buch; Schulbücher gab es nicht. Sätze, ja ganze Passagen, wurden auswendig gelernt: „Humpty, Dumpty sat on the wall, Humpty, Dumpty did a big fall,...“ oder so ähnlich. So lernte man Englisch, zunächst ganz ohne Grammatik. Die habe ich mir erst unmittelbar vor dem Abitur „reingezogen“.
Blick aus dem Fenster unserer Bude: Hallig Langeness, Öl auf Presspappe, WHH
Nächste Stunde Mathe, bei Herrn Flach, der Heuer. Was haben wir da nur getrieben? Vielleicht Bruchrechnung? Ich weiß es nicht mehr. Die gleiche Leere auch in Deutsch bei Herrn Schmiedel. Der war, wie sich später herausstellte, Dorfschullehrer irgendwo in Böhmen gewesen. Ein halbes Jahr hielt er uns mit seinem Lieblingsgedicht auf: „Mietegäste vier im Haus, hat die alte Buche; tief im Keller wohnt die Maus, nagt am Hungertuche ...“. Immer wieder wurde einer von uns nach vorne gerufen, um das Gedicht zu rezitieren; nie war der Vortrag gefühlvoll genug. Den Hunger der Maus aber, den konnten wir gut nachfühlen.
Gern folgten wir dem Geschichtsunterricht vom Heuer. Besonders seiner Erzählung der Ilias und der Odyssee; Ich erinnere mich, dass er die Namen der Helden oft recht eigenwillig betonte: Odysseus war Oddysseus, Polyphem hieß Bolifem. Das Ganze kam uns wie ein Märchen vor. Später übernahm Frau Dr. Baer dieses Fach. Sie war streng und legte auf präzise Formulierungen Wert „Und so ...“ das gab es bei ihr nicht. Besonders war ihr daran gelegen, dass wir den Unterschied der verschiedenen griechischen Säulen beherrschten: dorisch, ionisch und korinthisch.
Unvergessen ist Fräulein Neumann, „Noma“ genannt. Eine junge, dynamische Person; ihre Oberweite war eindrucksvoll. Sie gab Erdkunde; wir nahmen Europa durch und zeichneten fleißig Landkarten. Besonders schwierig war Norwegen, wegen der vielen Fjorde. Später übernahm es Herr Markus, uns in die Geografie einzuführen. Er ein österreichischer Diplom-Ingenieur, den es nach Wyk verschlagen hatte. Es hieß, er sitze auf gepackten Koffern, um nach Südamerika auszuwandern – und tatsächlich, eines Tages war er fort. Über alles liebte er die Alpen, und über die ist er mit uns auch nicht hinausgekommen. Unglaublich langweilig; großer Lärm war die Folge. Mit einem „gebt’s amal Ruhe im Baauu“ versuchte Markus, sich Gehör zu verschaffen, meist vergeblich. Wir hatten anfangs auch Mathe bei ihm; was haben wir da nur gemacht? Algebra?
Zurück zu Fräulein Neumann; deren Leidenschaft war der Sport. Der war mir vollkommen fremd, denn bis dahin hatte ich noch nicht eine einzige Sportstunde erlebt. Nur Skifahren, das konnte ich – für uns in Kipsdorf war das aber Spiel und Verkehrsmittel, nicht Sport – und auf Föhr war es weniger gefragt. Leichtathletik und Turnen waren angesagt – und Handball auf großem Feld. Nachmittags schwimmen – wenn Flut war. Noch im ersten Sommer lernte ich, mich über Wasser zu halten, erst auf dem Rücken, dann in Brustlage. Nicht so einfach, denn schwimmen im Meer, das ist etwas völlig anderes, als im Becken. Fast immer gibt es Wellen, mal kleinere, aber auch höhere. Als ich den Fahrtenschwimmer „machte“ – eine Dreiviertel Stunde schwimmen – herrschte Seegang von gut einem Meter. Oft konnte man das Begleitboot, das Noma und Pan ruderten, nicht sehen; immer dann, wenn es in einem Wellental verschwunden war, um kurz drauf hoch über uns auf den Schaumkronen zu schaukeln. Schwimmen wurde da zu einem ständigen Kampf gegen das Untergehen; auf schnelles Vorwärtskommen kam es nicht an. Ich wurde ein ganz guter Schwimmer, aber nie ein schneller.
