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Verzögerte Sprachentwicklung durch versteckte Hörprobleme

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Das Hören ist unser erstes Einlasstor zur Welt da draussen, denn wir beginnen ja schon im Mutterleib auf Stimmen zu lauschen. Es steht wohl auch am längsten offen, denn selbst im Koma kann man zuweilen noch hören. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die auditive Reifung der zentralen Hörbahn erst im dritten Lebensjahr abgeschlossen ist und eine verzögerte Sprachentwicklung ihren Grund in Reifungsstörungen der Hörbahn haben kann. Letztere kann nur dann ungestört ausreifen, wenn sie durch ein gutes Sprachangebot stetig in Anspruch genommen wird, das eben auch zu ihr gelangt und von ihr weitergeleitet werden kann. Das ist bei Schwerhörigen nicht der Fall.1

Wenn Vierjährige immer noch hot statt rot oder Tuchen statt Kuchen sagen, so sind dies Schwierigkeiten, mit denen eine Zeitlang jedes Kind zu ringen hat. Laute werden falsch gebildet, durch andere ersetzt oder einfach ausgelassen. Vielen fällt das r schwer (sog. Rhotazismus), den meisten die Zischlaute s, sch, x, z (sog. Sigmatismus). Nur: mit dem vierten bis fünften Lebensjahr sollte das Kind darüber hinweg sein. Wo das nicht der Fall ist, werden Kinder über kurz oder lang von anderen nachgeahmt, verspottet und eingeschüchtert – was es ihnen nur noch schwerer machen wird, ihre Artikulationen zu verbessern. Schlimmer noch: Die eine Schwierigkeit zieht die andere nach sich. Lese- und Schreibschwächen (LegasthenieLegasthenie) sind vorprogrammiert, so daß schließlich fast alle Schulfächer, nicht nur der Deutschunterricht, in Mitleidenschaft gezogen werden.

Darum sollte man, wenn sich das Kind hier nicht altersgemäß entwickelt, auf jeden Fall die Fachfrau aufsuchen: Sprachheilpädagogen, Logopäden, vor allem aber Ohrenkliniken. Denn ein unauffälliger Audiogrammbefund, mit dem lediglich getestet wird, ob die Reize im Ohr richtig ankommen, genügt nicht, weil damit noch nicht die nachgeschaltete Verarbeitung im Gehirn geprüft ist.

Viele Kinder, die verwaschen artikulieren, später nur stockend lesen und katastrophale Diktate schreiben, haben unter versteckten zentralen Hörstörungen zu leiden. Die Kinder sind normal intelligent, ihre Ohren sind intakt. Die Ursache des Übels sind Schwächen bei der Verarbeitung akustischer Signale im Gehirn, die mit üblichen Hörtests nicht erfaßt werden. Es geht um das anfangs erwähnte zeitliche Auflösungsvermögen des Gehörs. Die obigen Zeitangaben weisen auf die Gleichzeitigkeits-Spanne oder FusionsschwelleFusionsschwelle hin, d.h. die Versuchspersonen können angeben, daß sie zwei aufeinander folgende unterschiedliche Reize wahrgenommen haben, nicht aber, welcher Reiz der erste und welcher der zweite war. Dieses Können wird mit einem weiteren Wert erfaßt, der OrdnungsschwelleOrdnungsschwelle heißt. Sie liegt für das Sehen, Hören und Tasten bei jeweils dreißig bis vierzig Millisekunden (während die Gleichzeitigkeitsspanne, wie schon gesagt, für die drei Sinne unterschiedlich lang ist). Das heißt, erst wenn die beiden Reize mindestens dreißig Millisekunden auseinander liegen, können wir auch ihre Reihenfolge angeben.

Nun muß man wissen, daß bestimmte Konsonanten wie p, t, k in vierzig Millisekunden oder weniger vorbeirauschen, während Kurzvokale schon etwas länger und Langvokale gleich doppelt so lang oder länger tönen. War das nun pamm, tamm oder kamm? Kinder mit einer zu hohen Ordnungsschwelle können diese schnellen Laute nicht hörend unterscheiden. Sie hören einen Lautbrei und können dann auch nicht richtig artikulieren. Eine lange Kette späterer Sprachschwierigkeiten kann hier ihren Anfang haben, wenn unsere Ordnungsschwelle nicht im geforderten Zeitmaß taktet. Amerikanische Forscher haben nicht nur Messungen zur Ordnungsschwelle des Gehörs bei normalen und sprachauffälligen Kindern vorgenommen, sondern auch eine Therapie entwickelt. In einem Computerspiel zerdehnt ein Clown auf dem Bildschirm diese kurzen Laute, um sie dann nach und nach wieder der normalen Sprechgeschwindigkeit anzupassen – so wie auch im FremdsprachenunterrichtFremdsprachen, F.-Unterricht gelegentlich schwierige Laute vom Lehrer künstlich gedehnt und überdeutlich vorgesprochen werden. Auch Eltern tun das oft ganz unbewußt. Diese Dehnung gelingt aber nur bei Vokalen, die schon von sich aus länger tönen.

