Читать книгу Vier besondere Krimis Januar 2019 - A. F. Morland - Страница 18
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ОглавлениеAMII AGGERMAN WAR EINE Augenweide. Brünett, braunäugig - und genau mit der richtigen Prise Sex versehen, die den Männern unter die Haut ging.
Amii war in einem kleinen Dorf in Passadena aufgewachsen. Da, wo sich die Füchse „Gute Nacht“ sagten. Ein Dorf voller veralteter Ansichten war es gewesen.
Mit ungeschriebenen lächerlichen Gesetzen aus der Zeit, wo die Frauen noch ihre knöchellangen Unaussprechlichen getragen hatten. Es kam einem Verbrechen gleich, wenn sich ein junges Mädchen im Bikini in die Sonne legte.
Am liebsten hätte man sie für diese schamlose Tat gesteinigt. Kein Wunder, dass Amii Aggerman sehr bald von ihrem Heimatdorf genug hatte. Es hielt sie nichts mehr zu Hause.
Ihre Eltern lagen auf dem Friedhof. Die Verwandten mieden ihr Haus, und die Jungs, unter denen Amii hätte wählen können, entsprachen absolut nicht ihrem Geschmack.
Deshalb fasste sie sich eines Tages ein Herz, verkaufte ihr Haus dem Bürgermeister, setzte sich in den Bus und fuhr kurzerhand nach New York. Sie besaß genügend Geld, um sich eine ganze Weile über Wasser halten zu können.
Doch sie ließ diese Zeit nicht ungenützt verstreichen. Sie wusste, dass sie eines Tages einen Job brauchte, der sie ernährte. Irgendjemand meinte: „Hören Sie, Amii, so, wie Sie gebaut sind und aussehen, müssten Sie Mannequin oder Fotomodell werden.“
Sie wurde beides. Zunächst leistete sie sich eine vorzügliche Ausbildung in der ersten Mannequinschule von New York, und als sie damit fertig war, wurde sie von einem bekannten Modeschöpfer für sein Haus engagiert. Bald danach erschienen die ersten Fotos von ihr in Illustrierten, und heute brauchte sich Amii Aggerman keine Sorgen mehr um ihre Zukunft zu machen. Sie verdiente gut und war fest im Geschäft.
Da sie das Geld, das sie bekam, nicht sinnlos verjubelte, sondern mit Hilfe eines Anlageberaters clever investierte, würde sie wohl kaum jemals in finanzielle Schwierigkeiten geraten.
Vor einem halben Jahr hatte sie ein kleines Haus in Mount St. Vincent gemietet und nach ihrem Geschmack eingerichtet. Sie hatte daraus im Handumdrehen ein Schmuckkästchen gemacht.
Dorthin war sie soeben unterwegs. Sie lenkte ihren weißen Camaro die Independence Avenue entlang. Das Autoradio spielte. Die laufende Musiknummer wurde unterbrochen.
Der Sprecher brachte eine Verkehrsmeldung und empfahl den Autofahrern, großräumig auszuweichen. Dann wurde die Musik fortgesetzt. Amii summte leise mit. Sie dachte an die Party, zu der sie von einem reichen griechischen Reeder eingeladen worden war.
Sie hätte die Einladung nicht angenommen, wenn sie nicht gewusst hätte, dass dieser Mann trotz seines vielen Geldes ein vollkommener Gentleman war und ihr nur dann nahetreten würde, wenn sie es ihm gestattete.
Sie freute sich schon auf den Hauch der großen weiten Welt, den sie auf der Party zweifellos zu spüren kriegen würde.
Die letzten hundert Yards. Dann war Amii Aggerman zu Hause. Weiß hob sich ihr Haus zwischen dem bunten Laub der Büsche und Bäume ab. Amii ließ ihren Camaro in die Anbaugarage rollen.
Sie stieß den Wagenschlag auf, schwang die langen, wohlgeformten Beine nach links und stieg aus. Das cremefarbene Wollkleid umschmeichelte ihre atemberaubende Figur.
Amii warf die Fahrzeugtür zu und schloss gleich darauf das Garagentor. Sie begab sich zum Hauseingang. In der Diele stellte sie ihre Handtasche auf die Mahagonieablage.
Dann schlüpfte sie aus den hochhackigen Pumps und lief barfuß in den Livingroom. Sie wollte sich einen Manhattan mixen und anschließend ein heißes Bad nehmen.