Ole Kark P’worm, Öl auf Spanplatte, WHH
Kunstunterricht hatten wir bei Herrn Hans v. Gerhardt, der zugleich Erzieher der Abteilung 44 war. Sein Unterricht folgte dem konventionellen Muster: zeichnen von Gegenständen, meist Häuser, die dann mit Wasserfarben ausgemalt wurden, jeder so gut, wie er konnte. Manch einer konnte nicht. Der musste dann an die Tafel kommen und dort zeichnen. Den Vogel schoss Wolfgang Schröter ab – wegen seines Augenschnitts „Schlitzer“ genannt – der einen unglaublich komischen Ziegenbock auf die Tafel bannte. Papier und Farben waren knapp.
Einige meiner Bilder aus dieser Zeit habe ich noch. Zum ersten Schulfest zeichneten und aquarellierten wir alle zusammen eine Landkarte der Insel Föhr. Nach diesem Vorbild habe ich später selbst eine derartige Karte gemalt, in Öl, auf einer großen Holzplatte, für meine Kinder, nachdem wir auf Föhr Urlaub gemacht hatten und ich von den schönen über die Insel verteilten Bauernhäusern, Windmühlen und Kirchen Skizzen angefertigt und Fotos aufgenommen hatte.
Herr v. Gerhardt hatte es nicht leicht, sich durchzusetzen. Er war stark verwachsen, und wir ach so kernigen Typen nahmen ihn deshalb nicht für voll. Er hatte eine knarrende Stimme, und er konnte sehr wütend werden – Matzel fing einmal einen Schwinger ein, der ihn zu Boden streckte. Das brachte v. Gerhardt den Spitznamen Giftzwerg ein, kurz „Gift“. Dabei war er eine Seele von Mensch und ein ganz toller Schwimmer; mit seinen überlangen Armen konnte er trefflich kraulen. Er schwärmte von Emil Nolde, den wir alle – wohl noch unter dem Einfluss der „Deutschen Kunst“ – für verrückt hielten; das Wort „entartet“ kannten wir zum Glück nicht. Jahre später wurde mir klar, welch großer Künstler v. Gerhardt selbst war. Aber da waren alle seine Bilder schon verkauft. Ich erinnere mich nur, dass sie immer etwas düster waren. Später habe ich ihn versuchsweise imitiert. Seine Begeisterung für Nolde, nach langer Inkubationszeit kam sie auch bei mir zum Ausbruch, und sie ist mir geblieben.
„Friesendom“ St. Johannis in Niblum
Eine Einführung in die Physik vermittelte uns Dr. Wittlich; der war mir unheimlich. Er konnte drei Vorgänge parallel verarbeiten: z.B. die Zahl Pi auf viele Stellen anschreiben, im Kopf zwei mehrstellige Zahlen miteinander multiplizieren und dabei über irgend etwas Philosophisches reden. Besonders angetan hatten ihn die Zahlen, vor allem die Sieben. Die, so wusste er geheimnisvoll zu berichten, in der Bibel häufig vorkommt und etwas Besonderes zu bedeuten habe. Was? Das verriet er nicht. Dafür aber, dass er als Jugendlicher den Pfeiftopf erfunden habe. Patent? Er verstand es, den Stoff anschaulich darzustellen und das, obwohl unsere Schule damals über keinerlei Hardware verfügte, reine „Kreidephysik“, trotzdem spannend. Merkwürdig, dass ich mich an diese Details erinnere, kaum aber an den Inhalt seines Unterrichts.
In den Pausen herrschte auf dem Hof zwischen den Baracken und Haus „Nordmark“ ein reges Treiben. In einer Ecke versammelten sich die Großen, summarisch Primaner genannt, unter ihnen die Büsumer, entlassene Soldaten, in den Resten ihrer Uniformen. Einer von ihnen, ein hoch dekorierter Fliegerhauptmann, Hoffmann (?), sehr schwierig. Unter diesen etwas wilden Kerlen ein einziges Mädchen: Waltraut Hartmann, die Tochter des Besitzers des „Collosseums“ in Wyk, im Volksmund „Kollebum“. Da gab es Kino und Schwof. Sie traf ich später wieder, als sie sich meiner großen Schwester Ellen annahm, die einen schwierigen Lebensabschnitt zu bewältigen hatte. Die Primaner waren ein lustiges Völkchen, begeistert vom Jazz und dem „American way of life“. Erinnern kann ich mich noch an „Candy“ Winkler, der später unser Erzieher wurde. Alle zusammen taten sie sich schwer mit der Schule, und der Oberschulrat Möhlmann aus Kiel ließ einige von ihnen genüsslich durchs Abitur rauschen. Horst Öhl, „Horschtl“ genannt, wurde gar nicht erst zugelassen; er wurde dann eine Zeitlang unser Erzieher. Seine eigentliche Rolle sah er aber wohl eher in der eines Intendanten. Schöne Stücke, die er mit uns inszenierte.