Das Computerspiel war sehr erfolgreich. Die Kinder waren nunmehr in der Lage, die verlangsamten, hervorgehobenen Laute trennscharf wahrzunehmen, und konnten ihre Artikulationsorgane richtig einstellen. Denn das Ohr führt die Stimme. Nach einem ausgeklügelten vierwöchigen Intensivtraining konnten die Kinder ihr akustisches Timing so verbessern, daß sie die schnellen Laute auch bei normaler Sprechgeschwindigkeit auseinanderhalten konnten. Ihr Ordnungsschwellenwert konnte auf das altersgemäße Niveau gesenkt werden.2 Diese Kinder brauchen also keine Hörgeräte, die den Schall verstärken, sondern Trainingsgeräte, die die Konsonanten zeitlich auseinanderziehen, damit sie sich beim Hören nicht mehr überschneiden. Man kann Kindern mit einem »langsamen« Gehör aber auch helfen, indem man Laute und Wörter zunächst vom Schriftbild her erarbeitet und mit dieser Unterstützung die Wörter übertrieben lang ausartikulierend vorspricht. Ein solches Sprachtraining war bei Olaf, der mit achteinhalb Jahren kaum sprechen konnte, erfolgreich. Seine Ordnungsschwelle lag anfangs mit 200 Millisekunden extrem hoch. Anhand des Schriftbilds mit den klar getrennten Druckbuchstaben lernte er Lautfolgen zu unterscheiden, zu artikulieren und schließlich auch fließend zu artikulieren. Nach drei Jahren sank der Ordnungsschwellenwert auf altersgerechte 20 Millisekunden. Schwierigkeiten bei der zeitlichen Verarbeitung von Sprache können aber auch unabhängig von der Ordnungsschwelle die Betonungsmuster von Silbenfolgen und die Satzrhythmik betreffen, so daß vor der Therapie zunächst eine differenzierte Diagnose zu erstellen ist.Kegel, Gerd3

Wir können auch den Nuschler verstehen, weil wir das undeutlich Gehörte von uns aus zur guten Gestalt ergänzen. Mit dieser Fähigkeit können wir aber auch eigene Defizite ausgleichen und verdecken. Denn je intelligenter Kinder mit Lese-Rechtschreib-SchwächeLese-Rechtschreib-Schwäche sind, umso länger erhalten sie ihre kompensatorischen Strategien aufrecht. So etwa ein 16-jähriger, der bei einem sehr hohen IQ von 150 extreme Defizite bei den Grundfähigkeiten des sprachlichen Hörens aufwies. Ihm wurde folgender verstümmelte Satz vorgesprochen: »Den ¥eis der ¥annen habe ich im ¥opf.« Dabei steht das ¥ für einen Fantasielaut, der dazu diente, seine mangelnde Lautunterscheidung nachzubilden. Seine daneben stehenden Eltern schauten verständnislos. Er aber entgegnete unverzüglich: »Das kann entweder nur heißen ›Den Preis der Tannen habe ich im Kopf‹ oder ›Den Preis der Kannen habe ich im Kopf‹. Alles andere macht doch keinen Sinn.« Der Schüler konnte seine mangelhafte automatische Lauterkennung jahrelang weitgehend auf der Ebene des Wort- und Satzsinns kompensieren.4

Natürlich können SprachentwicklungsverzögerungenSprachentwicklungsverzögerung auch ganz andere Ursachen haben. Bei Lese- und Schreibschwächen (LegasthenieLegasthenie) könnten versteckte Sehfehler im Spiel sein. Wenn aber Legastheniker nicht so sehr die Buchstaben n und u verwechseln, die sich visuell sehr ähneln, hingegen aber d und t, so müssen Hörschwierigkeiten zugrunde liegen. Es ist immer gut, bei Sprachauffälligkeiten zunächst abzuklären, ob Störungen bei den zugrunde liegenden Wahrnehmungen vorliegen und das Übel, wenn es denn da liegt, bei der Wurzel zu packen, statt gleich Intelligenzmängel zu diagnostizieren.5

Wie Kinder sprechen lernen

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