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Der Vorsprung des Hörens
ОглавлениеSprechen ist auf das Hören angewiesen. Wenn jemand völlig ertaubt, muß er ständig Spezialübungen absolvieren, um seine Artikulation so zu erhalten, daß man ihn gut versteht. Obwohl er jahrelang gesprochen und damit seine Sprechorgane bestens eingestellt hat, braucht er die Rückmeldung der Ohren. Für Taubgeborene ohne Hörreste ist die Anbildung einer Lautsprache eine Plackerei, und ihre Artikulationen bleiben den meisten unverständlich. Das Wunder des Sprechenlernens beginnt mit dem Hören, denn die Ohren sind der Reglerknopf, mit dem wir unsere Sprechorgane einstellen.1
Beim normalsinnigen Kind geht das Hören dem Sprechen immer voraus. Der Ausdruck folgt dem Eindruck, die Sprachproduktion der Sprachaufnahme oder -rezeption. Es kann sein, dass Kinder, die knapp 20 Wörter sprechen, schon an die 200 Wörter verstehen.2
Der Vorsprung des Hörens wirkt sich auf zweierlei Art aus.
1. Kinder können schon Laute hörend unterscheiden, bevor sie diese Laute selbst gezielt hervorbringen können. Ihr Hörverstehen differenziert feiner als ihr Sprechen. Dazu drei Beispiele:
Die zweijährige Jenny ist gerade von einem Nachmittagsschläfchen aufgewacht. Als der Onkel hereinkommt, deutet sie in Richtung Fenster.
Jenny: Ho ah ho!
Onkel: Ho – ah – ho? Das versteh ich aber nicht.
(Jenny verdeckt die Augen mit ihrem Stofftier, als ob sie sich schämt)
Onkel (zur Tante, die hereinkommt): Ho – ah – ho, was ist das?
Jenny (deutet wieder in Richtung Fenster und wiederholt): Ho – ah – ho!
Tante: Rolladen hoch, heißt das doch. Was ist der Wolfgang auch dumm. (Die Rolladen sind hochgezogen, Jenny weist also auf etwas hin, fordert nicht auf)
Jenny: Ja!
Onkel: Ho – ah – ho!
Jenny: Nein, ho u ah – ho (sie artikuliert also etwas anders als vorher)
Onkel: Rolladen hoch.
Jenny: Ja.
Die Tatsache, daß Jenny die eigene unvollkommene Lautung von anderen nicht akzeptiert, beweist eindeutig, daß sie über ein korrekteres Hörbild verfügt, als ihre Lautproduktion vermuten läßt. Nur so kann sie der Illusion erliegen, sie habe richtig artikuliert. Man kann solche Zwischenfälle bewußt provozieren:
Jenny (weist auf ein Regal mit einem Spielkasten): Das ist mein Piel!
Onkel (obwohl er verstanden hat): Ja, dein Piel.
Jenny: Nein, Piel!
Onkel: Natürlich, dein Piel.
Jenny (ärgerlich): Nein, Piel.
Das Kind merkt, daß es hier auf den Arm genommen wird. Ob es sich aber klar darüber ist, daß es noch nicht sprechen kann, wie es hört? Es hört ja durchaus richtig und akzeptiert das falsche Klangbild von anderen nicht. Sein Artikulationsvermögen reicht jedoch nicht aus, um nun selbst die korrekte Lautung (»Spiel«) zu produzieren. Ebenso Olivia, die nach ihrem »Flack« verlangt. Als die Mutter sie nicht versteht und »Flack?« sagt, wird sie ungeduldig, gar zornig. Sie will »Schlafsack« hören und meint wohl, genau dies sage sie ja. Lustig auch, wie ein Zwilling (Anwar) den andern (Nanu) korrigieren will, obwohl sie beide noch nicht »schön« sagen können:
Nanu: Ssön.
Anwar: Nanu, nis ssön, ssön!
Nanu (wiederholt brav): Ssön.
Diese Beispiele belegen eindeutig das Gefälle zwischen Hör- und Sprechvermögen.