Anfangs war die Schule privat und gehörte zum Internat. Trotz einer vom Ministerium in Kiel entsandten Direktorin, Fräulein Stuckenberg, haftete der Schule etwas Provisorisches, ja Chaotisches an. Immer wieder bekamen wir neue Lehrer, und bei der Verstaatlichung, 1949, schieden alle diejenigen aus, die nicht die erforderlichen Examina vorweisen konnten. Fräulein v. Focht musste das Katheder räumen. Ihr erster Nachfolger war Herr v. Kuyk, „Pan“ genannt, der außer Englisch auch noch Sport gab. Wer seine Schularbeiten nicht gemacht hatte, musste eine Seite Text abschreiben. Wurde auch das versäumt, dann hieß es: „it doubles automatically“. Sein treuester Kunde war Fritz Clausen, Sohn des Küsters in Niblum, den er zu seinem „Customer“ ernannte. In keinem anderen Fach als in Englisch hatten wir so viele verschiedene Lehrer und Lehrerinnen, u.a. auch die Direktorin Frl. Stuckenberg, die uns, mangels eigenem Sprachvermögen, mit Grammatik triezte. Englisch gelernt habe ich nur von der Föchtin, von all’ den anderen so gut wie nichts. Schon eher vom AFN, der mir das amerikanische Idiom näherbrachte, mit dem ich später bei den Autobauern gut ankam.
Der chaotischen Phase ist auch Dr. Heinrich Koops zuzurechnen. Seine Aufgabe war es, uns in der Quarta ins Latein einzuführen. Begeistert nahm ich diese Sprache in Angriff und brachte es anfangs auf gute Leistungen. Warum ich dann plötzlich das Interesse an diesem Fach verlor – meine Eltern schoben das auf den Fußball, aber der allein kann es nicht gewesen sein – das weiß ich nicht. Später habe ich an Latein gelitten. Dr. Koops war eine Seele von Mensch, und er würzte seinen Unterricht gern mit Witzen, meist mit denen von Graf Bobby und Baron Mucki. Aber, seiner Autorität war das eher abträglich, und wir tanzten ihm auf der Nase herum. Besonders tat sich dabei Fritz v. Gadow hervor, ellenlanger Sohn eines noch längeren mecklenburgischen Gutsherren, der nach seiner Enteignung auf seiner ehemals eigenen Scholle gesiedelt hatte. Fritz steckte der Schalk im Nacken – später wurde er Unternehmensberater – er hatte nichts wie Dummheiten im Kopf. Sein Liebling war „Koko“, der Boxer von Herrn v. Girard. Mit dem ist er einmal sogar in die DDR gereist. Den Hund hatte er weit vor dem Schlagbaum abgelegt. Als er nach Erledigung der Formalitäten weiterging, hat er ihm gepfiffen, worauf Koko vorbei an den Vopos in einem unglaublichen Sprint in die DDR sauste – vielleicht war das auch noch „Ostzone“.
Christiansäule mit Sönke
Den Vogel schoss Fritz v. Gadow mit dem folgenden Streich ab: An einer Wand im Klassenzimmer installierte er ein Gewirr von Strippen; eine davon ließ er, besonders auffällig, nach unten durchhängen. In der Stunde von Herrn Uhlig – beim besten Willen fällt mir nicht ein, welches Fach wir bei ihm hatten – zerrte der andere Fritz, der aus Niblum, der dem hängenden Strick am nächsten saß, solange an diesem, bis Uhlig entnervt hinzusprang und versuchte, den Strick herunterzureißen. Ein ohrendbetäubender Knall war die – scheinbare – Folge; Fritz hatte eine Startschusspistole abgefeuert. „Wer war das?“ schrie Uhlig. Nach einem Moment der Stille kam aus der Tiefe der Klasse die Antwort: „Sie Herr Uhlig! Sie haben doch an dem Strick gezogen“. Dem verschlug es den Atem; das Klingeln zur Pause erlöste ihn.
