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Babys: Geborene Statistiker
ОглавлениеHören wir eine uns ganz fremde Sprache, so erleben wir zunächst ein undurchdringliches Chaos. Und doch hat jede Sprache nicht nur ihre ausgewählten Laute, sondern auch bestimmte Lautfolgen, die sehr wahrscheinlich, andere, die zwar möglich, aber doch selten sind und solche, die überhaupt nicht auftauchen. Noch feiner könnte ein Statistiker analysieren, welche Laute bzw. Lautfolgen bevorzugt am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Wortes erscheinen. Im Deutschen, aber auch im Englischen sind Anfangslaute mit schr… (Schraube, schreiben; to shrink) geläufig, es gibt jedoch keinen Wortbeginn mit sri. »Sri Lanka« ist somit sofort als ein nicht aus dem Deutschen oder Englischen kommendes Wort identifizierbar. Zieht unser Statistiker dann auch noch typische Betonungsmuster und Pausenlängen mit ins Kalkül ein, wird er schon einige Wort- und Satzstrukturen bestimmen können, besonders in Kombination mit ebenso regelmäßig wiederkehrenden Bedeutungen. Es werden also Informationen aus unterschiedlichen Quellen aufeinander bezogen: Lernen in der Schnittstelle. Die Hirnforschung hat mit dem Modell von neuronalen Netzwerken gezeigt, dass unser Gehirn für solche statistischen Analysen geradezu prädestiniert ist. Schon 8 Monate alte Kinder analysieren den sprachlichen Input erfolgreich nach solchen regelmäßigen Wiederholungen im Gehörten, natürlich automatisch und unbewusst, und können schon bald wiederkehrende Silbenmuster als Einheiten erfassen, noch vor Sprechbeginn. »Zufälle« wollen sie nicht wahrhaben, sie vermuten hinter einem Zusammentreffen einen Zusammenhang, sie wollen ein System herauslesen. Diese erstaunliche, elementare Fähigkeit der MustererkennungMustererkennung gilt für Lautfolgen ebenso wie für Kombinationen von Wortteilen und Wörtern, sprich Grammatik, und für nichtsprachliche Informationsverarbeitung.
Man nehme vier dreisilbige Kunstwörter wie dapiku, tilado buropi und pagotu und spiele sie in einer Zufallsreihenfolge zwei Minuten ununterbrochen vor (dapikutiladoburopipagotuburopitiladodapikupagotu……). Babys, Kinder und auch Erwachsene haben aus dem Gehörten dann zweifelsfrei die vier Kunstwörter herausgefiltert. Völlig unbewusst haben statistische Auftretenswahrscheinlichkeiten die Analyse geleitet. Nach da folgt immer ein piku, nach ti ein lado, nach bu ein ropi und nach pa immer ein gotu. Weiterhin: Nach einem ku folgt mit 25prozentiger Wahrscheinlichkeit immer entweder ein ti, bu, pa oder da. Für die Anfangssilben der anderen Kunstwörter gilt dies analog.
Babys erfassen also über Auftretens- und Übergangswahrscheinlichkeiten von einer Silbe zur nächsten die für die jeweilige Sprache typischen Gruppierungen und können somit einen Fuß in die Tür des ununterbrochenen Lautzuflusses stellen und Hinweise nutzen, wo wohl einzelne Worte aufhören und andere beginnen. Später sind es dann z.B. die Veränderungen an den Wörtern, die grammatischen Markierungen, die ebenfalls in ihrer Häufigkeit erfasst und danach auch gegliedert werden. Das Erstaunliche: solche Analysen leistet unser Gehirn einfach so. Wir brauchen noch nicht einmal konzentriert bei der Sache sein. Unser Gehirn, dieser ausgebuffte Statistiker, munitioniert unser Erkenntnisvermögen vom Säuglingsalter an nahezu unentwegt und unbemerkt. Wir können es eben. Überhaupt kann der Mensch viel mehr, als er bewusst versteht.1