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Wahrheit und Lüge: Friedrich Nietzsche
ОглавлениеAls Pfarrerssohn steht Friedrich Nietzsche in der protestantischen Tradition, die für die Entstehung des modernen Gewissens verantwortlich ist. Was Nietzsches Philosophie in dem ihr eigenen Versuch der Selbstbehauptung gegen den Protestantismus leitet, ist die Befreiung von der Last des Gewissens als Selbstaufhebung des Christentums. Der „Antichrist“, als der Nietzsche sich in seinen letzten Schriften versteht, predigt Gewissenlosigkeit, weil er um die Macht des Ressentiments fürchtet, das den Menschen durch das Christentum eingepflanzt wurde. Die Forderung nach unbedingter Freiheit von der moralischen Instanz des Gewissens, die zugleich die nach der Aufklärung des Menschen über sich selbst bedeutet, geht bei Nietzsche im Anschluss an Gracián und Schopenhauer mit einem Lob der Verstellung einher, das sich am deutlichsten in der frühen Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne zeigt. In der Tradition der Aufklärung beginnt der Text mit einer kurzen Fabel:
In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben.17
Wie Voltaire verfolgt Nietzsche mit der literarischen Form der Fabel das Ziel einer Aufklärung des Menschen über das eigene Dasein. Im Vergleich zum optimistischen Vorbild der französischen Aufklärung zeichnet Nietzsche jedoch ein düsteres Bild. Das Vertrauen in den Menschen, das die Aufklärung auszeichnete, scheint vollständig geschwunden zu sein. Zu einer skeptischen Betrachtung des menschlichen Daseins kommt Nietzsche, indem er die aristotelische Bestimmung des Menschen als denkendem Tier mit der Pindarschen Einsicht in die Endlichkeit der menschlichen Existenz verbindet. „Eintagswesen! Was ist einer, was ist einer nicht? Eines Schattens Traum/ist der Mensch“18, hatte Pindar in der achten Pythischen Ode formuliert, um die fragile Grundlage des menschlichen Daseins unter der Herrschaft der Zeit zu beschreiben.19 Pindars Beschreibung der Rahmenbedingungen menschlicher Existenz im Zeichen der Endlichkeit nimmt Nietzsche im Kontext seiner pessimistischen Einschätzung anthropologischer Grundlagen auf, wenn er feststellt, „daß auch das Menschending ein schmähliches und klägliches Nichts und eines ‚Schatten Traums‘ sei (KSA 1, 765). Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt auf dem Problem von Zeit und Endlichkeit: In der Weltgeschichte, so formuliert Nietzsche als Vorläufer der postmodernen Diagnosen vom Ende des Menschen, markiert das historische Erscheinen des Menschen nur eine Randepisode, die ebenso abrupt endet wie sie angefangen hat.