In Untertertia trieben wir die Aufsässigkeit so weit, dass wir zur Strafe zu Beginn der großen Ferien einen ganzen Tag länger auf der Insel bleiben mussten. Als Dr. Koops, der uns wiederholt „die Quittung“ für unsere Flegeleien in Aussicht gestellt hatte, die Klasse betrat, um die Zeugnisse auszuteilen, rief v. Gadow: „unsere Quittung, Herr Doktor, unsere Quittung!“. Noch heute beschleicht mich, wenn ich daran denke, ein schlechtes Gewissen. Dr. Koops litt unter einem Handicap: in seiner Jugend hatte er Kinderlähmung gehabt. Und dabei liebte er den Sport, wäre gern selbst Sportler geworden, und er zeigte viel, ja zu viel Verständnis für unsere Fußballsucht. Im sonntäglichen Singsang gab er „Reportagen“ von der Olympiade 1948 in Helsinki, lebendig und sachkundig und half uns so, die Schmach darüber zu verdrängen, dass Deutschland daran noch nicht wieder teilnehmen durfte.
Auch den Unterricht in Religion rechne ich dieser chaotischen Phase zu. Als die Lehrerin, Fräulein Hedwig Schröder – wegen ihrer rundlichen Proportionen wurde sie von mir „Murmel“ getauft – das erste mal die Klasse betrat, brach ein wahres Tohuwabohu aus. Sie war schockiert, und in dem Versuch, sich Respekt zu verschaffen, marschierte sie entschlossen auf den größten von uns zu, auf Matzel. Da drehte sich Riko v. Dehn um und sagte: „Radmann, die zwingste noch“. Uns verschlug es den Atem, der Murmel auch. Aber, sie fasste sich schnell und begann mit dem Unterricht. Ihre wahre Liebe galt der Musik, und folglich unterrichtete sie bald ausschließlich dieses Fach – und konnte sich gut durchsetzen. Ihr ist es jedoch nicht gelungen, mir diese Kunst näher zu bringen. Singen konnte ich nicht – sie aber auch nicht; nach zwei, drei Takten blieb ihr die Stimme weg. Noten, Tonarten und dergleichen habe ich nie begriffen. Das einzige, was mich an Musik interessierte, waren anfangs die Schlager, ja, gerade die deutschen Schlager der ersten Nachkriegszeit, wie z.B. Bully Bulans „Ham se nich, ham se nich, ham se nich ne Frau für mich?“ Ja, ja, ja, wir ham verschiedne da“... Wenig später dann der Jazz: Blues aus New Orleans, Dixiland, und auch Hillbilly, wie man den Country damals nannte.
Friesenmuseum mit Walunterkiefer
Das größte schulische Defizit erlebte ich im Fach Deutsch. Wie groß, das offenbarte sich mir nach meinem Wechsel an die Hermann Tast Schule in Husum. Nur mit großem Einsatz konnte ich dort zu den Mitschülern aufschließen. Erinnern kann ich mich nur noch an Herrn Nielsen, den letzten in der Reihe meiner Wyker Deutschlehrer. Aber auch das nur wegen seines Spitznamens „Knautschke“. So hieß er nach einem populären Nilpferdbullen im Berliner Zoo – und er hatte täuschende Ähnlichkeit mit ihm. Er hielt es mit der Rechtschreibung, lies uns unentwegt Diktate schreiben, bei deren Rückgabe er jedes Mal drohend verkündete, dass, wer jetzt noch immer falsch schreibe, in der nächsten Klasse ausscheiden müsse. Aufsätze Fehlanzeige; Literatur ebenso. In den ganzen fünf Wyker Jahren haben wir in Deutsch nicht ein einziges Buch gelesen.
