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Die Muttersprache als akustischer Filter
ОглавлениеOriginäre Fähigkeiten, die durch die Muttersprache nicht gefordert sind, werden abgebaut oder immer weniger aktivierbar. Man lernt also auch durch Verlernen. Wieder ein Schritt, in dem das Gehörte auf Wesentliches heruntergebrochen wird. Der Grad dieser Rückbildung ist für die einzelnen Schallmerkmale unterschiedlich. Einige Fähigkeiten werden sehr stark gedämpft, so daß sie später gar nicht oder nur sehr schwer für den Erwerb weiterer Sprachen aktiviert werden können. Für andere Unterschiede ist die Dämpfung weniger drastisch. Japaner sind z.B. durchaus in der Lage, den Unterschied zwischen /l/ und /r/ zu erlernen. Handelt es sich um Laute, die unserer Muttersprache ganz fremd sind, meistern wir sie eher als solche, die sehr dicht bei unseren eigenen liegen. Hier findet eine Art Verklumpung statt, die es uns enorm erschwert, den Unterschied wahrzunehmen und entsprechend zu artikulieren. Um ein anderes Bild zu gebrauchen: Typische muttersprachliche Laute verhalten sich wie Magnete, die benachbarte, ähnliche Laute in ihr Kraftfeld saugen, bis sie mit ihnen verschmelzen.1 Bei Japanern funktioniert also das /r/ wie ein Magnet, das alle /l/ an sich zieht, so daß es für sie wie /r/ klingt – was auch zu Fehlschreibungen wie »umbrerra« statt »umbrella« führt. Bei den Chinesen ist es umgekehrt, sie bringen von beiden Lauten nur das /l/ zuwege.
So kommt es, daß wir gewöhnlich Fremdsprachen mit erkennbarem AkzentAkzent (von der Norm abweichende Aussprachenuancen) sprechen. Die Erstsprache ist wie ein akustischer Filter, der sich über die dazukommenden Sprachen legt. Begegnet man einer weiteren Sprache noch vor der Pubertät, kann man sie unter günstigen Umständen akzentfrei erlernen. Italienische Immigranten in New York wurden danach beurteilt, wie weit sie akzentfreies Englisch sprachen. Das Alter bei der Ankunft in New York variierte zwischen sechs und zwanzig Jahren, die Aufenthaltsdauer variierte zwischen fünf und achtzehn Jahren. Es zeigte sich, daß das Alter bei der Ankunft viel entscheidender als die Aufenthaltsdauer war: je jünger, desto weniger Akzent.2 Was die Klangwelt der Sprachen anbetrifft, müßte man also, wie in den Waldorfschulen üblich, mit den Fremdsprachen früh anfangen. Der geniale Rudolf SteinerSteiner, Rudolf hat es erahnt:
Die Sprache, die der Mensch als seine Muttersprache aufnimmt, wurzelt sich ganz tief in das Atmungssystem, in das Zirkulationssystem, in den Bau des Gefäßsystems, so daß der Mensch nicht nur nach Geist und Seele, sondern nach Geist, Seele und Körper hingenommen wird von der Art und Weise, wie sich seine Muttersprache in ihm auslebt.3
»Jeder trägt seine Sprache wie eine unauslöschliche Tätowierung, die allen bis an sein Lebensende verraten wird, in welche Gruppe er gehört.«4 ZugehörigkeitZugehörigkeit zu signalisieren (und Fremde auszugrenzen!) ist denn auch der evolutionsbiologische Sinn des Auseinanderfallens unserer Sprachbegabung in Tausende von Sprachen und Dialekten.