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Das Baby entdeckt seine StimmeStimme
ОглавлениеEin Orchester wird gestimmt. So umschreibt Desmond MorrisMorris, Desmond die Zeit, bis die ersten Wörter auftauchen.1 Das Baby will lernen, dabei sein, mitmischen. Die Mutter will verstehen und helfen. Natürlich will sie keinen Unterricht geben. Aber sie will mit ihrem Kind kommunizieren. Und diese Bereitschaft erweist sich für das Baby als ungeheuer lehrreich.
Wenn das Baby seine Stimme entdeckt, so geschieht das unter Führung der Eltern, die bereit sind, den Schwankungen der kindlichen Aufmerksamkeit zu folgen, und mit der Empfindlichkeit eines Seismographen auf jeden Fortschritt zu reagieren.
Was passiert auf dem Weg vom ersten Schrei zum ersten sinntragenden Wort? Neben dem Schreien, seinem Alarmruf, verfügt der Säugling nach HassensteinHassenstein, Bernard über weitere, vermutlich angeborene Lautsignale, die als Vorstufen der weiteren Lautentwicklung gelten.2 Sprechen entwickelt sich allerdings nicht direkt aus Schreien und Weinen, sondern aus der Technik, den Atem mit Stimme zu füllen. Doch ist auch das Schreien eine Art Training, das sich schrittweise zu komplizierten Melodiebögen entfaltet. In Wechselwirkung von Ausreifung und Einübung muß das Baby lernen, seine Atmung zu steuern, um seine Stimme zu entwickeln. Es dauert seine Zeit, bis es überhaupt wohlgeformte Sprachlaute hervorbringen kann. Dazu muß sich beim Neugeborenen auch noch anatomisch etwas verändern: zwischen dem dritten und sechsten Monat wird sich sein Kehlkopf absenken und der obere Stimmtrakt so ausgestalten, daß allmählich die notwendigen Resonanzbedingungen (Hohlräume) für die Bildung von Vokalen und Konsonanten entstehen. Anfangs sitzt der Kehlkopf noch so hoch im Rachen des Säuglings, daß der Nahrungsbrei seitlich daran vorbei in die Speiseröhre gelangen und er somit gleichzeitig saugen und atmen kann, ohne sich zu verschlucken. Nach dem Umbau zugunsten der Sprache muß er in Kauf nehmen, auch einmal Nahrung in die Luftröhre zu bekommen. Erst gegen Ende des ersten Lebensjahres ist dieser Umbau abgeschlossen und sind die Voraussetzungen für differenzierte sprachliche Artikulationen geschaffen.
Auf diese Weise ist ein in der Natur einzigartiges, vollkommenes Instrument entstanden, das unter Kontrolle des Zentralnervensystems so vielgestaltige Lautkombinationen ermöglicht, daß es nicht nur als das höchstentwickelte Kommunikationsmittel, sondern auch als ausdrucksreiches Musikinstrument und – nicht zu vergessen – als ein erstes, biologisch entworfenes Spielzeug des Kindes zur Geltung kommt.3
Alles Leben ist allerdings nur insoweit vollkommen, wie es das große Überlebensspiel der Natur verlangt.