Oktant
Lesen, das war aber auch ein Schwachpunkt im Internat. Bekanntlich braucht man dazu Ruhe, ja Muße. Es waren aber immer Leute um einen herum, die gerade keine Ruhe geben und lieber Fußball spielen wollten. Allenfalls in den Ferien kam ich dazu, „ein Buch zur Hand zu nehmen“ – wie mein Vater mich zu ermahnen pflegte. Frau Jacobs, die Herrin auf dem Hörnhof, verfügte über eine ansehnliche Bibliothek – alle Bände in Jugendstileinband mit gotischer Schrift – aus der ich mir dann und wann etwas ausleihen durfte. So von Felix Dahn: „Ein Kampf um Rom“; die drei Bände habe ich verschlungen. Es blieb aber das Manko, und mein Vater führte meine notorische Schwäche in der Rechtschreibung auf dieses mein Lesedefizit zurück. Das wollte ich natürlich nie wahrhaben, schob es vielmehr auf meine sächsischen Sprachwurzeln. Ein Argument, das bei ihm nicht verfangen konnte, pflegte er doch, wenn auch gemäßigt, die gleichen Wurzeln und war dennoch perfekt in Orthografie.
Ein ähnliches Vakuum hinterließ bei mir der Chemieunterricht; der Lehrer Dr. (?) Fritz Stegemann, wegen seines breiten Slangs „Stegefräätz“ genannt. Zugegeben, auch er hatte es nicht leicht: Die Schule verfügte über nicht ein einziges Reagenzglas. So genossen wir reine Kreidechemie – und in Husum tat sich vor mir ein Abgrund auf. Eine Weile hatten wir auch Mathe bei ihm. Mir verlieh er den Titel „Konfusionsrat“ – an mehr kann ich mich nicht erinnern – dann und wann war ich wohl nicht beim Stoff.
Aber es gab auch Lichtblicke in der „Staatlichen Oberschule Wyk“. Zwei Lehrer ragten heraus: Dr. Ernst Haase und Dr. Erwin Obermeier. Bei Dr. Haase hatten wir Mathe und Physik. Er war im Krieg in der Industrie gewesen bevor er Lehrer wurde. Wo immer es möglich war, stellte er in seinem Unterricht den Bezug zur Praxis her. Ein Beispiel: In Trigonometrie lernten wir, wie sich durch Messung des Abstandes von einem Turm und des Winkels Alfa zu seiner Spitze dessen Höhe berechnen lässt. Nachdem das Dreieck an die Tafel gezeichnet, war fragte Dr. Haase in die Runde: „Wer von Euch alten Föhringern hat zuhause einen Oktanten oder Sextanten? Sicher ist doch der eine oder andere eurer Vorfahren als Steuermann oder gar Kapitän auf einem Walfänger in die Arktis gefahren“. Tatsächlich, am folgenden Tag brachte Fritz Clausen gleich zwei dieser wertvollen Stücke mit, Oktanten [4] aus Holz mit Skalen aus Elfenbein, und wir vermaßen eifrig den Wyker Glockenturm.
Oberterzia m mit Klassenlehrer Dr. Haase
Und als wir den Motor durchnahmen, besuchten wir die wohl einzige Kfz-Werksatt auf der Insel. Wir hatten Glück: Dort hatten sie gerade einen Vierzylinder demontiert. So bekam ich das erste mal in meinem Leben Kolben, Kurbelwelle und Ventile zusehen. Zum Abschluss drehte Dr. Haase auf einem schweren Motorrad eine Ehrenrunde. Er verstand auch etwas von der Rundfunktechnik. Wenn eines der selbst gebauten Radios gar nicht spielen wollte, wusste er Rat. Und er war ein guter Sportler. Boxen, einmal Studentenmeister im Schwergewicht, das nächste mal selbst KO gegangen. Mit seiner Größe gab er einen guten Basketballspieler ab.
Dr. Erwin Obermeier war, wenn ich mich recht erinnere, noch Referendar; aber, das lies er sich nicht anmerken. In Latein war er gnadenlos. Unnötig streng! Den Übergang von Dr. Koops zu sich hätte er sanfter gestalten können; dann hätte er mehr Schüler mitgenommen. So hagelte es Fünfen, mit seinem Signum OB. Mir hat er Latein gründlich verleidet. Im Sport konnte seine Strenge nichts schaden, und er bewies auch Humor. Als Matzel beim Hochsprung eine mäßige Höhe riss, frotzelte er: „Matzel, Du Napfsülze“. Das brachte ihm die Aufforderung ein, nun doch selbst zu springen. Und auch er riss. Darauf Matzel: „OB, Sie Napfsülze“. Das nahm er lächelnd hin – viele Jahre bevor die antiautoritäre Masche aktuell wurde.