Doch es kam anders.
Als sie den Livingroom betrat, fiel ihr auf, dass die Terrassentür nicht geschlossen war. Der milchweiße Vorhang blähte sich gespenstisch. Amii konnte sich genau erinnern, die Tür vor dem Weggehen geschlossen zu haben.
Sie stutzte.
Und als sie dann die Glassplitter glitzern sah, wusste sie, dass jemand in ihr Haus eingebrochen hatte. Sie hatte geglaubt, das würde immer nur den andern Leuten passieren.
Täglich stand von Einbrüchen in der Zeitung, doch seltsamerweise hätte Amii Aggerman nie gedacht, dass so etwas auch bei ihr geschehen könnte.
Sie fragte sich, was als erstes geschehen sollte. War es wichtiger, zuerst nachzusehen, was gestohlen worden war? Oder war es besser, zuerst die Polizei zu verständigen?
Sie entschied sich für die Polizei. Während sie dann auf deren Eintreffen wartete, konnte sie sich darum kümmern, was der oder die Diebe mitgehen lassen hatten.
Amii eilte zum Telefon. Sie nahm den Hörer ab. Und plötzlich spürte sie ganz deutlich, dass sie nicht allein im Raum war. Es überlief sie eiskalt. Sie drehte sich langsam um.
Neben dem gediegenen Eichenschrank stand ein Mann. Er hielt einen Revolver in seiner Rechten und presste mühsam hervor: „Auflegen! Legen Sie auf! Bitte!“
Amii Aggerman ließ den Hörer langsam sinken. Sie war verwirrt. Sie fürchtete den Mann aber trotz seiner Waffe nicht. Er machte auf sie einen hilflosen Eindruck.
Seine Kleider sahen aus, als hätte er sie vor zwanzig Minuten aus der Waschmaschine genommen. Er war verletzt und blutete. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.
Er sah nicht wie ein Verbrecher aus, sondern wie ein Mann, der dringend Hilfe brauchte. Amii hatte das Gefühl, dass ihr dieser Mann, der offensichtlich Mexikaner war, nichts zuleide tun wollte.
Sie durfte ihn nur nicht herausfordern. Wenn sie ihn reizte, verlor er vielleicht den Kopf, und es kam zu einer Kurzschlusshandlung. Um das Risiko so gering wie möglich zu halten, ließ Amii Aggerman den Hörer in die Gabel klappern.
Juan Cortez ächzte. Er winkte das Mädchen vom Telefon weg, indem er mit dem Revolver wedelte. Amii gehorchte.
„Sie sind auf der Flucht, nicht wahr?“, sagte sie und gab ihrer Stimme einen unerschrockenen, kräftigen Klang.
„Ja“, gab Juan zu.
„Man hat Sie angeschossen. War es die Polizei?“
„Ja.“
„Was haben Sie getan?“
„Nichts.“
„Die Polizei schießt auf keinen Unschuldigen.“
„Es hatte den Anschein, als hätte ich es getan, aber ich war es nicht.“
„Was getan?“, fragte Amii Aggerman.
„Es sah aus, als hätte ich einen Cop erschlagen, aber es war jemand anders. Sie müssen mir glauben, Miss. Ich bin kein Mörder.“
„Warum bedrohen Sie mich mit dem Revolver?“
„Sie brauchen keine Angst zu haben, Miss. Ich wollte Sie mit der Waffe nur erschrecken. Sie dürfen die Polizei nicht verständigen. Wenn Sie mir versprechen, es nicht zu tun, stecke ich den Revolver weg.“
Amii nickte. „Okay. Ich werde dem Telefon fernbleiben. Sind Sie damit zufrieden?“
Juan Cortez schob die Waffe in seinen Gürtel. „Es geht mir nicht gut. Ich wusste nicht, wo ich mich verstecken sollte. Als ich sah, dass hier niemand zu Hause war, schlug ich das Fenster der Terrassentür ein ... Entschuldigen Sie. Ich werde für den Schaden aufkommen.“
„Das brauchen Sie nicht. Ich bin versichert.“
„Ich habe nichts angerührt. Ich bin kein Dieb. Sie werden feststellen, dass nichts fehlt.“
„Sie sind wohl der seltsamste Einbrecher, den es je gab“, sagte Amii Aggerman kopfschüttelnd. Sie sah, wie der Mexikaner litt, und sie hatte Mitleid mit ihm. „Sie sollten sich setzen“, sagte sie.
