Читать книгу Sindbad - Wolf-Heinrich Hucho - Страница 22

Schwedenfahrt

Оглавление

Höhepunkt meiner fünfjährigen Internatszeit – und zugleich ihr Abschluss – war für mich die Fahrradtour durch Dänemark und Schweden. Hartmut Ziegler, unser Erzieher, hat sie geplant und geleitet. Wer auf die Idee zu dieser Tour gekommen ist, lässt sich nicht mehr ausmachen; sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer, jeder wollte mit. Das war natürlich nicht möglich. Bis nach Stockholm sollte es gehen und sogar noch ein Stück weiter, nach Uppsala, hin und zurück gut 2.500 km mit dem Fahrrad; da sprangen die ersten ab. Schließlich blieb ein harter Kern übrig, 14 Mann, dabei auch Wolfgang Schröter, der inzwischen abgegangen und zu Muttern nach Bremen zurückgekehrt war, ebenso Gert v. Pistohlkors, der bei seiner Mutter in Bayern weilte, dazu Jürgen Lembke – der Sohn unseres Geschäftsführers – er qualifizierte sich zu unserem Koch und, last not least, unser Bos Hartmut Ziegler.

Der war als Student aus der DDR geflüchtet. Um weiter studieren zu können brauchte er Geld. Ob er im Internat seine Kasse merklich aufgebessert hat? Wohl kaum. Im Krieg war er bei der Marine – folglich muss er so um die 30 gewesen sein, als er unser Erzieher wurde – und da war einiges an ihm hängengeblieben. Vor allem das: Mit seiner hellen Stimme weckte er uns jeden Morgen mit dem Aussingen des Befehls „Seemann leg die Socken klar, reise, reise aufstehn“. Ihm fehlte nur die Bootsmannsflöte. Manch einer bekam da die Krise. Mitunter, vor allem bei schlechtem Wetter, erzählte er von seinem Dienst auf dem schweren Kreuzer „Prinz Eugen“, wohl das einzige deutsche Großkampfschiff, das den Krieg überlebt hat. Und auf Föhr besuchte er gern die Eisdiele, die Kapitänleutnant Zumpe in Niblum eröffnet hatte. Dessen Frau wiederum wusste spannende Geschichten zu erzählen; ihr leicht dänisch eingefärbter Vortrag war drollig anzuhören.

Von den Vorbereitungen auf die Tour habe ich nicht viel mitbekommen; ich packte meinen Rucksack – und das war’s auch schon. Die erste Etappe führte uns ostwärts, nach Flensburg. Bei starkem Westwind, ein gutes Omen. Auf den königlichen Konsulaten von Dänemark und Schweden regelte Ziegler die Formalitäten mit dem Sammelvisum – Pässe hatten wir noch nicht. Wir sausten inzwischen in Flensburg herum; für Inselfriesen, auch für naturalisierte, ist diese Stadt ganz schön bergig und eine Gangschaltung hatte niemand von uns. Spät nachmittags ging es über die Grenze, bis nach Apenrade – Aabenraa, wie die Dänen es nennen. Nordschleswig, hat mal zu Deutschland gehört, wusste einer zu berichten. Etwas außerhalb, am Rande eines Wäldchens nahe der Küste bauten wir unsere Kote auf. Das hätten wir vorher mal üben sollen! Die erforderlichen Stangen schlugen wir im Wald, etwas außerhalb der Legalität. Im Kreis aufgereiht passten wir so grade in das oben offene Zelt. Einmal ausgestreckt, und man konnte sich kaum noch bewegen. Es war offensichtlich: die Kote war ein Irrtum. Folglich schliefen wir fortan bei Bauern in der Scheune; nicht ein einziges mal bekamen unsere Emissäre, Ziegler und „Papa Claus“ eine Absage. Fast immer durften wir auch in der Küche kochen. Gleich der erste Bauer, nahe Kopenhagen, war ein voller Erfolg. Wir logierten im Heuboden über dem Schweinestall. Ob wir den Geruch annahmen? Der Bauer, ein junger dynamischer Mann, spendierte uns jede Menge Erdbeeren; er ging als „Erdbeerbauer“ in unsere – leider nie geschriebene – Chronik ein.

In Kopenhagen hatten wir unseren ersten Unfall: jemand fuhr Hein Schulz, der mit den „Hamburger Pfeffersäcken“ zu uns gestoßen war, ins Hinterrad. Die Felge war total verbogen; der Fahrradmechaniker, den wir ausfindig machten, hielt ein Richten für unmöglich. Also musste eine neue her. Das an sich wäre nicht so schlimm gewesen. Aber, die dänischen Räder hatten damals zwei Speichen weniger als die deutschen – inzwischen hat Brüssel das sicher längst durch eine EU-Norm geregelt – und das machte Probleme beim Zentrieren. Das gelang denn auch nicht ganz. So sehr sich der Mechaniker bemühte, das Rad behielt einen Höhenschlag. Fortan musste der arme Hein hoppeln. Auf den holprigen Straßen, die in Schweden auf uns warteten, fiel das nicht weiter auf, und er ertrug das Stuckern mit stoischer Gelassenheit. Nur, wenn er schnell bergab fuhr, dann musste der arme Kerl bremsen, sonst hätte es ihn aus dem Sattel geworfen.

