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Frühe ZweisprachigkeitZweitsprache, Zweisprachigkeit: Phase des Zuhörens
ОглавлениеKinder, die plötzlich in eine rein fremdsprachige Umwelt versetzt werden, bleiben erst einmal stumm, so z.B. englischsprachige Kinder im Alter zwischen vier und neun Jahren, deren Familien es ins französischsprachige Genf verschlagen hatte. Einige sagten monatelang nichts. Andere fingen sechs bis acht Wochen nach Aufnahme in der Schule zu sprechen an. Ihre ersten Äußerungen waren Grußformeln wie au revoir, salut, bonjour, Madame. Dazu kamen Zurufe, Floskeln wie regarde, tiens, allez-y (= schau her; halt mal; macht schon) und der Selbstbehauptung dienende Verlautbarungen wie moi bébé (= ich bin das Baby, ich spiele das Baby).1
J. M. Coetzee, der Nobelpreisträger, der in Südafrika englischsprachig aufwächst, verbringt die langen Sommerferien auf der Farm seiner zweisprachigen Verwandten. Da ist er glücklich. Er ist vier oder fünf und spielt dort den ganzen Tag mit den Kindern der Schwarzen, die nur Afrikaans sprechen. Es gibt keine anderen Spielkameraden. Er mimt und gestikuliert und möchte manchmal herausplatzen mit all den Dingen, die er sagen will und nicht sagen kann. Langsam aber stauen sich die fremden Worte in ihm auf, bis sie plötzlich aus ihm heraus brechen. Er erinnert sich, wie er zu seiner Mutter stürzt und ruft: »Listen! I can speak Afrikaans!«2
Aufschlußreich ist das Beispiel der sechzehnjährigen Susanne, die aufgrund der Versetzung des Vaters nach Brüssel in eine Schule mit Französisch als Verkehrssprache eintritt. Aber mit Verständigung und Freundschaften war es lange Zeit nichts, erinnert sie sich. »Ich saß ein ganzes Jahr da, stumm wie ein Fisch und verstand weder Lehrer noch Mitschüler. Ich hatte solches Heimweh nach Deutschland, daß ich am liebsten weggelaufen wäre.« Nach einem Jahr riet die Schulleitung, das Mädchen von der Schule zu nehmen, da sich ihre Sprachkenntnisse nicht gebessert hätten. Das war vor den Sommerferien. »Aber nach den Sommerferien machte ich endlich meinen Mund auf und sprach französisch. Ich mußte das ganze vergangene Schuljahr hindurch Französisch geradezu aufgesogen und gespeichert haben.«3 Dieses extrem lange Eintauchen in die Fremdsprache – Immersion genannt – ist zunächst einmal eine Phase des Nichtverstehens bzw. des Verstehenlernens. Vielleicht gesellte sich bei Susanne auch eine Art Kulturschock dazu. Bis der – emotionale und kognitive – Knoten schließlich platzte und sie bereit war zu sprechen.
Kinder, die einfach ins kalte Wasser geworfen werden, tauchen zunächst einmal unter. Sie tauchen auch wieder auf, brauchen aber Zeit zum Einhören und Verstehen. Vor einigen Jahren wurden im Elsaß von einer Elterninitiative zweisprachige Kindergärten organisiert. Die Kinder wurden die halbe Woche von einer deutschen und die andere halbe von einer französischen Erzieherin betreut, die beide nur ihre Muttersprache benutzten. Die meist französischsprachigen Kinder machten mit, hörten zu, antworteten aber fast nur französisch. So ging das monatelang, so daß einige Erzieherinnen schon an dem Sinn des Experiments zweifeln wollten. Aber nach einem Jahr fingen sie an zu sprechen. Das von dem Linguisten Jean PetitPetit, Jean wissenschaftlich begleitete Experiment war erfolgreich, weil die Kinder die fremde Sprache nicht als Lehrstoff, sondern als gelebte Wirklichkeit entdecken konnten und sich Zeit für sie nehmen durften.4
Ich habe viele dieser Kindergärten besucht, und immer normale, fröhliche Kinder erlebt, und keinen Druck, der von einer fremden Sprache ausging. Da wir heute alle Englisch als Welt- und Wissenschaftssprache brauchen, könnten wir uns diese Erfahrungen zunutze machen und damit beginnen, Englisch im Kindergarten zu leben – dort, wo die personellen Voraussetzungen stimmen.
Wenn uns erst im Grundschulalter fremde Sprachen begegnen, dann ist die Muttersprache der Ton, auf den unser Sprachinstrument gestimmt ist.