Sie wies auf einen ledernen Fernsehsessel. Juan ließ sich ächzend nieder.
„Würden Sie sich um meine Wunde kümmern?“, fragte er verlegen.
„Ich hole den Erste-Hilfe-Kasten.“
„Okay. Aber keine Tricks. Bitte.“
„Keine Sorge. Ich werde Ihnen helfen. Ich kann nicht sehen, wie Sie sich quälen.“ Amii verließ den Livingroom. Sie blieb lange weg. So lange, dass sich Juan schon sagte: Sie hat dich doch hereingelegt. Du hättest ihr nicht trauen dürfen.
Aber dann hörte er ihre Schritte und wusste, dass er ihr unrecht getan hatte. Erleichtert atmete er auf.
„Ich hatte keinen Mullverband mehr“, erklärte Amii. „Ich musste welchen aus der Autoapotheke holen.“
„Ich dachte schon ...“
Amii senkte den Blick, denn sie hatte wirklich mit dem Gedanken gespielt, nicht mehr in ihr Haus zurückzukehren, sondern die Polizei von einem öffentlichen Fernsprecher aus anzurufen.
Doch dann hatte sie sich gesagt, dass das dem Jungen gegenüber nicht fair gewesen wäre. Er vertraute ihr. Und - das zählte besonders - er brauchte ihre Hilfe.
Später, wenn seine Wunde verarztet war, würde sie weitersehen. Amii stellte den Erste-Hilfe-Kasten neben Juan auf einen achteckigen Glastisch. Dann legte sie die Wunde frei.
„Sieht nicht schön aus“, sagte sie.
„Es wird heilen. Wie heißen Sie?“
„Amii Aggerman.“
„Ich bin Juan Cortez. Ich komme aus Mexiko. Da man in Ihrem Land nicht so viele Mexikaner haben will, reiste ich illegal ein - und damit begannen meine großen Schwierigkeiten. Es waren Gangster, die mir die Einreise ermöglichten. Sie wollten mich zwingen, für sie zu arbeiten, aber ich rückte aus. Und ich lernte einen jungen Mann namens Wilkie Lenning kennen. Er verschaffte mir einen Job in einem Sägewerk, aber ich konnte da nicht länger als drei Stunden arbeiten. Es gab eine Razzia der Einwanderungsbehörde. Meine Papiere waren nicht echt, verstehen Sie? Ich ergriff die Flucht. Doch ich kam nicht weit. Ich sah einen Cop. Jemand hatte ihm mit einer Eisenstange den Kopf eingeschlagen. Ich hob die Stange auf - und so erwischte mich der Lieutenant... Er musste denken, dass ich den Polizisten umgebracht hatte. Aber jemand anders hatte es getan. Ein Kerl, der mit falschen Papieren handelte.“
„Kennen Sie seinen Namen?“
„Nein.“
„Würden Sie ihn wiedererkennen?“
„Bestimmt. Er hatte ein Gesicht wie ein Gorilla, eine knallrote Narbe auf der Stirn, und das linke Ohr fehlte ihm. Aus einer Menge von hunderttausend Menschen könnte ich den herauspieken.“
„Warum stellen Sie sich dann nicht der Polizei?“
„Das kann ich nicht.“
„Ist es nicht besser, als zu riskieren, auf der Flucht erschossen zu werden?“, fragte Amii Aggerman. Sie hatte inzwischen die Wunde gereinigt. Jetzt kam ein blutstillender Spray darüber. Dann trug das Mädchen Heilsalbe auf. Hinterher versorgte Amii Aggerman die Schussverletzung mit flüssigem Pflaster.
„Vielleicht würde sich erweisen, dass ich den Cop nicht erschlagen habe“, sagte Juan Cortez. „Aber damit wäre ich nicht über den Berg. Man würde mich nach Mexiko zurückschicken ...“
„Wäre das denn so schlimm?“
„Sie haben keine Ahnung, wie es mir zu Hause ging. Ich musste schuften wie ein Tier, war schlechter dran als ein Muli. Wenn ich krank wurde, gab es für mich keine Arzneien. Kein Doktor kümmerte sich um mich. Man legte mein Schicksal einfach in Gottes Hand. Der Mann, für den ich arbeitete, schlug mich mit der Peitsche. Oh, Sie wissen nicht, in welches Elend man mich zurückschickt, wenn man mich abschiebt.“
Amii Aggerman legte den Verband an. Dann zog sie eine Spritze auf.