In Schweden praktizierte man damals noch Linksverkehr. Als wir in Helsingborg von der Fähre rollten, gleich beim ersten Abbiegen, gerieten wir auf die falsche Straßenseite. Die anderen Verkehrsteilnehmer nahmen es gelassen und warteten, bis unsere Kolonne vorbei war und sich korrekt eingeordnet hatte. Von da an sind wir mit dem Linksfahren ganz gut zurechtgekommen. Nur, dass einen die Autos rechts überholten, das hat mich bis zum Schluss irritiert. Wir fuhren immer in Zweierreihe, vorn „Papa Claus“ Waller und Hartmut Ziegler, die gaben das Tempo vor und machten Quartier. Das Schlusslicht bildeten Gerhard Mietens, „Käse“ und „Humbus“ Reich, der mit dem Kopf. Sie sorgten dafür, dass niemand achteraus fiel und den Anschluss verlor.

Nur wenige Kilometer nördlich von Helsingborg ein Schild, das uns noch häufig begegnen sollte und großen Verdruss machte: „Belägning uphör!“. Einen Dolmetscher benötigten wir nicht: Nach wenigen Metern hörte der Asphaltbelag auf und wir rollten auf einem holprigen Sandbelag, der mit einer übel riechenden Flüssigkeit feucht und staubfest gemacht war. Speichenbrüche waren an der Tagesordnung, und der Baatz verkleisterte die Kette, so dass sie knirschte. Die meisten Landstraßen waren ohne Asphalt, auch „Rikshuvudvägen 1“, die Reichshauptstraße Nummer 1. Wir radelten durch schier endlose Waldschluchten, zum Glück meist eben. Abwechslung kam nur dadurch ins Spiel, dass wir jede Nacht bei einem anderen Bauern Quartier nahmen. Die Leute waren immer sehr freundlich; viele sprachen gut Deutsch. Sie konnten es gar nicht fassen, dass wir von so weit her kamen nur um ihr Land kennenzulernen. Mit den Jungs, so sich welche zeigten, spielten wir Fußball.

Herr und Frau v. Roth – in Schweden „von Ruut“ gesprochen – hatten über ihre nordischen Verwandten einige Kontakte für uns hergestellt. Als erstes besuchten wir Tulgarn Slot, südlich von Stockholm. Nein, keinen Fürsten oder Grafen sondern den Major Domus, genauer dessen Frau. Hier sah ich zum ersten Mal eine moderne Küche, die sie uns bereitwillig vorführte. Während damals hierzulande die Küchen zumeist mit irgendwelchen Einzelmöbeln bestückt waren, war diese eine Einbauküche mit glatten Fronten, wie sie hier erst Jahre später in die Häuser kam. Hinter dem Schloss ein gepflegter Tennisplatz, auf dem der schwedische König Gustaf VI Adolf – der Vater des gegenwärtigen Königs Karl VI Gustaf – ein echter Tennis-Crack, gern gespielt hat.

Nächste Station war das Anwesen der schwedischen Familie v. Roth, unweit von Stockholm. Das Haus lag in einem urigen Park, eher einem Wald, mit einem kleinen See, auf dem wir eifrig ruderten – bis eine Dolle über Bord ging und wir Mühe hatten, wieder an Land zu kommen. Nachdem wir uns dort ein, zwei Tage erholt hatten, ging es weiter nach Stockholm. Die Stadt machte großen Eindruck auf uns. Viele schöne alte Häuser, nichts zerstört, überall Wasser. Wir wohnten beim KFYM (CVJM) in der Birger-Jarls-Gatan, die Stadt erschlossen wir uns zu Fuß; die „Tunnelbana“ gab es noch nicht.

Eines Abends sollte es weitergehen, Richtung Nord, nach Sigtuna, wo wir ein paar Tage in einem vornehmen Internat verbringen sollten. Als zum Sammeln geblasen wurde, fehlte einer: Hans-Jürgen Kötzold, genannt „Kötz“, auch „Wau“. Schließlich kam er, zu Fuß daher. An seinem Rad war der Rahmen gebrochen: In einer Parkgarage hatte er einen Mann aufgetrieben, eine Art Hausmeister, der sich dort eine kleine Werkstatt eingerichtet hatte. Der hatte ihm zugesagt, den Rahmen zu reparieren. Ich wurde bestimmt, Kötz zu begleiten. Als wir nach einigem Suchen die Garage wiederfanden, hatte der Meister noch nicht angefangen. Wir halfen ihm, so gut wir konnten. Mit einem Spanndraht zogen wir die Bruchstelle vorn am Rahmen zusammen, setzten einen Niet quer durch die Muffe und verlöteten alles hart. Der Rahmen hat tatsächlich bis zum Ende der Reise gehalten.

