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Kurze Geschichte eines Wunderknaben
ОглавлениеMit der traurigen Geschichte von Christian Heineken, die wir hier nach Hennig (Die Zeit, 1999) erzählen, wollen wir gleich zu Anfang zwei Dinge deutlich machen. Zum einen: Alle Zeitangaben zur kindlichen Sprachentwicklung sind nur grobe Richtwerte; zum anderen: bis heute bleibt vieles am Spracherwerb wundersam und geheimnisvoll.
Christian Heineken, das »Lübecker Wunderkind«, wurde 1721 geboren. Das von Geburt an schwächliche Kind starb dort nicht einmal fünfjährig, wahrscheinlich an einer damals nicht erkannten Lebensmittelallergie. Mit zwei Jahren kann er Latein und Französisch, dazu große Teile der Bibel auswendig, ebenso sein Lieblingsbuch, das Orbis sensualium pictus, Die sichtbar gemahlete Welt des Tschechen Johann Amos Comenius. Er rezitiert Psalmen und Kirchenlieder, denn was man ihm einmal vorgelesen hat, vergißt er nicht.
Sachwissen kommt hinzu, die Genealogien europäischer Herrscherhäuser, die Knochen des menschlichen Skeletts – er saugt alles auf wie ein Schwamm. Das Wunderkind lockt zahlreiche Besucher an, es kommt sogar zu einer Audienz beim König von Dänemark. Lesen kann er natürlich längst, nicht aber schreiben, denn er ist zu schwach, den Griffel zu halten, und die schweren Bücher, die er im Selbstgespräch memoriert, muss man ihm hinstellen und wegbringen, auf- und zumachen. Solang er lebt, wird er weder Gabel noch Löffel benutzen, niemals seine Zähne gebrauchen, etwas abbeißen oder kauen. Seine bevorzugte Nahrung bleibt die Brust der Amme, mit der er schon als zehn Monate altes Baby im vertraut-gemütlichen Platt redet. »Sophie, ik bin so möde, gef my doch de Titte,« heisst es, wenn ihn die Besucher, die so manches Geldstück dalassen, zu sehr anstrengt haben. Als ihm seine Mutter die Gefahren einer Seereise nach Dänemark vor Augen hält, antwortet er: »Madam, Sie haben mir erlaubt zu wählen. Gott der Herr ist auch der Herr der Meere.«
Der Komponist und hamburgische Musikdirektor Georg Philipp Telemann, auch einer der Wunderkindtouristen, widmet ihm ein Epigramm:
Kind, deßen gleichen nie vorhin ein Tag gebahr!
Die Nachwelt wird dich zwar mit ew’gen Schmuck umlauben
Doch auch nur kleinen Theils Dein großes Wißen glauben,
Das dem, der Dich gekannt, selbst unbegreiflich war.
Extremfälle wie Christian, ebenso wie die bedauernswerten Kinder, die sprachlos bleiben und denen wir nicht helfen können, zeigen uns, wie wenig wir noch vom Rätsel des Spracherwerbs verstehen – trotz modernster Erkenntnisse der Sprach- und Hirnforscher.