„Was ist das?“, fragte Juan Cortez beunruhigt.
„Es wird Ihre Schmerzen lindern und einen Wundstarrkrampf verhindern. Und es wird Sie beruhigen, Juan.“
Das Mädchen stach zu. Sie tat es wie eine professionelle Krankenschwester. Juan Cortez spürte kaum etwas davon. Amii verstellte die Rückenlehne des Fernsehsessels.
Juan sank nach hinten. Er seufzte und schloss die Augen.
Amii Aggerman zündete sich eine Zigarette an. Sie trat ans Fenster und blickte nachdenklich hinaus. Gewissensbisse stellten sich ein. Sie hatte für den Jungen getan, was sie konnte.
Sie hatte ihm bereits mehr geholfen als sie durfte. Wenn sie dem Mexikaner in ihrem Haus Unterschlupf gewährte, machte sie sich strafbar. Konnte sie es sich leisten, mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen?
Mit einem Schlag wäre ihre Karriere kaputt gewesen. Durfte Juan so etwas von ihr verlangen? Amii rauchte nervös. Sie war unschlüssig. Einerseits wollte sie dem Jungen weiteren Kummer ersparen, andererseits wollte sie sich keiner strafbaren Handlung schuldig machen.
Wie sollte sie sich entscheiden? Für den Mexikaner und gegen sich? Oder für sich und gegen den Mexikaner? Eine dritte Möglichkeit gab es nicht.
Wie sollte die Zukunft aussehen? Juan konnte nicht für immer hierbleiben. Irgendwann musste er dieses Haus wieder verlassen. Amii entschloss sich, ihn zu bitten zu gehen.
Sie drehte sich um.
Doch Juan Cortez war nicht ansprechbar. Er schlief. Die Müdigkeit hatte ihn übermannt. Amii zog wieder unruhig an ihrer Zigarette. Sie brachte es nicht übers Herz, den Mexikaner zu wecken.
Nervös räumte sie den Erste-Hilfe-Kasten weg.
Ihre Gedanken kreisten immerzu um den Mexikaner - und um sie. Sie arbeitete in einem erstklassigen Modehaus. Ihr Chef konnte sich keine Skandale leisten. Er würde sich kurzerhand von ihr trennen.
Aber Amii wollte diesen Job nicht verlieren. Sie hing an ihm, sie liebte ihn.
Sie nagte an ihrer Unterlippe. Und plötzlich stand ihr Entschluss fest. Es war ihre Pflicht, die Polizei zu verständigen, und sie würde es tun.
Vielleicht rettete sie dem Mexikaner damit das Leben, denn beim zweiten Mal würde ihn die Polizistenkugel möglicherweise tödlich treffen. Das Mädchen atmete tief ein.
Schweren Herzens stahl sie sich aus dem Haus. Obwohl ihr klar war, dass sie richtig handelte, kam sie sich dabei schäbig vor. Wie eine Verräterin an einem Freund, der ihr bedingungsloses Vertrauen entgegenbrachte.
Sobald sie ihr Haus verlassen hatte, lief sie die Straße hinunter. An der nächsten Ecke gab es eine Telefonbox. Amii betrat sie, und als sich Augenblicke später die Stimme des Desk-Sergeant vom zuständigen Revier meldete, gab es für Amii Aggerman kein Zurück mehr.
Sie machte ihre Meldung, und der Beamte versprach, sofort einen Wagen zu schicken. Mit hängenden Schultern verließ Amii die Telefonzelle. Sie hatte das Richtige getan, und doch meinte sie, das Falsche getan zu haben. Langsam kehrte sie in ihr Haus zurück.
Mit schleppenden Schritten betrat sie den Livingroom.
Sie hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, wagte nicht, zu dem Fernsehsessel hinzusehen.
Als sie es dann aber doch tat, stellte sie fest, dass der Mexikaner nicht mehr da war. Sie suchte ihn in allen Räumen. Sie rief ihn, doch er antwortete nicht.
Er hatte sich während ihrer Abwesenheit abgesetzt, und Amii Aggerman war froh darüber. Nun hatte sie sich nichts mehr vorzuwerfen.