Ein abschreckendes Beispiel von protestantischer Gehorsamserziehung aus dem vergangenen Jahrhundert gibt Samuel ButlerButler, Samuel in seinem Roman Der Weg allen Fleisches aus dem Jahre 1903. Ein Besucher schildert, wie der Pastor Theobald seinen Sohn erzieht:
Er war jedoch in der Aussprache des K noch sehr weit zurück, und anstatt komm sagte er tomm, tomm, tomm. Ernest, sagte Theobald aus seinem Lehnstuhl vor dem Kamin, wo er mit gefalteten Händen saß, meinst du nicht, es wäre sehr schön, wenn du komm sagen würdest wie die anderen Leute, statt tomm? Ich sage ja tomm, erwiderte Ernest und glaubte, komm gesagt zu haben. (…) Theobald bemerkte sofort, daß Ernest ihm widersprochen hatte. Er stand aus seinem Lehnstuhl auf und ging zum Klavier. Nein, Ernest, das tust du nicht, sagte er, du sagst es ganz falsch, du sagst tomm, nicht komm. Sprich mir jetzt nach komm, genau wie ich. Tomm, sagte Ernest sofort, ist das jetzt besser? Zweifellos glaubte er, es sei besser, aber das war nicht der Fall. Nun, Ernest, du gibst dir keine Mühe (…) Laß dir Zeit, überlege gut und sprich mir nach: komm. Der Junge blieb einige Sekunden stumm und sagte dann wieder tomm. Ich mußte lachen, aber Theobald drehte sich ungeduldig nach mir um und sagte: Lach bitte nicht, Overton. Der Junge denkt sonst, es käme nicht darauf an, aber es kommt sehr darauf an. Dann wandte er sich Ernest zu und sagte: Ernest, noch einmal darfst du es versuchen, und wenn du wieder nicht komm sagst, dann weiß ich, daß du eigensinnig und unartig bist. Er blickte sehr böse, und ein Schatten flog über Ernests Gesicht, ganz wie bei einem jungen Hund, der gescholten wird, ohne zu wissen, warum. Der Junge wußte genau, was nun kommen würde, wurde ängstlich und sagte natürlich wieder tomm. Also gut, Ernest, sagte sein Vater und packte ihn ärgerlich an der Schulter. Ich habe mein Bestes getan, um es dir zu ersparen, aber wenn du es so haben willst, sollst du es haben, und er zerrte den armen kleinen Kerl, der schon im voraus weinte, aus dem Zimmer. Ein paar Minuten später hörten wir lautes Schreien aus dem Speisezimmer über der Diele, die zwischen Wohnzimmer und Speisezimmer lag, bis zu uns herüberdringen und wußten, daß der arme Ernest Prügel erhielt.3
2. Der Vorsprung des Hörens betrifft auch Wortschatz und Grammatik. Kinder können nicht nur besser hören, als sie sprechen, sie verstehen auch weit mehr, als sie ausdrücken können. Sie können bestimmte Frage-, Relativ- oder Passivsätze, die ihre Eltern verwenden, genau verstehen, bevor diese Konstruktionen in ihren eigenen Äußerungen auftauchen. Hans z.B. reagiert sinngemäß auf und, lange bevor dieses Bindewort in seinem aktiven Sprachschatz auftaucht:
Mutter: | Wen hast du lieb? |
Hans (1;11): | Mama. |
Mutter: | Und? |
Hans: | Papa.4 |
So richten sich Eltern in ihrer Sprechweise primär nicht nach den artikulatorischen und auch nicht unbedingt nach den lexikalischen und grammatischen Fähigkeiten der Kleinen. Ihr ganzes Bestreben ist vielmehr, sich dem Kind verständlich zu machen. Alles andere ist diesem Ziel untergeordnet. Nach Sprechbeginn – etwa um den 12. Lebensmonat herum – gehen sie dem Kind in Grammatik und Wortschatz immer einige Schritte voraus – solange sie dabei verstanden werden. Wie könnte es sonst dazulernen? Clara und William SternStern, Clara und William, die die Sprachentwicklung ihrer drei Kinder genau beobachteten, nennen dies das Prinzip der MehrdarbietungMehrdarbietung.5 So wäre es auch grundfalsch, wenn Eltern sich ihrerseits ihren Kindern anpaßten und dut oder tommen statt gut oder kommen sagten. Statt ihnen entgegenzukommen, würde man sie nur verwirren: Sie hören ja schon weitaus genauer, als sie sprechen. Gegen den Gebrauch von Babywörtern wie Wauwau, Ticktack oder Puff-Puff ist allerdings nichts einzuwenden. Ja, es wäre töricht, auf solche anregenden lautmalenden Wörter zu verzichten, die in ähnlicher Form in den verschiedensten Sprachen wiederkehren.
Das Gefälle vom Verstehen zum Sprechen bleibt zeit unseres Lebens bestehen. Der zeitliche Vorsprung des hörenden Verstehens wandelt sich in einen quantitativ-qualitativen. Jeder von uns gewöhnt sich einen eigenen, individuellen Sprechstil an. Aber wir sind in der Lage, viele unterschiedliche Sprechstile und dialektale Färbungen zu verstehen. Ein ähnliches Gefälle besteht zwischen dem Lesen und Schreiben. Wir können noch die Luther-Bibel ebenso wie die langen Satzperioden in den Novellen von Heinrich von KleistKleist, Heinrich von verstehen, aber schreiben könnten wir so nicht. Mario WandruszkaWandruszka, Mario spricht von dem riesigen Umkreis des Verstehens rund um das eigene Verwenden.6