Im Dunkeln mussten wir nun den Ort finden, wo unsere Leute pennten, eine große Scheune, wir hatten nur die Adresse des Hofes. Unterwegs kamen wir an einem großen Feuer vorbei, ein Hof war am Brennen, Feuerwehr und ein Haufen Leute. „Wau“ war nicht zu halten; unbedingt wollte er mehr von dem Feuer sehen. Nur mit Mühe gelang es mir, ihn loszureißen. Und dann haben wir tatsächlich „unseren“ Hof gefunden.

Weiter nach Sigtuna, wo wir in dem dortigen Internat freundlich empfangen und gastlich aufgenommen wurden. Meine Erinnerung ist bruchstückartig: schöne Zweibettzimmer, noble Gesellschaftsräume, ein krasser Kontrast zu unserer Wyker Barackenwelt. Am meisten imponierte uns die Verpflegung, die war geradezu luxuriös. Abends gab es zwei Mahlzeiten, einmal das normale Abendbrot und dann, so gegen Zehn Uhr, so etwas wie einen Gutenacht Tee. Wir trugen auch ein Fußballspiel aus, mussten allerdings unsere Mannschaft durch zwei aus dem Internat ergänzen. „Pieps“ war bei v. Roths geblieben und Peter Hemer, „Pö“, war gestürzt und hatte mit gebrochenem Arm die Heimreise angetreten, per Bahn. Wir verloren trotzdem. Erst viel später wurde mir klar, dass Sigtuna ein Haus für die Kinder der Creme der Gesellschaft war – und wohl noch ist. Von dort aus unternahmen wir einen Ausflug nach Uppsala, der berühmten Universitätsstadt: ein Riesendom! Vom Domschatz sahen wir, hinter dickem Glas, die Ulfilas Bibel, den Codex Argenteus, die älteste Übersetzung der Bibel in eine germanische Sprache, ins Gotische, mit einer extra dafür von Bischoff Ulfilas entwickelten gotischen Schrift.

Dann traten wir den Rückmarsch an, fast auf dem gleichen Weg, auf dem wir gekommen waren. Die Spannung war raus, bald zeigten sich erste Zeichen der Auflösung. Sichtbar daran, dass unsere geschlossene Formation zeitweise zerfiel, sich über Kilometer hinzog. Das Rad von Hanka Lübbe, „Fips“ (der Affe), drohte zusammenzubrechen; Fips selbst machte schlapp. Ziegler hatte Mühe, uns zusammenzuhalten. Aber, er schaffte es. Abends, beim Bauern kamen wir alle wieder zusammen. Es bewahrheitete sich: Essen und trinken hält Leib und Seele zusammen – selbst eine müde Radlertruppe.

In Helsingborg übernachteten wir im Wondrarhem des Svenska Turist Föreningen, eine Art Jugendherberge. Anderntags mit der Fähre über den Öresund nach Helsingör. Schöner Blick auf das Hamlet-Schloss. Irgendeiner von uns hatte wohl schon mal etwas von Shakespeare gehört – ich war es sicher nicht. In Kopenhagen sintflutartiger Regen. Erinnern kann ich mich nur an ein riesiges Backsteingebäude; das muss die Brauerei Carlsberg gewesen sein, vielleicht auch Tuborg – oder beide – und an die weiße Christusfigur von Thorwaldsen, die mir exaltiert, ja fast kitschig vorkam. An den Rest der Reise habe ich nur noch eine schwache Erinnerung. Der Westwind, angefüllt mit jeder Menge Regen, blies uns ins Gesicht. Wo wir übernachtet haben, einschließlich Kopenhagen zwei oder drei Nächte, ich weiß es nicht mehr. Getrocknet haben wir uns auf der Fähre über den großen Belt. Ich hatte die Nase voll und wollte nur noch eines: nach Hause.

In Flensburg verabschiedete ich mich von der Truppe und machte mich auf den nächtlichen Endspurt nach Husum. Dort kam ich gegen Mitternacht an und musste erst einmal unsere neue Wohnung finden – die Familie war inzwischen vom Hörnhof nach Husum umgezogen, womit unser Flüchtlingsdasein endete. Das Finden erwies sich als ganz einfach. Meine Eltern hatten mir gesagt, dass die Ohlsenstraße die erste Straße sei, auf die man trifft, wenn man über die Flensburger Chaussee nach Husum kommt. Hausnummer und Klingel fand ich, indem ich mir mit dem Dynamo Licht machte. Bimmeln, und ich war daheim.

Sindbad

Подняться наверх