Das Moment der Klugheit, das Nietzsche mit Aristoteles in Anspruch zu nehmen scheint, um es zugleich als Selbsterfindung des Menschen zu disqualifizieren, erscheint daher von Anfang an in einem zwiespältigen Lichte. Die Klugheit, zu der Gracián mit seiner berühmten Gleichung santo, sano, sabio rät, in Schopenhauers Übersetzung „Heiligkeit, Gesundheit und Weisheit“20, gerät bei Nietzsche unter Legitimationszwang. Als Ergebnis der Selbsterfindung des Menschen scheint sie selbst nicht an die Bedingungen gebunden zu sein, die sie fordert. Im Gegenteil: Das kluge Tier Mensch, das auf seine Erkenntniskraft bis zum Hochmut stolz zu sein scheint, bewegt sich in einem umgreifenden Raum der Lüge, den es nicht verlassen kann.21 Der Moment, in dem das Erkennen erfunden worden ist, war die „verlogenste Minute der Weltgeschichte“, meint Nietzsche, weil er für eine groteske Selbstüberschätzung des Menschen einsteht, der sich über die Rahmenbedingungen seiner Existenz nicht im Klaren ist. „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal“ (KSA 1, 35), mit diesen Worten beruft sich Nietzsche in der Geburt der Tragödie auf die tragische Weisheit des Dionysischen, um zu dem vernichtenden Schluss über das menschliche Dasein zu gelangen: „Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nichts zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben.“ (KSA 1, 35)
Angesichts dieser hoffnungslosen Perspektive kann es nicht verwundern, dass Nietzsche die Überlebensmöglichkeiten des Menschen ganz auf die Seite des Irrtums und der Verstellung legt. Sein Leben sichern kann der Mensch nur, indem er sich über die Grundlagen seiner Existenz täuscht, indem er sich verstellt, indem er lügt und betrügt. „In diesem agonalen Szenarium ist aber die Wahrheit nicht länger das Gegenteil von Lüge und Irrtum, sondern nur diejenige Form von Täuschung, die das Weiter-Leben ermöglicht“22, kommentiert Mathias Mayer Nietzsches Kultur der Lüge. Das Opfer dieses doppelten Betrugs an sich und den anderen23 ist zuallererst der Mensch selbst, das Mittel, mit dessen Hilfe der Betrug inszeniert wird, der Intellekt, der eigentlich für das Auffinden des Wahren zuständig sein sollte. Die entscheidende Kritik am Optimismus der verstandesorientierten Aufklärung bringt Nietzsche vor, indem er den Intellekt nicht als Mittel der Wahrheitsfindung deklariert, sondern als ein Instrument der Verstellung. „Seine allgemeinste Wirkung ist Täuschung“ (KSA 1), schreibt Nietzsche, um vor diesem Hintergrund festzuhalten:
Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen ein Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubthier-Gebiss zu führen versagt ist. Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentiren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herum-Flattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte. (KSA 1, 876)
Nietzsches Begriff der Verstellung ist an eine eigenwillige Definition des Menschen gebunden, die von dem klugen Tier allein das Moment des Animalischen gelten lässt. Im Rahmen einer konservativen Anthropologie, die auf den Begriffen der Stärke und der Schwäche fußt, begreift Nietzsche den Menschen als ein Wesen, das den Mangel an natürlicher Gewalt durch den Intellekt zu kompensieren versucht. Der gesamte Bereich der Kultur erscheint ihm daher als Resultat der Verstellungskunst. In dem Maße, in dem der Intellekt sich über sich selbst und andere täuscht, vertraut sich der Mensch einem Lug und Betrug an, den er nicht mehr zu durchschauen vermag. Mit der Verstellung spricht Nietzsche daher nicht allein den Aspekt der sozialen Konvention an, „das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden“, die gesellschaftliche Kunst der Dissimulation, wie sie das höfisch geprägte Frankreich bestimmt. Im aussermoralischen Sinne umgreift die Verstellung das Denken als Fundament aller Kulturleistungen, so dass noch der Trieb zur Wahrheit, auf den sich das Erkennen beruft, als Resultat einer ihm zugrunde liegenden Täuschungsabsicht erscheint. Was Nietzsche unternimmt, ist die Ausweitung der Verstellung auf alle Aspekte der Kultur, ohne dass ein moralisches Korrektiv eingreifen könnte. Der Verstellung korrespondiert bei Nietzsche daher eine scheinbar natürliche Grausamkeit, die den Menschen betrifft, der nicht ahnt, dass „auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend.“ (KSA 1, 877) Wie Freud und Darwin unterstellt Nietzsche dem Menschen einen tierischen Rest, die Macht des Affekts, der vom Willen unabhängig ist und sich nur auf andere als auf bewusste Weise Bahn zu brechen vermag.24 Nietzsches Begriff der Verstellung bezieht sich damit auf grundsätzliche Weise auf die Frage nach der Übersetzung von Naturzusammenhängen in Kultur, eine Form der Übersetzung, die Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne mit der Funktion der Sprache verbindet.