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Frühe Verluste des Hörens

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Mit sechs Monaten differenziert das Kind schon unterschiedliche Silbenlängen und Satzmelodien und ortet die Grenzen zwischen Sätzen, die in vielen Sprachen durch Verlängerung der letzten Sprechsilbe, Absenken der Stimme und kurzer Sprechpause danach markiert sind. Offen für alle Sprachen der Welt, stellt es sich aber noch vor dem Sprechbeginn auf die Unterschiede in den Sprachen ein, die ihm zugesprochen werden. Die Einzelsprachen nutzen ja nur jeweils einen für sie charakteristischen Teil der möglichen distinktiven Schallmerkmale. So kennen Japaner den Unterschied zwischen /r/ und /l/ nicht, die Finnen nicht den zwischen /f/ und /v/, die Spanier nicht den zwischen /v/ und /b/. Sie alle haben entsprechende Schwierigkeiten beim Erlernen des Deutschen, wo reiten und leiten, fühlen und wühlen, Besen und Wesen Verschiedenes bedeuten. Japanische, finnische und spanische Kleinkinder hören diese Unterschiede durchaus, während sich diese Fähigkeit bei Erwachsenen stark zurückgebildet hat. Besen oder Wesen: Spanier hören hier kein neues Wort, für sie ist es dasselbe. Unser Ohr wird also für die Muttersprache insofern geschärft, als die von ihr nicht verwendeten Lautkontraste ausgeblendet werden, ein Gewinn, der zugleich ein Verlust ist. Sprechen Sie Ihrem Vorschulkind die englischen Zahlen vor. Es wird one wie deutsch wann, natürlich three wie sri, five wie faif und eight wie eht aussprechen, weil es zunächst genau das auch hört. (Dass z.B. das lange e der natürliche Ersatzlaut für den englischen Doppellaut /ei/ ist, kann man daran erkennen, dass Englisch cakes im Munde der Deutschen zu Keks wurde.) – Ebenso können noch Fünfjährige kleinste Tonhöhenunterschiede in beliebigen musikalischen Konstellationen wahrnehmen, danach verschwindet diese Fähigkeit. Denn auch hier stimmen sich die Kinder auf die Klangwelt ihres Kulturkreises ein und verlieren Fähigkeiten, die ihnen nicht abgefordert werden. Solche Möglichkeiten, die in uns stecken, verkümmern wie eine Blume, die man zu gießen vergisst.

In einer Studie (unter mehreren ähnlich gelagerten) wurden englische Säuglinge geprüft, ob sie den Unterschied wahrnehmen zwischen einem t, das mit zurückgebogener Zungenspitze gegen den harten Gaumen artikuliert wird (retroflexes t), und einem englischen oder deutschen t, wo man die Zungenspitze gegen die oberen Zähne drückt (dentales t). Dieser Unterschied ist im Hindi, einer Sanskritsprache, wichtig, im Englischen (oder im Deutschen) nicht. Bis zum Alter von sieben Monaten konnten auch jene Kinder, die in einer englischen Umgebung aufwuchsen, diese Unterscheidung ohne Schwierigkeiten wahrnehmen, und zwar so gut wie Kinder aus einer rein hindisprachigen Umgebung. Anschließend verändert sich diese Fähigkeit. Im Alter von etwa neun Monaten nimmt sie bei den englischsprachigen Kindern ab; schon zwei Monate später ist sie bei der überwiegenden Mehrzahl fast verschwunden, und im Alter von etwa vier Jahren sind nicht einmal mehr Reste davon nachweisbar. Selbst Einüben brachte bei den Erwachsenen dieser Studie keinen Erfolg.1

Um all dies herauszufinden, hat man wieder die Veränderung der Nuckelgeschwindigkeit gemessen. In vereinfachter Darstellung: In ruhigem Rhythmus wird die Silbenkette ba-ba-ba … vorgespielt. Die Kinder nuckeln langsam vor sich hin. Dann verändert man das Signal zu pa-pa-pa … Horcht das Kind jetzt auf, indem es genau an diesem Punkt regelmäßig und kurzfristig die Nuckelrate verändert (die sich bald auf den alten Wert einpendelt), hat es wohl einen Unterschied bemerkt. Andere Forschergruppen haben stattdessen die Veränderungen der Herzschlagfrequenz gemessen – mit ähnlichen Ergebnissen.2

Wieder zeigt sich eine sensible PhaseSensible Phase, eine Zeit erhöhter Empfängnisfähigkeit und Ansprechbarkeit, in der wir bestimmte Dinge besonders leicht lernen. Später sind wir nicht mehr im gleichen Maße aufnahmebereit – wahrscheinlich weil wir, wie alle Organismen, mit unseren Kräften haushalten müssen. Fazit: Kinder spezialisieren sich sehr früh – im Alter von sechs Monaten – auf ihre Muttersprache. Gegen Ende des ersten Lebensjahres haben sie sich weitgehend auf ihre Klangwelt eingestellt. Neun Monate alte Babys kennen nicht nur muttersprachliche Melodien und Betonungsmuster, sie haben auch schon ein Ohr für die typischen in ihrer Sprache zulässigen Lautfolgen. So würden deutsche Kinder die Folge kn im Wortanlaut (wie in Knie, Knoten) bevorzugt anhören, nicht aber englische, denn im Englischen ist kn nur noch im Schriftbild existent (knee, knot). Solches »Wissen« wiederum verhilft dazu, Wörter in fortlaufender Rede zu unterscheiden. Man spricht vom statistischen LernenStatistisches Lernen, Phonotaktik. Das schnelle Erkennen muttersprachlicher Lautfolgen ist hier der Gewinner. Als polyglotte Weltbürger geboren, werden unsere Kleinkinder schon bald zu Staatsbürgern.

Wie Kinder sprechen lernen

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