Während der Schulzeit waren einige Entscheidungen zu treffen, die für mein weiteres Curriculum entscheidend sein sollten. Die eine davon war sogar schon vor Eintritt in die Schulwelt gefällt worden. Die Oberschule in Wyk hatte keinen humanistischen Zweig. Das bewahrte mich davor, mit Latein beginnen und dann Griechisch hinzunehmen zu müssen, also zwei tote Sprachen zu lernen. Ein Unterfangen, das mir schon als kleiner Knirps völlig unsinnig vorkam. Zu Beginn der Obertertia stellte sich die Frage, welchen Zweig man wählen sollte, den sprachlichen oder den mathematischen? Bisher waren derartige Entscheidungen von meinen Eltern getroffen worden. Dies war die erste Entscheidung, die ich, nach Diskussion mit ihnen, selbst fällen musste.
Großer nordfriesischer Hof
Die Entscheidung fiel nicht schwer. Meine Leistungen in den Sprachen waren dürftig, vor allem natürlich in Latein. Aber auch in Englisch, denn seit dem Rückzug der Föchtin hatte ich in dieser Sprache nichts mehr dazugelernt. Also kam nur der naturwissenschaftliche Zweig in Frage. Wirklich? Mit Englisch bin ich später doch gut zurechtgekommen. Hier einige Highlights: Ich habe zahlreiche Vorträge vor der „Society of Automotive Engineers“ (SAE) auf deren jährlichem internationalen Kongress in Detroit gehalten und die schriftlichen Fassungen veröffentlicht – einmal habe ich sogar einen Preis dafür bekommen, den „Arch T. Collwell Award. Ich habe Vorträge an amerikanischen Top-Universitäten gehalten: Princeton, Michigan University, Art Center College of Design. Frei gesprochen, das Manuskript nur in Stichworten. Meine amerikanischen Freunde bestätigten mir, dass ich „fluent“ sei, ein „German accent“ sei nicht zu hören. Ja, ich habe sogar ein dickes Standardwerk (in Fahrzeug-Aerodynamik) herausgegeben und mitverfasst, in Englisch, Seminare in englischer Sprache gehalten und Bücher darüber herausgegeben. Und Latein; was daran ist Sprache, wenn man es nicht sprechen kann? Schüler damit zwangsweise zu befassen, das hielt ich, nachdem die erste Begeisterung verflogen war, für reine Zeitverschwendung, ja für eine Zumutung. Wenn Ärzte, Theologen und Juristen diese Sprache brauchen, so mögen sie diese doch bitte während ihres Studium lernen, so, wie die Theologen Hebräisch. Die begrenzte Aufnahmefähigkeit des normalen Schülers sollte man besser dafür nutzen, eine weitere Fremdsprache zu lernen: französisch, italienisch, russisch.....
Aber, es gab auch ein Argument für die mathematische Richtung, und das hieß Dr. Haase. Sein Unterricht in Mathe und Physik hat bei mir Interesse für diese Fächer geweckt, vielleicht sogar Begeisterung. Dennoch habe ich später die Entscheidung für den mathematischen Zweig mehr als einmal bereut. Französisch, das hätte ich im Beruf gut gebrauchen können, und ein kleines Defizit in Mathe und Physik hätte ich im Studium leicht ausgleichen können, trotz Iglisch. Später habe ich mit Privatunterricht nicht so viel Französisch gelernt, um in dieser Sprache parlieren, verhandeln zu können – bei einer 70 Stundenwoche in einem aufreibenden Managerjob hatte ich nicht genügend Valenzen für das Erlernen dieser schönen Sprache frei. Immerhin, einer meiner französischen Kollegen bei VDO, Monsigneur Eisenberger von der Fa. Jaeger, erklärte mir unaufgefordert, dass meine Aussprache sehr gut, sehr französisch sei. Später wurde ich sogar einmal in die Jury bei einer französischen Promotion berufen. Das Rigorosum fand in Paris statt, in dem Gebäude der Grand Ecole Physik et Chemie, in welchem Madame Curie gearbeitet hat.