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Kategoriales HörenHörenkategoriales Hören

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Max TauTau, Max, der 1950 als erster den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, erzählt folgende moderne chassidische Geschichte:

Ein alter Rabbi in Jerusalem wurde sehr schwer krank. Sein junger Arzt wollte ihn ablenken, und er brachte ihm einen Radioapparat. Damit spielte er BachBach, Johann Sebastian und alle Musik, die der alte Rabbi liebte, und dann brach er voller Entzücken aus. »Rabbi, sehen Sie das Gerät, und denken Sie dann, daß die Musik aus Amerika kommt. Ist das nicht ein Wunder?« – »Nein, mein lieber junger Freund«, antwortete der Rabbi, »das ist kein Wunder.« Dann zeigte er auf sein Ohr. »Daß dies hört, das ist ein Wunder.«1

Alle unsere Sinne sind hochkomplexe, aus vielen Teilleistungen zusammengesetzte Systeme. Schon das Neugeborene kann den Schall orten: Es dreht den Kopf zur Schallquelle hin. Dieses räumliche Hören kommt zustande, indem sein Gehirn den Zeitunterschied zwischen der Ankunft des Schalls an dem einen und dem anderen Ohr auswertet. Ein klares Beispiel für eine angeborene Fähigkeit, denn der kleine Unterschied wird uns nicht einmal bewußt. Wir überhören ihn, nicht aber unser Gehirn, sonst könnten wir ja nicht wissen, woher ein Ton kommt, es sei denn, wir sehen seine Quelle. Und es ist gut so, daß wir den Unterschied nicht bewußt erleben: Die bewußte Wahrnehmung bleibt frei für andere Dinge. Erwachsene können übrigens Schälle präziser lokalisieren als Kleinkinder: mit dem Körperwachstum nimmt der Abstand zwischen den Ohren zu und damit auch die Zeitdifferenz im Millisekundenbereich, die das Hirn verrechnen kann.

Räumlich riechen können wir allerdings nicht. Wahrscheinlich liegen unsere Nasenlöcher zu dicht beieinander, als daß wir mit ihnen ermitteln könnten, aus welcher Richtung ein Duft kommt. Aber Schlangen riechen stereo. An beiden Enden ihrer gespaltenen Zunge befinden sich empfindliche Sinnesorgane, die Chemikalien orten können. Registriert die eine Spitze eine geringfügig höhere Konzentration einer Substanz als die andere, ermittelt das Gehirn aus dem Vergleich beider Werte die Fluchtrichtung der Beute, die diesen Stoff abgibt. Beim Richtungshören wird ein Zeitunterschied, beim Richtungsriechen ein Unterschied im Verdünnungsgrad verrechnet.

Die Ortung einer Schallquelle ist nur eine Teilleistung des komplexen Systems, das wir Hören nennen. Normalerweise hören wir kontinuierlich, d.h. wir nehmen feine Übergänge wahr, bei der Schallortung ebenso wie bei der Tonhöhe und Lautstärke. Zum menschlichen Hören gehört aber noch eine andere Leistung, die nicht nach dem Mehr-oder-weniger-Prinzip arbeitet.

Sprachliches Hören geschieht auf der Grundlage von Entweder-oder-Entscheidungen. Ein Sprachlaut ist für unser Gehör entweder stimmhaft oder nicht stimmhaft, nasal oder nicht nasal, gerundet oder nicht gerundet; dabei ist es unerheblich, wie stark das jeweilige Merkmal im Einzelnen ausgeprägt ist. Auf dieser Grundlage kann das menschliche Gehirn die erforderlichen Entscheidungen viel schneller und damit effizienter treffen als bei kontinuierlicher Wahrnehmung. Es würde zuviel Zeit erfordern, in jedem Einzelfall den genauen Grad, z.B. an Stimmhaftigkeit, Nasalität oder Lippenrundung, zu prüfen. Denn das Ohr hat nur 20–40 Millisekunden Zeit, um etwa den Unterschied zwischen pa und ba wahrzunehmen. Allerdings kann es schon zwei feine Klickgeräusche als getrennt wahrnehmen, wenn sie nur drei Millisekunden auseinanderliegen. Unser Tastsinn braucht da schon zehn Millisekunden Differenz, um zwei Reize als nicht mehr gleichzeitig aufzufassen; beim Sehen müssen unter optimalen Bedingungen mindestens zwanzig Millisekunden zwischen zwei Reizen liegen, damit wir sie als getrennt wahrnehmen.Pinker, Steven2

Was wir als Vokale und Konsonanten wahrnehmen, sind somit Klassen oder Kategorien individueller Geräusche. Die Unterschiede zwischen den Klassen vernehmen wir, die Unterschiede zwischen den einzelnen Geräuschen innerhalb einer Klasse überhören oder vernachlässigen wir. Wir nehmen nicht wahr, wie unterschiedlich ein stimmloses pa ausgesprochen wird, es bleibt ein pa. Aber die Grenze zum stimmhaften ba wird messerscharf lokalisiert; ba klingt für deutsche Ohren eindeutig weicher als pa, obwohl dieser Unterschied akustisch nicht größer ist als zwischen Varianten von pa. Im Innenohr werden gewisse Unterschiede erfaßt und durch eine rund tausendfache Schallverstärkung verschärft. Dabei werden andere – rein akustisch gesehen ebenso große – Unterschiede als nicht existent erklärt und übersehen. Diese Art von Entweder-oder-Wahrnehmung heißt kategoriale Wahrnehmung. Elemente eines Kontinuums werden getrennten Kategorien zugeordnet, Zwischenstufen nicht zugelassen. Es kommt darauf an, die einkommenden Hörreize auf Wesentliches herunterzubrechen, eine wichtige Einsparung! Unsere Wahrnehmung vollzieht einen scharfen Schnitt und erleichtert damit unser Sprachverstehen.

Mit dem Begriff der »kategorialen Wahrnehmungkategoriale Wahrnehmung« ist auch schon gesagt, daß es nicht allein um das Hören geht. Alle unsere Sinnesorgane benutzen diese Strategie der Kontrastbetonung, um wichtige Informationen aus dem ständigen Zustrom von Reizen zielgenau herauszufiltern. Wo diese Kontraste gesetzt oder nicht gesetzt werden, darüber entscheidet der jeweilige sprachliche Input.

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